Aktuelle Konfliktsituation
In den Jahren 2015 bis 2018 breitete sich die Gewalt in Burkina Faso deutlich langsamer als im benachbarten Mali aus, 2019 ist sie jedoch förmlich explodiert: Laut der Nichtregierungsorganisation ACLED (Armed Conflict Location & Event Data) stieg die Zahl getöteter Menschen binnen eines Jahres von 327 auf 2.216, das heißt um 632 %. Und dieser Trend setzte sich fort, mit der Konsequenz, dass 2023 bereits 8.493 Tote zu beklagen waren, fast doppelt so viele wie in Mali. Auch die humanitäre Lage spitzte sich dramatisch zu. So wurden im Mai 2024 rund 2 Mio. Binnenvertriebene registriert, 413 Gesundheitsstationen und 5.330 Schulen mussten geschlossen bleiben, 3,5 Mio. Menschen erhielten Nahrungsmittelhilfe (Fokus Sahel 2024).
Vor diesem Hintergrund kam es im Januar und September 2022 zu einem Doppelputsch. Als Vorbild fungierte Mali – neben Sicherheitsfragen ging es auch um die geopolitische Ausrichtung des Landes. Die Zustimmungsraten für die Militärs waren von Anfang an ungewöhnlich hoch – wahrscheinlich auch deshalb, weil die Bevölkerung dringend wirksame Maßnahmen gegen die massive Gewalteskalation wünschte.
Nachdem im Juli 2023 auch im Niger Militärs die Macht übernommen hatten, traten Burkina Faso, Mali und Niger aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) aus und gründeten im September die „Allianz der Sahelstaaten“ (AES). Der neue burkinische Staatschef, Hauptmann Ibrahim Traoré, beendete – ähnlich wie die Putschisten in Mali – die Militärkooperation mit Frankreich und suchte stattdessen die Nähe zu Russland. Gleichzeitig zeigten sich erste Fortschritte. Vor allem der rasant steigende Kontrollverlust über das staatliche Territorium wurde gestoppt, sodass im Laufe des Jahres 2024 rund 700.000 Menschen in ihre Dörfer zurückkehren konnten.
Kritische Stimmen monieren, dass es sich keineswegs um nachhaltige Erfolge handeln würde. Das sei unter anderem daran erkennbar, dass die konfliktbedingten Todeszahlen 2023 und 2024 weiterhin deutlich über den Werten der Vorjahre gelegen haben. Hinzu kämen Korruption und Vetternwirtschaft sowie massive Einschränkungen der Meinungsfreiheit (vgl. z.B. Kassongué 2024). Diese Berichte fanden in der westlichen Öffentlichkeit große Resonanz. Es gibt aber auch zahlreiche Akteure in der Zivilgesellschaft, die eine etwas optimistischere Bilanz ziehen. Hierzu gehört unter anderem die Feststellung, dass 2024 laut ACLED die Zahl der Getöteten um knapp tausend auf 7.525 gesunken ist. Das wäre der erste Rückgang seit 2015. Außerdem würden im Westen häufig die Anstrengungen von Regierenden und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterschätzt, die Wirtschaft anzukurbeln und die Bevölkerung in den von Terrorgruppen abgeschnittenen Gebieten mit Hilfsgütern zu versorgen.
Ursachen und Hintergründe
In Burkina Faso kam es erstmalig im Januar 2016 zu einem von radikalen Islamisten verübten Terroranschlag. Verantwortlich war die im gesamten Sahel operierende dschihadistische Miliz „Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime“ (JNIM), die ein bei ausländischen Geschäftsleuten und Diplomaten beliebtes Luxushotel in der Hauptstadt Ouagadougou angriff und 26 Menschen tötete. Demgegenüber wählte die im gleichen Jahr von dem Prediger Malam Ibrahim Dicko im Norden des Landes gegründete Terrorgruppe Ansarul Islam („Verteidiger des Islam“) einen anderen Weg: Fernab der Hauptstadt attackierte sie im Dezember 2016 einen Armeeposten in der Provinz Soum.
Die unterschiedlichen Anschlagsorte illustrieren, dass die in internationalen dschihadistischen Diskursen proklamierte Feindschaft zwischen westlicher und muslimischer Welt in erster Linie eine ideologische Rahmenerzählung ist. Denn für national bzw. lokal verankerte Terrorgruppen wie Ansarul Islam stehen die alltäglichen Problemlagen im Vordergrund, beispielsweise Landkonflikte, korruptes Justizwesen oder überkommene Privilegien ländlich-traditioneller Eliten. Sie reagieren also auf die tatsächlichen Herausforderungen, die die Menschen in marginalisierten Regionen umtreiben und die dazu führen, dass sich junge Männer rekrutieren lassen.
Verantwortlich für die seit 2019 massiv gestiegene Gewalt in Burkina Faso waren bzw. sind in erster Linie die zu al-Qaida gehörende JNIM, der sich auch Ansarul Islam angeschlossen hat, sowie der ISSP (Islamischer Staat – Sahel Provinz), der ursprünglich unter dem Label ISGS aufgetreten ist (Islamischer Staat in der Größeren Sahara). Während die JNIM landesweit operiert, ist der ISSP vor allem im Osten Burkina Fasos aktiv. Dennoch ist ihre strategische Ausrichtung ähnlich. Beide Terrorgruppen wollen als alternative Ordnungsmächte ihr eigenes soziales und religiöses Regelwerk durchsetzen. Der ohnehin schwache Staat soll verdrängt werden, deshalb greifen sie Repräsentanten der staatlichen Ordnung, wie Sicherheitskräfte, Präfekten, Bürgermeister/-innen und Lehrer/-innen an.
Gelegentlich geraten auch Dorfchefs, Imame oder traditionelle Führer bzw. Häuptlinge ins Visier, sofern diese die terroristischen Gruppen offen kritisieren oder sich zum Staat bekennen. Gleichzeitig versuchen die Terrorgruppen, die lokalen Gemeinschaften gefügig zu machen. Dafür nutzen sie die oben genannten Problemlagen. So ergreifen sie etwa bei Landkonflikten Partei für einzelne Dörfer oder Gemeinschaften, indem sie deren Konkurrenten attackieren. Sie arbeiten aber auch mit Gewaltandrohungen oder exemplarischen Bestrafungsaktionen, um die Zuarbeit bestimmter Dörfer, Gemeinschaften oder Einzelpersonen zu erzwingen, beispielsweise für Kundschafterdienste oder die Lieferung von Nahrungsmitteln und Treibstoff.
Mit Blick auf die Konfliktursachen sind insbesondere drei Faktorenbündel zu nennen:
(1) Zur Absicherung seiner Macht hatte der autokratisch regierende Langzeitpräsident Blaise Compaoré (1987-2014) neben den regulären Institutionen einen pyramidal auf sich und seinen engsten Führungszirkel zugeschnittenen Staat im Staat geschaffen (Haavik et al. 2022). Dieser erlaubte es ihm, im gesamten Land klientelistische Abhängigkeitsverhältnisse zu unterhalten, mit denen drohende Konflikte bis auf die Dorf-Ebene hinunter frühzeitig erkannt und wahlweise durch finanzielle Vergünstigungen oder repressive Maßnahmen eingedämmt werden konnten. Als Compaoré gestürzt wurde, kollabierte diese Parallel-Struktur, in der u.a. die aufgelöste Präsidialgarde als Geheimdienst eine tragende Rolle gespielt hat. Und das mit der fatalen Konsequenz, dass die Gesellschaft ihres informellen Rückgrats beraubt war und daher den Terrormilizen jahrelang nur zersplittert und unkoordiniert entgegentreten konnte.
(2) Die Akzeptanz terroristischer Gruppen durch einen kleinen Teil der Bevölkerung erklärt sich daraus, dass die ländlichen Regionen im Norden und Osten Burkina Fasos seit Jahrzehnten infrastrukturell und finanziell vernachlässigt werden (Harsch 2021; Idrissa 2019). Zum Beispiel fließen kaum Investitionen in die hauptsächlich von Fulbe praktizierte Viehwirtschaft, obwohl Fulbe in vielen der von Gewalt betroffenen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden (Réseau Billital Maroobé 2021). Bei Entscheidungsträgern in der Hauptstadt besteht immer noch die tief in der Geschichte verwurzelte Annahme, dass die in den nördlichen Regionen lebenden Menschen nicht zu Burkina Faso, sondern zu den „Sahelkulturen“ in Mali und Niger gehören. Dadurch ist bei den Betroffenen das Gefühl entstanden, Bürger/-innen zweiter Klasse zu sein. Allerdings betrifft die Herabwürdigung nicht alle Fulbe gleichermaßen, sondern vor allem die Rimaibe. Das sind die Nachfahren der ehemaligen Sklavenkaste, die bis heute beim Zugang zu Land und politischen Posten diskriminiert werden – primär, aber nicht nur seitens der Fulbe-Elite. Die von terroristischen Gruppen, wie Ansarul Islam, propagierte Kritik richtet sich insofern auch gegen verkrustete Hierarchien und Privilegien innerhalb von Dörfern und Gemeinschaften (Gaye 2018; Idrissa 2019).
(3) Terroristische Gruppen, wie die JNIM oder der ISSP, haben die Gewalteskalation zwar ausgelöst, dennoch tragen auch die Selbstverteidigungsmilizen (VDP) eine Mitverantwortung (Thurston 2019; Crisis Group 2020). Ursprünglich wurden sie für den Schutz der lokalen Bevölkerung vor Banditentum, Viehdiebstählen oder Kleinkriminalität gebildet. Doch seit 2019 sind sie auch im Antiterrorkampf aktiv und haben sich immer wieder willkürlicher Bestrafungsaktionen und Racheakte schuldig gemacht, vornehmlich gegen Angehörige der Fulbe, denen vorgeworfen wird, Terrormilizen zu unterstützen. Ebenfalls problematisch ist das Vorgehen staatlicher Sicherheitskräfte. Auch diese sollen beim Antiterrorkampf mehrfach Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Während Menschenrechtsorganisationen, wie Human Rights Watch, von angeordneten Maßnahmen durch die Regierung sprechen
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Bis zu den beiden Putschen 2022 war die Sicherheitspolitik Burkina Fasos tendenziell auf Frankreich bzw. den Westen zugeschnitten. Das galt auch für die regionale Kooperation, da sich nicht zuletzt die ECOWAS überwiegend prowestlich positionierte. Doch all das hat sich grundlegend geändert. Die Militärs unter Ibrahim Traoré betonen nunmehr die burkinische Souveränität. Hierfür setzen sie sowohl auf massive Waffenlieferungen aus Russland und der Türkei als auch auf eine enge militärische Zusammenarbeit mit Mali und Niger im Rahmen der Allianz der Sahel-Staaten (AES).
Die strategische Neuausrichtung wird national und international äußerst kontrovers diskutiert: Während die einen eine zunehmend autoritäre Konfliktbearbeitung kritisieren (Idrissa 2025), stehen größere Teile der Bevölkerung hinter der Regierung, zumal sich auch die wirtschaftlichen Eckdaten überraschend stabilisiert haben, wie im Mai 2025 selbst IWF und Weltbank bestätigten.
Bei nationalen und internationalen Akteuren in Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft besteht indes Einigkeit darüber, dass zur langfristigen Eindämmung der Vielfachkrise Maßnahmen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene erforderlich sind:
(1) Dem Kampf gegen Terrormilizen und kriminelle Gruppen ist Priorität einzuräumen. Das kann nur gelingen, wenn sowohl die regulären Sicherheitskräfte als auch die Selbstverteidigungseinheiten umsichtig, diszipliniert und unter Einhaltung der Menschenrechte agieren (einschließlich Rechenschaftspflicht der Verantwortlichen und Unterbindung jeder Form von Straflosigkeit).
(2) Ebenfalls erforderlich ist die Überwindung der Marginalisierung der ländlichen Bevölkerung im Norden und Osten – insbesondere die der Fulbe-Gemeinschaften. Das bedingt umfassende Infrastrukturinvestitionen sowie die Förderung einkommensgenerierender Tätigkeiten. Darüber hinaus ist durch lokale Dialog- und Versöhnungsinitiativen der soziale Zusammenhalt zu fördern.
(3) Auch die politischen Institutionen sind grundlegend zu erneuern: Menschenrechte müssen vorbehaltlos gelten, eine umfassende demokratische Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen an politischen Entscheidungsprozessen ist lokal und national zu gewährleisten.
(4) Die ersten drei Punkte sind für die burkinische Regierung ebenfalls zentral, auch wenn die Frage, ob und welche Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind, hochgradig umstritten bleibt. Umso bemerkenswerter ist eine Stellungnahme der International Crisis Group. Dort wird nicht nur die malische Regierung aufgefordert (stellvertretend für alle Sahel-Regierungen), einen ausgewogeneren Souveränismus-Kurs zu verfolgen, vor allem gegenüber der ECOWAS. Auch an die internationale Gemeinschaft wird appelliert, kooperativer vorzugehen (International Crisis Group 2024).
Geschichte des Konflikts
Burkina Faso – wörtlich übersetzt – „Land der aufrichtigen Menschen“ – erlangte im Jahr 1960 seine Unabhängigkeit, damals noch unter dem von der einstigen Kolonialmacht Frankreich geprägten Namen Obervolta. Nicht nur eine fragile, industriell kaum entwickelte Ökonomie gehörte zum kolonialen Erbe, auch die Entstehung peripherer, von der Hauptstadt abgehängter Regionen ist ein Resultat jener zentralistischen und despotischen Verwaltungsstrukturen, die zwischen 1896 und 1960 etabliert worden waren. Das bedeutete auch die Zerschlagung der im Sahel seit jeher tief verankerten Mechanismen zur Aufteilung und Kontrolle von Macht (Sy 2010; Bernau 2022). Seit Erlangung der Unabhängigkeit hat Burkina Faso neun Militärputsche erlebt, den ersten 1966. Ein Lichtblick war die Regierungszeit von Thomas Sankara (1983 bis 1987). Gerade in ökonomischer und sozialer Hinsicht machte das Land erhebliche Fortschritte (vgl. Arte-Doku 2007; Harsch 2017; Lanier 2017).
Umso dramatischer war 1987 der Putsch durch Blaise Compaoré, der Burkina Faso ökonomisch zurückgeworfen und in eine Autokratie verwandelt hat, trotz formeller Einführung einer Mehrparteiendemokratie Anfang der 1990er Jahre. Ebenfalls einschneidend waren Strukturanpassungsprogramme des IWF in den 1980er und 1990er Jahren, die mit massiven Sparmaßnahmen auf die Reduzierung der Staatsverschuldung gerichtet waren. Dadurch wurde nicht nur die von Thomas Sankara bekämpfte Marginalisierung des Nordens und Ostens Burkina Fasos zementiert, sondern auch die staatliche Steuerungskompetenz nachhaltig beschädigt – mit Auswirkungen bis zur aktuellen Krise (Idrissa 2019). Nach mehreren Wellen von Massenprotesten in den 2000er Jahren wurde Blaise Compaoré im Oktober 2014 in einem friedlichen Volksaufstand gestürzt. Anschließen fanden auf Druck der internationalen Gemeinschaft hastig Neuwahlen statt. Mit Roch Kaboré wurde ein Politiker zum Präsidenten gewählt, der noch bis Januar 2014 zum engen Machtzirkel um Compaoré gehört hat und somit weder bereit noch in der Lage war, dem Land neue Impulse zu geben.