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Haiti | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Haiti

Wolfgang Knoblauch

/ 8 Minuten zu lesen

Haiti befindet sich seit Jahren in einer nicht enden wollenden Krise. Die tief verwurzelte Ineffizienz und Instabilität der politischen Institutionen sowie ständige Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Wirbelstürme und Dürreperioden, verhindern das Durchbrechen des Teufelskreises aus Armut, zivilen Unruhen und Gewalt.

Kinder vor ihrer Unterkunft in einem verlassenen UN-Büro in Mirebalais, 19.10.2020. Laut Weltbank leben etwa 54 % unter der Armutsgrenze, davon 22 % in extremer Armut. (© picture-alliance/AP, Dieu Nalio Chery)

Aktuelle Konfliktsituation

Seit Mitte 2018 kam es in Haiti wiederholt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Bei einer Welle gewaltsamer Demonstrationen starben allein im Jahr 2019 hunderte Menschen. Durch Schul- und Geschäftsschließungen, längere Streiks und den Zusammenbruch des Transportwesens kam das öffentliche Leben mehrfach zum Erliegen. Den anhaltenden Protesten begegnete die Polizei immer wieder mit drastischen Mitteln, darunter Tränengas und scharfe Munition.

Gleichzeitig intensivierten sich die Spannungen zwischen verschiedenen Sicherheits- und Ordnungskräften. So griffen im Februar 2020 Polizeibeamte mit Feuerwaffen, Brandsätzen und Tränengas das Hauptquartier des Militärs an. Die Regierung sprach von einem Putschversuch.

Begünstigt durch die innenpolitische Krise verschärfte sich die kriminelle Gewalt dramatisch. Entführungen mit Lösegeldforderungen nahmen ebenso zu wie Revierkämpfe zwischen schwer bewaffneten Banden in der Hauptstadt Port-au-Prince. Dabei kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Die Gewalt machte auch vor prominenten Persönlichkeiten nicht halt. Im August 2020 wurden der Unternehmer Michel Saieh, der Radiomoderator Frantz Adrien Bony und der regierungskritische Anwalt Monferrier Dorval, einer der namhaftesten Intellektuellen des Landes, von Unbekannten erschossen.

Die Gewalt spielt sich in einer Situation großer politischer Instabilität unter dem hochumstrittenen Präsidenten Jovenel Moïse ab. Nachdem die Parlamentswahlen im Oktober 2019 wegen heftiger Demonstrationen vorerst abgesagt wurden, lief das Mandat der meisten Abgeordneten drei Monate später aus. Seitdem regiert Moïse per Dekret.

Als Reaktion auf unbeliebte politische Maßnahmen sowie Enthüllungen zu Korruptionsskandalen hat sich eine breite Opposition gegen den Präsidenten formiert, die seine sofortige Absetzung und die Bildung einer Übergangsregierung fordert. Die Aufrufe von Präsident Moïse, einen nationalen Dialog zu initiieren, werden von der Opposition ebenso abgelehnt wie die per Dekret einberufene Wahlkommission und die angekündigten allgemeinen Wahlen.

Besonders problematisch ist die Versorgungslage. Da regelmäßige Hurrikane und Dürreperioden die Lebensmittelproduktion in Haiti stark einschränken, ist die Bevölkerung auf Importe aus den USA und der Dominikanischen Republik angewiesen. Wegen einer Inflation von bis zu 20 haben sich Lebensmittel jedoch enorm verteuert und sind für immer mehr Haitianer unerschwinglich. Mehr als 3,7 Mio. Haitianern mangelte es 2019 an Lebensmitteln. Für 2020 prognostizierte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO, dass ungefähr 4 Mio. Haitianer Hunger leiden. Das ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung.

Folgenschwer ist auch der anhaltende Treibstoffmangel in Haiti, der nicht nur das Transportwesen und damit die Verteilung von Lebensmitteln behindert. Wegen der äußerst defizitären Infrastruktur gibt es in vielen Teilen des Landes kaum Zugang zu Strom, Gas und Wasser. Insbesondere Diesel und Kerosin werden für die Stromgewinnung mit Generatoren verwendet, nicht nur in privaten Haushalten, sondern auch in öffentlichen Einrichtungen und Krankenhäusern.

Das Gesundheitswesen ist kaum in der Lage, eine grundlegende Versorgung zu gewährleisten, geschweige denn für den medizinischen Ausnahmezustand gewappnet. Eine Cholera-Epidemie, die seit 2010 mehr als 10.000 Menschenleben forderte, ist immer noch nicht vollständig überwunden. Dementsprechend löst die Gefahr einer schwerwiegenden Corona-Epidemie große Besorgnis aus. Angehörige der Universitätsklinik in Port-au-Prince haben sich inzwischen den Protesten angeschlossen und im September 2020 mit einem Streik ausbleibende Lohnzahlungen, fehlende medizinische Ausrüstung und miserable Arbeitsbedingungen angeprangert.

Kriege und Konflikte in Haiti. (© bpb)

Ursachen und Hintergründe

Die Bemühungen, in Haiti eine stabile Infrastruktur zu schaffen und eine zuverlässige Versorgung zu gewährleisten, werden immer wieder von Naturkatastrophen durchkreuzt. Das Land ist etlichen Naturgefahren ausgesetzt, vor allem Erdbeben, Wirbelstürmen und Dürren. Nach Angaben des Centre for Research on the Epidemiology of Disasters starben zwischen 1995 und 2015 sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen in keinem Land der Welt mehr Menschen durch Naturkatastrophen als in Haiti. Hier sticht vor allem das Erdbeben im Januar 2010 hervor, das mit einer Stärke von 7,0 auf der Richterskala über 220.000 Menschen tötete, mehr als 1,5 Mio. in die Obdachlosigkeit trieb sowie einen Großteil der Infrastruktur dem Erdboden gleichmachte. Von den Folgen hat sich Haiti immer noch nicht erholt. Laut Human Rights Watch leben weiterhin etwa 35.000 Menschen in provisorischen Zeltstädten. Zudem verwüsten schwere Unwetter regelmäßig die Insel, z.B. Hurrikan "Matthew" im Jahre 2016, der über 500 Menschenleben forderte und vor allem im Süden des Landes Infrastruktur und Landwirtschaft schwer in Mitleidenschaft zog.

Die regelmäßigen Naturkatastrophen tragen wesentlich dazu bei, dass Haiti nach wie vor das ärmste Land der westlichen Hemisphäre ist. Im Human Development Index von insgesamt 189 Ländern befindet sich Haiti auf dem 169. Platz. Knapp 40 % der Bevölkerung können nicht lesen und schreiben. Laut Weltbank leben etwa 54 % unter der Armutsgrenze, davon 22 % in extremer Armut, und die wirtschaftlichen Aussichten verschlechtern sich zusehends. Bis Mitte 2020 verzeichnete die Landeswährung Gourde einen Wertverlust von etwa 40 %. Rücküberweisungen der haitianischen Diaspora, die mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, sind infolge des Corona-bedingten weltweiten Wirtschaftseinbruchs stark gesunken.

So waren es zu einem großen Teil wirtschaftliche Faktoren, die die jüngste Protestwelle auslösten. Mitte 2018 strich Präsident Moïse gemäß Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Subventionen für Treibstoffe, was die Preise für Benzin, Diesel und Kerosin um bis zu 50 % in die Höhe trieb. Diese Maßnahme wurde wegen des überwältigenden Protests zwar zurückgenommen, jedoch setzten sich die zivilen Unruhen unvermindert fort. Der Grund waren Untersuchungen des Senats und des Obersten Gerichtshofs, wonach die Vorgängerregierung unter Michel Martelly – mit Beteiligung des gegenwärtigen Präsidenten – Milliardenbeträge veruntreut hatte, die für soziale Projekte bestimmt waren.

Immer häufiger gehen auch Polizisten auf die Straße, z.T. gewaltsam, um bessere Arbeitsbedingungen und gewerkschaftliche Organisation zu fordern. Ein besonderer Kritikpunkt, auch vonseiten der Opposition, ist die Neuformierung des 1995 aufgelösten Militärs im Jahre 2017. Dieser Schritt sollte laut Regierung der Absicherung der Grenze zur Dominikanischen Republik und somit der Eindämmung des Schmuggels dienen. Die Opposition befürchtet jedoch, dass das Militär, das vor seiner Abschaffung oft die Interessen der Oberschicht vertrat und die Bevölkerung unterdrückte, für den Machterhalt der Regierung eingesetzt werden könnte.

Auch bei den bewaffneten Banden, im Haitianischen baz ("Basis") genannt, sind politische Verbindungen zu erkennen. Die in der jahrhundertlangen Kultur paramilitärischer Gruppierungen tief verwurzelten Gangs mischen sich seit der Jahrtausendwende verstärkt in Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern ein. Allerdings hat sich in der jüngsten Zeit die Dynamik dieses Phänomens verschärft. Im November 2018 ereignete sich mit dem sogenannten Massaker von La Saline der mit 71 Toten gewaltsamste Vorfall bewaffneter Gruppen in über zehn Jahren. Seit Mai 2020 spitzten sich die Aktivitäten dieser Gruppen weiter zu, als sie in organisierter Weise – und laut Augenzeugen mit Beteiligung von Polizeibeamten – mehrere Viertel der Hauptstadt angriffen, darunter Hochburgen der Opposition.

Unter den Toten waren auch Frauen und Kinder. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen in Haiti (Bureau intégré des Nations Unies en Haïti – BINUH) starben im ersten Halbjahr 2020 bei Übergriffen bewaffneter Banden 159 Menschen. Die Menschenrechtsorganisation der haitianischen katholischen Kirche Commission Episcopale Nationale Justice et Paix d’Haïti zählte 250, die Vereinigung "Défenseurs Plus" sogar 400 Tote. Angesichts der Zunahme der Gewalt erheben die Opposition und lokale Menschenrechtsgruppen schon länger den Vorwurf, dass diese Banden im Auftrag der Regierung Kritik am Präsidenten unterdrücken und in den von ihnen kontrollierten Gebieten politischen Rückhalt für die Regierungspartei sichern sollen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

In Haiti hat man mit internationalen Interventionen schlechte Erfahrungen gemacht. Im Zuge der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti, MINUSTAH), die 2004 nach dem Putsch gegen den damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide eingesetzt wurde, gab es zahlreiche Anschuldigungen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs, auch Minderjähriger. Ähnliche Vorwürfe wurden auch gegen Organisationen, wie Ärzte ohne Grenzen und Oxfam, erhoben. Zudem gilt es inzwischen als erwiesen, dass die große Cholera-Epidemie (2010-2019) von nepalesischen Blauhelmsoldaten ausgelöst wurde. Nach offiziellen Zahlen haben sich ca. 800.000 Menschen infiziert und mindestens 10.000 starben. Der damalige Generalsekretär Ban Ki-moon hat erst im Dezember 2016 eine (Mit-)Verantwortung der UNO anerkannt. Von den 200 Mio. USD Hilfszahlungen, um die Ban Ki-moon die Staatengemeinschaft gebeten hat, ist bislang noch nichts bei den Betroffenen angekommen (Betov 2020b).

Trotz der Wichtigkeit internationaler Hilfen in der Krisenbewältigung haben auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen in Haiti einen eher zweifelhaften Ruf. Nach dem Erdbeben 2010 sind über 14.000 NROs in Haiti tätig gewesen, finanziert durch Milliardenspenden der internationalen Gemeinschaft. Eine Wirkung dieser Gelder war in Haiti jedoch kaum zu spüren. Zum einen sind zugesagte große Summen nie in Haiti angekommen. Zum anderen unterlag die Mehrheit der NROs keiner öffentlichen Kontrolle, und sie mussten keine Rechenschaft über die Verwendung der Gelder ablegen. Außerdem werden die NROs beschuldigt, lokale Organisationen und Behörden nicht in die Hilfsmaßnahmen involviert zu haben, wodurch die örtlichen Institutionen dauerhaft geschwächt wurden. Nach Erhebungen des Büros des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs gingen von den sechs Mrd. US-Dollar, die bis 2012 von der internationalen Gemeinschaft gespendet wurden, gerade mal 0,6 % direkt an haitianische Organisationen.

Dementsprechend ist im Laufe der Jahre die Skepsis gegenüber der internationalen Gemeinschaft gewachsen, zumal insbesondere den USA, Frankreich und Kanada vorgeworfen wird, mit ihrer Unterstützung Präsident Moïse an der Macht zu halten. Dennoch ist die Hilfe der internationalen Gemeinschaft für die Krisenbewältigung nach wie vor unerlässlich. Eine besondere Rolle spielt das BINUH , eine Nachfolgeorganisation der MINUSTAH, die mit der Förderung des Dialogs zwischen Regierung und Opposition einen Konsens für dringend benötigte strukturelle Reformen herzustellen sucht. Auch die Reduktion der Gewalt, z.B. die Entwaffnung der baz und die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Stärkung der Sicherheitskräfte und des Gerichtswesens, gehört zu den Prioritäten. Weitere Ziele sind die Förderung von Menschenrechten sowie die Linderung sozioökonomischer Missstände. Bei der Erreichung dieser Vorhaben wirkt auch das UN Country Team in Haiti mit, das neben BINUH insgesamt 19 Organisationen und Fonds umfasst und vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Versorgung und Sicherheit tätig ist.

Geschichte des Konflikts

Haiti blickt auf eine äußerst turbulente Geschichte zurück. 1804 wurde das Land mit der Erklärung seiner Unabhängigkeit von Frankreich die erste von Schwarzen geführte Republik. In den folgenden zwei Jahrhunderten ereigneten sich jedoch über 30 Putsche und Putschversuche, zahlreiche ausländische Interventionen und die von 1957 bis 1986 währende Gewaltherrschaft des Diktators François "Papa Doc" Duvalier und seines Sohnes Jean-Claude "Baby Doc" Duvalier.

Erst im Jahr 1990 fanden die ersten als fair, frei und demokratisch anerkannten Wahlen statt, die der katholische Priester Jean-Bertrand Aristide mit einer Zweidrittelmehrheit gewann. Bezeichnenderweise wurde er nur ein Jahr später gewaltsam aus dem Amt entfernt und des Landes verwiesen. Durch die militärische Intervention der USA unter Präsident Bill Clinton 1994 konnte Aristide bis 1996 ins Amt zurückkehren. Seine zweite Amtszeit endete 2004 ebenfalls frühzeitig mit einem landesweiten Aufstand bewaffneter Gruppen. Zur Stabilisierung der Lage wurde die MINUSTAH eingesetzt.

Ab 2004 folgten in Haiti mehrere schwere Naturkatastrophen kurz aufeinander. Allein 2008 wurde Haiti von drei Hurrikanen heimgesucht, die insgesamt mehrere Hundert Menschenleben forderten und die ohnehin schon prekäre Versorgungslage weiter verschlechterten. Zwei Jahre darauf ereignete sich das große Erdbeben von 2010, das laut Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) unter den zehn verheerendsten Erdbeben der Menschheitsgeschichte rangiert und der Auslöser für die gegenwärtige Krise ist.

Die Wahlen im selben Jahr gewann einer der beliebtesten Musiker Haitis, Michel Martelly. Jedoch schwand seine Popularität rasch, als der Wiederaufbau des Landes nach dem Erdbeben keinen Fortschritt zeigte, Korruptionsvorwürfe gegen ihn aufkamen und Parlamentswahlen mehrfach verschoben wurden. Der wachsende Unmut der Bevölkerung entlud sich in gewaltsamen Protesten, die sich nach der Auflösung des Parlaments noch ausweiteten. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 2015 wurden nach schweren Ausschreitungen annulliert; bei der Wiederholung der Wahlen 2016 betrug die Wahlbeteiligung nur 21 %. Moïse reichten gerade mal 600.000 Stimmen für den Sieg.

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Wolfgang Knoblauch absolvierte seinen Magister der spanischsprachigen und englischsprachigen Literatur an der Universität Konstanz und arbeitete über fünf Jahre im Risikomanagement, zuletzt in der Position eines Senior Advisor. Gegenwärtig ist er als freiberuflicher Risiko-Analyst tätig.