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Meinung: Die Afghanistan-Mission des Westens - vermeidbares Scheitern? | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: Die Afghanistan-Mission des Westens - vermeidbares Scheitern?

Markus Kaim

/ 8 Minuten zu lesen

Ob das Scheitern des Westens in Afghanistan vermeidbar gewesen wäre, ist schwer zu beantworten. Denn die Abzugsentscheidung der Biden-Regierung resultierte hauptsächlich aus einer weltpolitischen Neuorientierung der USA. Doch der chaotische Abzug hat gezeigt, wie fragil die Fundamente des westlichen Engagements gewesen sind.

Mitglieder der Taliban durchsuchen ein zerstörtes Haus während einer Militäraktion in Kandahar. (© picture-alliance, Xinhua News Agency)

Am 15. August 2021 haben die Taliban Kabul eingenommen und das "Islamische Emirat Afghanistan" ausgerufen. Das bis dahin mit westlicher Unterstützung aufgebaute politische System Afghanistans ist kollabiert, und Präsident Ghani ins Exil gegangen. Damit sind die seit 2001 andauernden Bemühungen der USA und anderer Akteure gescheitert, Afghanistan dauerhaft zu befrieden, die dafür notwendigen staatlichen Strukturen und Institutionen zu schaffen und die Gesellschaft gemäß westlichen Ordnungsvorstellungen umzugestalten.

Als Folge der Rückzugsentscheidung der USA sind auch die Streitkräfte aller anderen NATO-Staaten vollständig vom Hindukusch abgezogen worden, darunter am 30. Juni 2021 auch das letzte Kontingent der Bundeswehr, das an der Resolute Support Mission der Allianz beteiligt gewesen ist. Innerhalb von wenigen Wochen sind die westlichen Staaten von einflussreichen Gestaltern in Afghanistan zu Bittstellern geworden, die für ihre Aktivitäten die Genehmigung der Taliban benötigen. Die Folgen für das Land, die regionale Ordnung und die Machtstruktur des internationalen Systems sind zurzeit erst in Konturen zu erahnen.

Die Entscheidung von Joe Biden ist nachvollziehbar

In vielen westlichen Hauptstädten haben bereits die Debatten darüber begonnen, wer die politische Verantwortung für den Misserfolg dieses zwanzigjährigen Militäreinsatzes trägt, ob dieses Scheitern vermeidbar war und welche Lehren aus ihm gezogen werden sollten. In diesem Kontext halten viele journalistische Beobachter und Vertreter früherer US-Regierungen die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden zugunsten eines bedingungslosen Abzugs für einen schweren Fehler, der den Taliban erst militärisch Auftrieb verschafft habe.

Sie verweisen auf denkbare militärische Alternativen, die keine permanente Stationierung großer Kontingente erfordert hätte. Eine Option wäre zum Beispiel die Stationierung amerikanischer Spezialkräfte für kurze Einsätze zur Unterstützung der afghanischen Armee und der Einsatz von Flugzeugträgern gewesen, um die entsprechende Luftunterstützung für die afghanischen Streitkräfte zu leisten. Vor allem aber hätte Biden eindeutig signalisieren müssen, dass er nicht beabsichtige, Afghanistan seinem Schicksal zu überlassen. Der Eindruck, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr zuverlässig an der Seite der afghanischen Regierung stehen, habe den Vormarsch der Taliban mehr als alles andere begünstigt, so die Kritiker.

Abgekoppelt von diesen wenigen Alternativen lassen die Kritiker die eigentlichen politischen Schlüsselfragen jedoch unbeantwortet: Wie lange hätte der westliche Militäreinsatz noch andauern sollen und können? Wäre es realistisch gewesen, dafür eine politische Vereinbarung mit der Ghani-Regierung in Afghanistan zu erreichen, der sich alle relevanten Akteure im Land verpflichtet fühlen? Wäre es überhaupt auf Dauer möglich gewesen, im Land Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten und damit einen "erfolgreichen" Truppenabzug des Westens zu ermöglichen?

US-Präsident Joe Biden hat offenbar auf alle diese Fragen mit "Nein" geantwortet. Aus seiner Sicht, sei das Festhalten an früheren, nicht erreichbaren Zielen das Rezept, für immer in Afghanistan zu bleiben. Zugleich weist seine Entscheidung weit über Afghanistan hinaus. Mit dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan hat der amerikanische Präsident nicht nur einen in den USA unpopulären Krieg beendet, sondern nach eigenem Bekunden gleich eine ganze Ära abgeschlossen. Die Epoche des großformatigen Nation Building sei für die USA angesichts der bescheidenen und häufig enttäuschenden Ergebnisse endgültig vorbei. Stattdessen werde sich seine Regierung nunmehr dem "Nation Building" in den USA widmen. Daher habe man im April 2021 entschieden, den Rückzug aus Afghanistan nicht länger von der Sicherheitslage im Land abhängig zu machen.

Vor allem aber reflektiert Bidens Entscheidung die veränderten außenpolitischen Prioritäten der Vereinigten Staaten angesichts des globalen amerikanisch-chinesischen Machtwettbewerbs: "Die Vereinigten Staaten können es sich nicht leisten, an einer Politik festzuhalten, die eine Reaktion auf eine Welt wie vor 20 Jahren darstellt. Wir müssen den Bedrohungen dort begegnen, wo sie heute sind."

Die Taliban gewinnen den Abzugspoker

Ausgangspunkt aller Hoffnungen auf eine politische Lösung war das zwischen den USA und den Taliban in Doha am 29. Februar 2020 geschlossene "Agreement for Bringing Peace to Afghanistan". Die Vereinbarung enthielt u.a. einen Zeitplan für einen konditionierten, phasenweisen Abzug aller US- und NATO-Truppen bis Ende April 2021 sowie eine Verständigung darüber, dass die Taliban und die afghanische Regierung Gespräche aufnehmen würden, um die künftige Repräsentation der Aufständischen im politischen System Afghanistans auszuhandeln. Zwar war die amerikanische Zusage zum Abzug aus Afghanistan an Bedingungen geknüpft. Faktisch und für die Konfliktparteien sichtbar, hatte der Westen damit jedoch unwiderruflich die Weichen für den Abzug gestellt. Die Führer der Taliban konnten seitdem sicherer denn je sein, dass sie letztlich nur abwarten müssten, bis in den westlichen Hauptstädten auch die letzte Bereitschaft zum Engagement erlahmen würde.

Zahlreiche offene Fragen sollten jedoch erst in den folgenden innerafghanischen Friedensverhandlungen angesprochen werden können. Dazu gehörten beispielsweise Dauer und Beginn des angestrebten Waffenstillstandes, Beginn und Details des weiteren westlichen Truppenabzugs, Mechanismen des Aussöhnungsprozesses im Land, Aspekte einer möglichen Entwaffnung, Demobilisierung und eventuellen späteren Integration ehemaliger Taliban-Kämpfer in die afghanischen Sicherheitskräfte sowie die Bedingungen für die Aufnahme der Taliban in eine Übergangsregierung.

Nach diversen Gesprächsrunden seit dem September 2020 war jedoch nach wie vor unklar, welche Art von Sicherheits- und politischen Vereinbarungen sowohl Kabul als auch die Taliban zufriedenstellen könnten, wenn letztere ihren bewaffneten Kampf aufgeben sollten. Viele Afghanen blieben misstrauisch, was die Vertrauenswürdigkeit der Taliban betraf, und äußerten die Befürchtung, dass die Gruppe ohne den militärischen Druck der USA wenig Anreiz haben wird, die Bedingungen einer mit Kabul erzielten Vereinbarung einzuhalten. Und in der Tat drängte sich der Eindruck auf, dass die Taliban bei den Gesprächen in Doha versuchten, eine Einigung mit der afghanischen Regierung so lange hinauszuzögern, bis die USA vollständig abgezogen waren, um ihren Vorteil auf dem Schlachtfeld nutzen und die alleinige Kontrolle über das Land übernehmen zu können. Die Entwicklungen bis zum Fall Kabuls im August 2021 sollte diese Lesart bestätigen.

Wichtige Gründe für das Scheitern des Westens

Aus der Fülle von Gründen, warum das westliche Engagement in Afghanistan gescheitert ist, lassen sich vier Problemkomplexe identifizieren, die nicht nur in diesem Fall, sondern auch in anderen Krisenregionen dauerhafte Erfolge von Stabilisierungseinsätzen westlicher Staaten und internationaler Organisationen erschwert bzw. sogar verhindert haben:

Da diese Operationen in der Regel durch eine multinationale Koalition durchgeführt werden, ist erstens auf der Seite der Intervenierenden nicht nur eine große Akteursvielfalt, sondern vor allem eine große Bandbreite von Motiven und Zielen anzutreffen, sich an derartigen Einsätzen zu beteiligen. So nahmen manche Länder an der Afghanistan-Mission der NATO vor allem teil, um ihre Solidarität mit den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auszudrücken. Andere setzten ihren Schwerpunkt auf die Bekämpfung dschihadistischer Terrorgruppen. Wieder andere sahen ihre Aufgabe vornehmlich im Aufbau staatlicher Institutionen oder in der Entwicklungszusammenarbeit. So war es schwer bis unmöglich, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, die ein kohärentes Handeln aller nationalen Kontingente, die Messung der Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele der Mission und letztlich auch eine abgestimmte Vorbereitung des Abzugs der internationalen Gemeinschaft erlaubt hätte.

Zweitens verfügen Demokratien nicht über die ausreichende Langfristperspektive und Geduld, einen solchen Einsatz zeitlich und materiell mit dem erforderlichen "langen Atem" fortzuführen. Wechselnde außenpolitische Schwerpunkte verhindern häufig eine kontinuierliche und hinreichend fokussierte Priorisierung. Auch die notwendige politische Zustimmung der Öffentlichkeit erodiert oft schnell. Das sind Gründe, warum sich zahlreiche westliche Staaten, wie Kanada, die Niederlande und Frankreich, bereits vor Jahren aus der Afghanistan-Mission zurückgezogen haben. Nach dem Fall Kabuls und der Machtergreifung der Taliban werden aller Voraussicht nach die NATO und die EU für einen langen Zeitraum nicht mehr bereit sein, vergleichbare Einsätze zu schultern.

Drittens verfügen westliche Regierungen in Krisenländern, wie Afghanistan, selten über politische Partner, die für Einfluss in ihrem Sinne offen sind. Häufig handelt es sich um Regierungen, deren Legitimation fragil ist, weil sie aufgrund der innerstaatlichen Konfliktlage nur einen Teil der Bevölkerung repräsentieren und lediglich in begrenztem Umfang bereit oder in der Lage sind, staatliche Dienstleistungen in allen Landesteilen anzubieten. Auch in Afghanistan hat die internationale Gemeinschaft bis zum Ende eine Ausfallbürgschaft übernommen und einen Großteil der grundlegenden staatlichen Dienstleistungen direkt oder indirekt selbst erbringen müssen. Hinzu kommt, dass die lokalen Regierungen zuweilen eine völlig andere Agenda verfolgen. Sie sind eher an der Aufrechterhaltung des konflikthaften Status quo als an grundlegenden Verbesserungen interessiert. Denn dies eröffnet für sie die Möglichkeit, weitere politische, militärische und finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft zu erhalten. In Afghanistan war dadurch der Weg zu einer politischen Vereinbarung, die den Abzug der internationalen Truppen ermöglicht hätte, weitgehend verbaut.

Viertens besitzen die intervenierenden Staaten nur schwache Hebel, um auf die Akteure im Land und auf die Anrainerstaaten einzuwirken. Zwar ist in solchen Kontexten häufig von Konditionalität die Rede, exekutive Fortschrittsberichte und Erfolgskriterien suggerieren Implementierungsfortschritte und bürokratische Effizienz. Doch politische Erfolgsvorgaben der Regierungen machen diese zumeist zu einem stumpfen Schwert: Einmal begonnen, muss der Einsatz als Erfolg enden, Das war ein Grund dafür, warum es nicht gelang, afghanische Sicherheitskräfte aufzubauen, die auf dem gesamten Territorium Afghanistans selbstständig und effektiv für Sicherheit sorgen konnten bzw. warum diese seit Jahren erkennbare Tatsache, im politischen Raum wenig Resonanz gefunden hat. Zugleich hätten eine aktivere Einmischung oder gar Sanktionen gegen die afghanische Regierung den Anschein lokaler "Ownership" endgültig zerstört und eine Mission beschädigt, die aus politischen Gründen unbedingt erfolgreich verlaufen sollte.

Fazit

Der Westen hat mit dem Fall von Kabul am 15. August nicht nur eine Niederlage erlitten, sondern mit der Machtergreifung der Taliban sind auch viele der Fixpunkte der internationalen Afghanistan-Politik abhandengekommen – normativ, politisch und institutionell. Das Land selbst befindet sich nunmehr in einer Phase des politischen Umbruchs und Übergangs mit ungewissem Ausgang. Noch ist nicht sicher, ob es nicht doch eine Regierung der nationalen Einheit geben wird; noch ist nicht klar, wie "islamisch" die gesellschaftliche Ordnung sein wird; noch ist nicht durchgängig erkennbar, wie das neue Regime mit den Repräsentanten der alten Ordnung umzugehen gedenkt.

Ob das Scheitern des Westens vermeidbar war, lässt sich nicht seriös beantworten. Und ob die Saat der gesellschaftlichen Transformation hätte aufgehen können, wenn die NATO weitere zwanzig Jahre im Land gebelieben wäre, weiß niemand. Selbst ein flüchtiger Blick auf die strukturellen Schwierigkeiten lässt aber Zweifel aufkommen, ob jemals eine wirkliche Chance auf Erfolg bestanden hat. Möglicherweise hat der Westen vor allem die kulturell-historischen Beharrungskräfte im Land unterschätzt:

Weitere Inhalte

Dr. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er war von August 2019 bis Juli 2020 Helmut-Schmidt-Fellow beim German Marshall Fund of the United States in Washington. Er hat als Visiting Scholar am Institute of European, Russian, and Eurasian Studies der Carleton University, Ottawa, als DAAD Professor for German and European Studies an der University of Toronto sowie als Vertretungsprofessor für Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Konstanz gelehrt. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, an der Hertie School of Governance, Berlin, und der Bucerius Law School, Hamburg.