Empfängerzahlen und -strukturen und Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Gerhard BäckerErnst Kistler
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Ende 2022 erhielten rund 1,2 Million Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, darunter befanden sich zu 54,9 Prozent (660 Tsd.) Personen, die die Regelaltersgrenze erreicht hatten, und zu 45,1 Prozent (531 Tsd.) Personen im Alter zwischen 18 Jahren und der Regelaltersgrenze mit einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung.
Zwischen 2003 − seit der Einführung der Grundsicherung − und 2022 hat sich der Empfängerkreis nahezu verdreifacht.
Betrachtet man die Struktur der Empfänger:innen im Einzelnen, zeichnen sich folgende Auffälligkeiten ab:
Rund ein Viertel der Empfänger:innen lebt in stationären Einrichtungen (Pflegeheimen) und erhält zusätzlich noch Hilfen zur Pflege oder Hilfen für Menschen mit Behinderungen. Das betrifft vor allem die Erwerbsgeminderten, während die Älteren noch zu 85 Prozent eigenständig wohnen.
Frauen sind unter den Empfänger:innen leicht überrepräsentiert; die schlechtere Einkommenslage von Frauen im Alter macht sich hier bemerkbar.
Der Anteil der Nicht-Deutschen an allen Leistungsempfänger:innen übersteigt den Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung. Im Zeitverlauf seit 2003 haben sich die Proportionen kontinuierlich erhöht. 2022 zeigt sich ein Höchststand von 30,4 Prozent. (vgl. Abbildung "Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach Staatsangehörigkeit 2003 − 2022"). Der starke Anstieg gegenüber 2021 (24 Prozent) ist darauf zurückzuführen, dass ältere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine seit Mitte 2022 Anspruch auf Grundsicherungszahlen haben (und nicht mehr auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verwiesen werden).
Empfängerquoten
6.3 Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2022 (bpb)
Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2022 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Betrachtet man die Empfängerquoten, also den Anteil der Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen, an der jeweiligen Gesamtbevölkerung, zeigt sich ein überraschendes Ergebnis (vgl. Abbildungen "Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2022 und 2003 − 2022"):
Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung hat eine vergleichsweise geringe Bedeutung. So beziehen nur 3,8 Prozent der Älteren diese Leistung, 3,7 Prozent der Männer und 3,7 Prozent der Frauen.
Der Anteil der Empfänger:innen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung ist in den alten Bundesländern höher als in den neuen Bundesländern (vgl. Abbildung "Empfängerquoten der Grundsicherung im Alter nach Bundesländern 2022"), im Norden höher als im Süden sowie in den Stadtstaaten höher als in den Flächenstaaten.
Ursächlich für diese regionalen Differenzierungen ist zum einen, dass in den neuen Bundesländern die finanzielle Situation der Bestandsrentner, insbesondere der Frauen, gegenwärtig günstiger ist als in den alten Bundesländern (Das trifft allerdings nicht mehr auf die Rentenneuzugänge zu!). Zum anderen kommen in dem Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle auch die unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Strukturen zum Ausdruck. Und zu berücksichtigen sind schließlich die regional stark abweichenden Kosten der Unterkunft. Es zeigt sich, dass Empfänger:innen von einer niedrigen Rente in Regionen mit einem niedrigen Mietpreisniveau keinen Anspruch auf aufstockende Grundsicherung haben, während diese Rente im großstädtischen Raum nicht ausreicht, um den Grundsicherungsbedarf (einschließlich Kosten der Unterkunft) zu decken.
Zur Dunkelzifferproblematik
Die Zahlen und Daten über die Empfänger:innen der Grundsicherung beziffern allerdings nur jene Personen, die tatsächlich Leistungen beanspruchen. Über die Größenordnung derer, die aufgrund ihres niedrigen Alterseinkommens zwar einen Anspruch hätten, diesen aber nicht wahrnehmen ("Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme"), gibt es keine aktuellen und verlässlichen Informationen. Wie hoch die Nichtinanspruchnahme zustehender Grundsicherungsleistungen ist, kann nur auf Basis von Stichproben-Studien geschätzt werden. Eindeutig über die Jahre der Studien hinweg ist, dass das Maß der Dunkelziffer außerordentlich hoch ausfällt. Die Quoten schwanken zwischen 40 und 70 Prozent.
Die Ursachen für die Nicht-Inanspruchnahme sind vielfältig: Die Betroffenen sind unzureichend informiert, ob sie noch einen Anspruch auf aufstockende Leistungen haben; dies insbesondere dann, wenn der Anspruch eher gering ist. Und nach wie vor herrschen gerade bei der älteren Bevölkerung Angst und Sorge, dass der Gang zum Sozialamt und der Erhalt bedürftigkeitsbezogener Leistungen zum sozialen Stigma werden und die Familienbeziehungen gefährden. So ist fraglich, dass der weitgehende Wegfall des Rückgriffs auf die Kinder den Betroffenen tatsächlich bekannt ist.
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QuellentextDie Dunkelziffer wird in der Tendenz unterschätzt
"Becker ist sicher, dass dieses Ergebnis die Realität gut widerspiegelt. Schließlich steht die mit demselben Datensatz ermittelte 'bekämpfte Armut' in Übereinstimmung mit den amtlichen Statistiken – was für die Repräsentativität der Stichprobe spricht. Und wenn es Verzerrungen gäbe, dann würde die verdeckte Armut eher unterschätzt, betont die Forscherin. Möglich wäre nämlich, dass Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, auch überdurchschnittlich häufig vor der Teilnahme an Befragungen zurückschrecken. Personen mit Sparguthaben oder nur geringen Grundsicherungsansprüchen von unter 30 Euro im Monat hat sie bei ihrer Rechnung gar nicht berücksichtigt."
Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.
Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.