Überschneidungen von Grundsicherung und Rente
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Gerhard BäckerErnst Kistler
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Die Mehrheit der Empfängerinnen und Empfänger der Grundsicherung verfügt über Einkommen − vor allem über Renten aus der Rentenversicherung (Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten, Hinterbliebenenrenten).
Die gesetzlichen Renten, aber auch Betriebsrenten und geförderte Riester-Renten, werden (weitgehend) auf den Grundsicherungsbedarf angerechnet, so dass es im Ergebnis für die Einkommenslage von Grundsicherungsempfänger:innen recht unerheblich ist, ob Rentenansprüche erworben worden sind oder nicht.
Dieses Verfahren entspricht der Logik eines Fürsorgesystems, das das soziokulturelle Existenzminimum unabhängig von irgendwelchen Vorleistungen absichern will, jedoch nur leistet, soweit Hilfebedürftigkeit vorliegt.
6.5 Empfänger von Grundsicherung und Rentenansprüche 2022 (bpb)
Einen interessanten Einblick in die Struktur der Grundsicherungsempfänger:innen erhält man, wenn man fragt, wie groß die Gruppe derer ist, die überhaupt keine Rente beziehen: Bei der Grundsicherung im Alter verfügen 31 Prozent über keine Rente, bei Grundsicherung bei Erwerbsminderung sind es hingegen 65 Prozent (vgl. Abbildung "Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und Rentenansprüche 2022").
Bei denjenigen Älteren, die keinen Rentenanspruch haben, handelt es sich um Personen, die selbst die minimale Bezugsvoraussetzung für eine Regelaltersrente, nämlich die Wartezeit von 5 Jahren nicht erfüllen. Hier dürfte es sich in erster Linie um Selbstständige sowie um Migranten handeln . Bei den Erwerbsminderungsrenten sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer vollen Erwerbsminderungsrente schwieriger zu erfüllen. Erforderlich ist zunächst die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren. Zudem müssen in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre mit Pflichtbeiträge belegt sein.
Wenn auf der anderen Seite allein die Rentner:innen der Gesetzlichen Rentenversicherung betrachtet werden, zeigt sich, dass der Anteil der Altersrentner:innen, die eine Aufstockung ihrer Rente durch die Grundsicherung erhalten, mit 2,8 Prozent (2022) recht gering ist. Er hat sich seit 2003 nur leicht erhöht, bleibt aber auf einem niedrigen Niveau. Bei den Bezieher:innen einer Erwerbsminderungsrente sehen die Verhältnisse allerdings anders aus. Hier finden sich im Jahr 2022 zu 14,7 Prozent Aufstocker. Gegenüber 2003 hat sich dieser Anteil nahezu verdreifacht (2003: 4,1 Prozent) (vgl. Abbildung "Aufstockung von Alters- und Erwerbsminderungsrenten durch die Grundsicherung 2003 - 2022").
Für die politische Stabilität und Akzeptanz der Rentenversicherung kann es zu einem gravierenden Problem werden, wenn das Grundsicherungsniveau nicht nur in Fällen kurzer Versicherungsdauer höher liegt als individuelle Renten, sondern auch nach einem langen Versicherungsleben (Stichwort z. B. Niedriglohn). Während nämlich nicht erwartet wird und erwartet werden kann, dass nach nur wenigen Beitragsjahren eine ausreichend hohe Rente erworben wird, ist dies anders, wenn über Jahrzehnte hinweg Pflichtbeiträge entrichtet worden sind und dennoch die Renten noch nicht einmal das sozial-kulturelle Existenzminimum erreichen.
Die Gefahr eines ergänzenden Grundsicherungsbedarfs zu Rentenzahlungen ist entsprechend den Konstruktionsmechanismen der Rentenformel (vgl. Interner Link: Rentenberechnung) umso größer, je niedriger die individuelle Entgeltposition im Versicherungsverlauf ausfällt und je geringer die Zahl der Versicherungsjahre ist.
Anhand einer auf das Jahr 2020 bezogenen Modellrechnung lässt sich dieser Zusammenhang verdeutlichen: Ein Durchschnittsverdiener (Entgeltposition von 100 %) braucht 26,2 Beitragsjahre, um eine Rente in Höhe des Grundsicherungsbedarfs einschließlich (durchschnittliche) Warmmiete zu erhalten. Liegt die Entgeltposition jedoch nur bei 50 Prozent, erhöht sich die rechnerisch notwendige Beitragsdauer auf 52,4 Jahre.
6.7 Überschneidung von Grundsicherungsbedarf und Rente bei sinkendem Rentenniveau (bpb)
Überschneidung von Grundsicherungsbedarf und Rente bei sinkendem Rentenniveau (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Dieser für das Jahr 2020 (also noch vor Einführung des Grundrentenzuschlags) ermittelte Verlauf des Verhältnisses von Entgeltposition und Beitragsdauer bezieht sich auf ein Rentenniveau von 48,2 Prozent (zum Rentenniveau vgl. Interner Link: Höhe und Verteilung der Renten). Sinkt nun − wie in der Rentenanpassungsformel angelegt (vgl. Interner Link: Rentenanpassung) − das Rentenniveau in den Jahren bis 2045 kontinuierlich ab, dann wird sich der Überschneidungsbereich zwischen Grundsicherung und Renten entsprechend vergrößern.
Die Zahl der Versicherungsjahre, die für eine Rente in Höhe des Grundsicherungsbedarfs erforderlich sind, wird immer größer:
Bei einem Netto-Rentenniveau vor Steuern von 41,6 Prozent, wie es die Bundesregierung für das Jahr 2045 annimmt, muss ein Durchschnittsverdiener schon 30,4 Beitragsjahre aufweisen, ein Beschäftigter mit einer Entgeltposition von 50 Prozent sogar 60,7 Jahre. (vgl. Abbildung "Überschneidung von Grundsicherungsbedarf und Rente bei sinkendem Rentenniveau").
Unabhängig von der Frage, ob ein Regelbedarf von 502 Euro (2023) als armutsvermeidend angesehen werden kann, bleibt festzustellen, dass die preis- und lohnbezogene Anpassung des Regelsatzes in den Jahren zwischen dem fünfjährigen Neuberechnungsrhythmus (auf der Basis der Auswertung der EVS) wohl höher ausfallen wird als die Rentenanpassung. Denn die Rentenanpassung folgt der Lohnentwicklung ja nur gebremst und berücksichtigt die Preisentwicklung überhaupt nicht. Dies lässt erwarten, dass es auch von daher häufiger und schneller zu einer Überschneidung zwischen Renten und Grundsicherungsniveau kommt.
Mit der (wachsenden) Überschneidung ist nicht gesagt, dass all jene, die eine Rente unterhalb des Grundsicherungsbedarfs beziehen, tatsächlich auch einen Anspruch auf eine aufstockende Grundsicherungsleistung haben. Denn nicht allein die Individualrente, sondern sämtliche Einkommen und Vermögen − und zwar im Haushaltskontext − werden angerechnet. Aber es bleibt das Legitimations- und Akzeptanzproblem einer beitragsfinanzierten Rentenversicherung, wenn trotz einer jahrzehntelangen Versicherungspflicht das Alterseinkommen womöglich nicht höher liegt als bei denen, die keine Vorsorge geleistet haben.
Durch die Einführung eines ab 2002 geltenden Grundrentenzuschlags soll diesem Problem entgegnet werden (vgl. ausführlich Grundrente).
Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.
Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.