Grundlegendes Element der Sozialstaatlichkeit ist die Existenz einer Grundsicherung. Die Grundsicherung hat die Aufgabe, diejenigen Menschen durch Geldleistungen und auch durch soziale Hilfen zu unterstützen, die nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Auf die Grundsicherung besteht ein Rechtsanspruch, und sie ist unabhängig von einer Vorleistung . Die Grundsicherung stellt damit das politisch-administrativ definierte Einkommensminimum dar. Die Leitmaxime, Menschen die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das "der Würde des Menschen entspricht" (§1 (1) SGB XII), bezieht sich auf Artikel 1 des Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.")
Die Grundsicherung ist eine bedürftigkeitsgeprüfte Fürsorgeleistung und durch die Prinzipien
Nachrang/Bedürftigkeit,
Bedarfsdeckung und
Individualisierung
geprägt.
Das Nachrang- bzw. Bedürftigkeitsprinzip bedeutet, dass keine Leistungen gewährt werden, wenn das eigene Einkommen und Vermögen zur Beschaffung des notwendigen Lebensunterhalts ausreicht oder wenn Anspruch auf Zahlungen von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen besteht. Vorrang haben
(mit einigen wenigen Ausnahmen bzw. Freibeträgen) sämtliche Einkommen und Einkommensarten wie Arbeits- und Gewinneinkommen, sozialversicherungsrechtliche Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Krankengeld, Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten, Transfers wie Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld und Elterngeld, Einkommen aus Vermögen, Vermietung und Verpachtung;
verwertbares Vermögen, wie Geldvermögen, Sachvermögen, Lebensversicherungen, Haus- und Grundbesitz, soweit es bestimmte Grenzen (Schonvermögen, Riester-Förderung) übersteigt;
Leistungen unterhaltsverpflichteter Angehöriger.
Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip soll der jeweils vorliegende individuelle Bedarf im Hinblick auf ein "menschenwürdiges Leben" gesichert werden. Die Leistungen beziehen sich auf die Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaft, werden als Zuschuss geleistet (sind also nicht rückzahlbar) und erfolgen im Grundsatz unbefristet.
Nach dem Individualisierungsprinzip richten sich Art, Form und Maß der Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalles. Maßstäbe sind die individuelle Lebenslage, die jeweilige Art des Bedarfes und die örtlichen Verhältnisse. Der erhebliche Verwaltungsaufwand, der mit der Anspruchsprüfung und Bewilligung von Leistungen in jedem Einzelfall verbunden ist, führt aber dazu, dass die Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens nach festen Regel(bedarfs)sätzen, d.h. pauschaliert kalkuliert werden.
Diese Regelbedarfe gelten einheitlich für ganz Deutschland. Sie unterscheiden sich nach der Zahl und dem Alter der Personen in einem Haushalt, da Kinder einen geringeren Bedarf haben und in einem Zwei- und Mehrpersonenhaushalt günstiger gewirtschaftet werden kann. Keiner Pauschalierung unterliegt jedoch die Höhe der übernommenen Warmmiete, hier erfolgt eine Bewertung des Einzelfalls, da die Mietkosten regional äußerst unterschiedlich ausfallen.
Die fürsorgerechtlichen Leistungen untergliedern sind in mehrere Teilsysteme, die zwar ähnliche Leistungsgrundsätze aufweisen, sich aber auf jeweils unterschiedliche Personenkreise beziehen (vgl. Abbildung "Grundsicherungssysteme in Deutschland"):
Erwerbsfähige Menschen (dazu zählen u.a. Arbeitslose, Niedrigverdiener, teilweise Erwerbsgeminderte) und ihre Angehörigen haben Anspruch auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende, kodifiziert im SGB II (auch als Hartz IV bezeichnet);
Ältere Menschen (oberhalb der Regelaltersgrenze) und dauerhaft Erwerbsgeminderte haben Anspruch auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (als besondere Leistung im Rahmen des SGB XII);
Für Asylbewerber und Flüchtlinge gelten die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz;
Die Geldleistungen der Sozialhilfe (SGB XII) zielen auf Kinder und Erwachsene unterhalb der Regelaltersgrenze, die zeitweise voll erwerbsgemindert sind.
Höhe und Berechnung des Existenzminimums: Regelbedarfe und Gesamtbedarfe
Das Ziel von Mindestsicherungsleistungen ist die Garantie von mehr als dem absoluten Existenzminimum. Sie orientieren sich an einem menschenwürdigen Leben ("soziokulturelles Existenzminimum"). Strittig ist und bleibt dabei die Frage, wie dieses Minimum berechnet werden soll: Wie setzen sich die erforderlichen Bedarfe für die Haushaltsmitglieder zusammen? Wie werden die Bedarfe an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst?
Zum notwendigen Lebensunterhalt zählt der Bedarf eines Menschen insbesondere an Ernährung, Kleidung, Hausrat und Unterkunft einschließlich Heizung. Zu berücksichtigen sind gleichermaßen die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens; dazu gehören auch Sozialkontakte und die Teilnahme am kulturellen Leben.
Der Gesamtbedarf setzt sich zusammen aus
dem Regelbedarf,
den Leistungen für Unterkunft und Heizung und
den Sonderbedarfen.
Die Höhe dessen, was als Bedarf zu verstehen ist, lässt sich nicht objektiv bestimmen oder wissenschaftlich-neutral ableiten. Es geht um eine politisch-normative Entscheidung, bei der die allgemeinen Lebensverhältnisse und deren Entwicklung zu berücksichtigen sind und die stets kontrovers diskutiert wird. Sind die Leistungen der Grundsicherung wirklich ausreichend, um das sozialkulturelle Existenzminimum in einer reichen Gesellschaft abzudecken?
Regelbedarfe
Maßgeblich für die Ermittlung der Regelbedarfe ist das "Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 SGB XII". Es regelt gleichermaßen die Leistungen nach dem SGB XII wie nach dem SGB II und (allerdings stark reduziert) nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Maßstab für die Bemessung ist das statistisch erfasste Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Personen mit niedrigem Einkommen. Als empirische Basis dient die in Abständen von fünf Jahren durchgeführte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes. Berücksichtigt werden die Ausgaben der unteren 15 Prozent der Einpersonen- und der unteren 20 Prozent der Mehrpersonenhaushalte (unter Ausschaltung jener Haushalte, in denen Personen leben, die ausschließlich Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem SGB II beziehen). Unberücksichtigt bleiben zudem einige Ausgabenpositionen, die nicht zu den zu deckenden Bedarfen gezählt werden.
Solange keine neuen Ergebnisse der EVS vorliegen, bemisst sich die zwischenzeitliche Anpassung der Regelbedarfe zu Anfang eines jeden Jahres an einem Mischindex, dem zu 70 Prozent die Preisentwicklung und zu 30 Prozent die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter zu Grunde liegen. Die letzte Neuberechnung des Regelbedarfs auf der Grundlage der ausgewerteten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 wurde im Jahr 2016 mit Wirksamkeit zum 01.01.2017 vorgenommen.
Das Verfahren macht nur auf den ersten Blick den Eindruck einer Berechnung auf der Grundlage einer "objektiven" Datenbasis. Da entschieden werden muss, welche Einkommensgruppen als vergleichbar angesehen werden und welche Ausgabenpositionen als "regelbedarfsrelevant" zu berücksichtigen sind, werden aber auch hier normative Entscheidungen erforderlich.
Dieses Berechnungs- und Anpassungsverfahren der Regelbedarfe hat zu anhaltender Kritik geführt, die vor allem von den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie den Gewerkschaften vorgetragen worden ist. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, das Bemessungsverfahren transparent und nachvollziehbar zu gestalten, dennoch wird beklagt, dass die Leistungen deutlich zu niedrig sind und noch unterhalb der Armutsrisikoschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegen (vgl. "Interner Link: Verringerung von Einkommensungleichheit und Armutsrisiken – aber wie?").
Vergleicht man das Bedarfsniveau der Grundsicherung mit dem Schwellenwert der relativen Armutsberechnung (Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens), so gibt es – immer bezogen auf gleiche Haushaltstypen – kein eindeutiges Ergebnis. Denn es gibt nicht "das" Grundsicherungsniveau, sondern in Abhängigkeit von den Kosten der Unterkunft und möglichen Mehrbedarfen unterschiedliche Niveaus. Differenzierte Berechnungen zeigen allerdings, dass das Bedarfsniveau der Grundsicherung für Arbeitsuchende in den meisten Fällen tatsächlich unterhalb der Armutsrisikoschwelle liegt.
Regelbedarfe und Gesamtbedarfe 2020
Leben Hilfeempfänger nicht allein, sondern mit Partnern und/oder Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen, wird dies bei der Festsetzung der Regelbedarfe berücksichtigt. Die Abstufung der Regelbedarfe soll einerseits dem mit dem Lebensalter variierenden Bedarf Rechnung tragen. Sie soll andererseits aber auch berücksichtigen, dass mit einem größeren Haushalt Kostenvorteile bei der Haushaltsführung verbunden sind. Es werden also bei der Abstufung Äquivalenzskalen berücksichtigt: Partner erhalten jeweils 90 Prozent des vollen Leistungssatzes; für Kinder gelten besondere Leistungssätze (vgl. Tabelle "Regelbedarfe der Grundsicherung 2020").
Regelbedarfe der Grundsicherung 2020 in Euro/Monat
In Euro/Monat
Regelbedarf für...
in Euro/Monat
Alleinstehende oder Alleinerziehende
432
Ehegatten oder Lebenspartner*
389
Erwachsene Leistungsberechtigte**
345
Jugendliche 14 < 18 Jahre
328
Kinder 6 < 14 Jahre
308
Kinder < 6 Jahre
250
Fußnote: * Jeweils 90 Prozent des Eckregelsatzes
Fußnote: ** 80 Prozent des Eckregelsatzes: Für erwachsene Personen, die keinen eigenen Haushalt führen, weil sie im Haushalt anderer Personen leben.
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2020.
Für Alleinerziehende gelten besondere Regelungen (vgl. "Mehrbedarfe für Alleinerziehende 2020").
Mehrbedarfe für Alleinerziehende 2020
Alter und Zahl der Kinder
in Prozent der Regelleistung
In Euro
1 Kind unter 7 Jahre
36 %
155,52
1 Kind ab 7 Jahre
12 %
51,84
2 Kinder unter 16 Jahre
36 %
155,52
2 Kinder
24 %
103,68
3 Kinder
36 %
155,52
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2020.
Der Gesamtbedarf des Haushalts bzw. der Bedarfsgemeinschaft errechnet sich aus der Summe der Regelleistungen zuzüglich der Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie möglicher Mehrbedarfe.
Die Abbildung "Anerkannte Bedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Bedarfsgemeinschaften" zeigt, wie hoch – jeweils im Durchschnitt der Empfänger - die anerkannten Gesamtbedarfe der Grundsicherung je nach Haushaushaltskonstellation bzw. dem Typ der Bedarfsgemeinschaft ausfallen. Je größer die Bedarfsgemeinschaft, umso höher auch der Gesamtbedarf. Die Beträge variieren (April 2020) zwischen 784 Euro im Monat für einen Single-Haushalt und 2.714 Euro für einen Haushalt mit drei und mehr Kindern. Diese Abweichungen beruhen sowohl auf den Unterschieden bei den Regelbedarfen, den Mehrbedarfen als auch bei den anerkannten Kosten der Unterkunft.
Es gibt also nicht "das" Einkommens- und Existenzminimum, sondern eine von der Haushaltskonstellation und Lebenssituation abhängige Bandbreite von Minima. Hinzu kommt, dass es sich bei den bundesdurchschnittlichen Kosten der Unterkunft um einen letztlich fiktiven Wert handelt. Da die Mieten einschließlich Nebenkosten regional und auch lokal erheblich voneinander abweichen, muss mit bundesweiten Durchschnittswerten gerechnet werden, um einen allgemeinen Eindruck über die Gesamtbedarfe zu erhalten. Aussagen über das konkrete Bedarfsniveau in Hochmietregionen lassen sich daraus nicht ableiten.
Ob also eine Person bzw. ein Haushalt, die bzw. der über ein nur geringes Einkommen verfügt, Anspruch auf aufstockende Leistung der Grundsicherung hat, hängt im hohen Maße von den örtlichen Gegebenheiten ab und ist nicht unmittelbar einsichtig. Häufig fehlen den Betroffenen genaue Informationen über die Bedarfshöhe einschließlich Kosten der Unterkunft, über das eigene Einkommen, über das verwertbare und anrechenbare Vermögen sowie über mögliche Unterhaltsansprüche.
Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.
Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee ist Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.