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Hartz IV: Grundsicherung für Arbeitsuchende | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de

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Hartz IV: Grundsicherung für Arbeitsuchende

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

/ 6 Minuten zu lesen

Die 2005 eingeführte Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) ist das mit Abstand wichtigste Teilsystem der Grundsicherung. Anspruchsberechtigt sind erwerbsfähige Hilfebedürftige zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze sowie deren Angehörige. Zu den knapp 5,5 Mio. Leistungsempfänger/-innen (2019) zählen neben Arbeitslosen auch Erwerbstätige, die eine Lohnaufstockung erhalten, und Hilfebedürftige, die zwar erwerbsfähig, aber nicht arbeitslos sind.

Graffiti zu den Hartz IV Gesetzen in Berlin (© picture-alliance/dpa)

Leistungen und Leistungsbedingungen

Erwerbsfähig ist, "wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein". Bezug genommen wird hier auf den rentenrechtlichen Begriff der vollen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI). Es ist also jede Person erwerbsfähig, deren volle Erwerbsminderung nicht festgestellt ist.

Anders als bei der vormaligen Arbeitslosenhilfe und den Regelungen des SGB III begrenzt sich der Empfängerkreis also nicht nur auf (registrierte) Arbeitslose, sondern eingeschlossen sind auch Erwerbstätige (Arbeitnehmer wie Selbstständige) sowie jene Personen, die zwar erwerbsfähig sind, aber nur eingeschränkt verfügbar sind oder denen Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird, z.B. wegen der Erziehung eines Kindes oder einer Krankheit.

Jugendliche unter 25 Jahren, die im Haushalt der Eltern leben, zählen zur Bedarfsgemeinschaft der Eltern. Bei der Gründung eines eigenen Haushaltes werden die Kosten von Unterkunft und Heizung ohne Zustimmung des Trägers nicht übernommen.

Im Unterschied zum Arbeitsförderungsrecht kennt das Arbeitslosengeld II keinen Einkommensschutz. Hilfesuchende unterliegen der Bedürftigkeitsprüfung und müssen die eigene Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die unterhaltsberechtigten Angehörigen einsetzen und bereit sein, jede Arbeit, soweit sie nicht gegen Gesetz oder die guten Sitten verstößt, aufzunehmen − also auch eine solche Arbeit, mit der ein gravierender sozialer Abstieg verbunden ist. Wird die Aufnahme einer Tätigkeit oder die Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen abgelehnt, greifen Sanktionen. Konzeption und Praxis der Sanktionen sind hinsichtlich Art, Ausmaß und Folgewirkungen hochumstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 2019 entschieden, dass rigide Sanktionen, die bis zum völligen Leistungsentzug geführt haben, nicht mehr zulässig sind.

Um einen Anreiz zur Aufnahme von Erwerbstätigkeit zu geben, werden bei der Einkommensanrechnung besondere Freibeträge für Erwerbseinkommen eingeräumt. Erwerbstätige Hilfeempfänger stellen sich dadurch in ihrem Gesamteinkommen immer etwas besser als nicht erwerbstätige Hilfeempfänger.

Durch Zahlung eines Kinderzuschlags, der als einkommensabhängige Leistung der Grundsicherung vorgelagert ist und das einkommensunabhängige Kindergeld aufstockt, soll vermieden werden, dass Bedarfsgemeinschaften allein wegen des Unterhaltsbedarfes für ihre Kinder Anspruch auf Arbeitslosengeld II und/oder Sozialgeld haben. Den Kinderzuschlag erhalten also Familien, in denen der Bedarf der Eltern aus eigenen Mitteln gedeckt werden kann.

Leistungen für Bildung und Teilhabe: Diese Leistungen richten sich an Kinder und Jugendliche um das menschenwürdige Existenzminimum im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe und Bildungsteilhabe sicherzustellen. Sie müssen beantragt werden und werden in der Regel als Sach- und Dienstleistungen, insbesondere in Form von personalisierten Gutscheinen oder Direktzahlungen an Anbieter von Leistungen, erbracht.

Leistungsempfänger

Ende 2018 gab es gut 5,8 Mio. Empfänger von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Im Jahr 2019 ist die Zahl auf 5,5 Mio. gesunken. Seit 2006 entwickelt sich die Zahl der Leistungsempfänger zwar rückläufig (vgl. Abbildung "Leistungsempfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Jahresdurchschnitt 2005 bis 2019"). Im Jahresdurchschnitt 2006 wurden noch 7,3 Mio. Personen gezählt. Angesichts der guten Arbeitsmarktlage und der deutlich gesunkenen Arbeitslosigkeit fällt der Rückgang aber nur schwach aus.

Leistungsempfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) 2005–2019 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Wie begrenzt die Entlastung ist, kommt deutlich zum Ausdruck, wenn man den Trend der Empfängerquote betrachtet (vgl. Abbildung "Empfängerquoten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Prozent der Bevölkerung"). Der Anteil der Leistungsempfänger an der Gesamtbevölkerung verringert sich lediglich von 10,9 Prozent (2006) auf 8,4 Prozent (2019). Immer noch ist damit deutschlandweit fast jede 12. Person im Alter unterhalb der Regelaltersgrenze auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen.

Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) 2005–2019 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Untergliedert man die Gesamtgruppe der Leistungsempfänger von ALG II und Sozialgeld nach Bedarfsgemeinschaften (vgl. Abbildung "Struktur der Bedarfsgemeinschaften mit Leistungen nach dem SGB II") zeigt sich für 2019, dass mehr als die Hälfte (55,2 Prozent) aller Bedarfsgemeinschaften aus Single-Haushalten besteht.

Struktur der Bedarfsgemeinschaften mit Leistungen nach dem SGB II 2019 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die Bedarfsgemeinschaften mit Kindern machen gut ein Drittel aller Bedarfsgemeinschaften aus, sie finden sich zu 16,2 Prozent bei (Ehe)Paaren und zu 18,1 Prozent bei Alleinerziehenden. Im Vergleich zu den Familienformen der Gesamtbevölkerung zeigt sich hier eine überproportionale Betroffenheit von Singles und Alleinerziehenden. Erklären lässt sich diese Struktur durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren:

  • In Single-Haushalten erfolgt kein Ausgleich durch ein Partner-Einkommen; bei Arbeitslosigkeit kommt es insofern schnell zur Hilfebedürftigkeit. Bei den Single-Haushalten handelt es sich zudem häufig um Jugendliche bzw. junge Erwachsene, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, häufig im Niedriglohnbereich beschäftigt sind und damit Anspruch auf aufstockendes Arbeitslosengeld II haben.

  • In Haushalten mit Kindern erhöhen die Unterhaltskosten den Bedarf, zugleich sinkt aber das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, wenn ein Elternteil – in der Regel die Mutter – die Erwerbstätigkeit reduziert oder unterbricht. Bei Alleinerziehenden mit Kindern kommt erschwerend hinzu, dass überhaupt nur ein Erwerbseinkommen zur Verfügung steht (eventuell ergänzt um Unterhaltsleistungen) oder dass dieses Einkommen entfällt, wenn wegen der Kindererziehung die Erwerbstätigkeit unterbrochen wird. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass die Unterhaltskosten des/der Kindes/er zu einem Teil über den Kinderzuschlag ausgeglichen werden. Ziel des Kinderzuschlags ist es, dass Eltern nicht allein wegen des Unterhalts der Kinder Leistungen des SGBII beziehen müssen.

Bei den Bedarfsgemeinschaften weist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit auch Empfängerquoten aus − bezogen auf die Zahl der entsprechenden Bedarfsgemeinschaften bzw. Haushalte in der Gesamtbevölkerung. Im besonderen Maße von der Grundsicherung abhängig sind (2019) Alleinerziehende und ihre Kinder: 35,4 Prozent aller Alleinerziehenden beziehen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (für ihre Kinder). Müssen drei und mehr Kinder versorgt werden, steigt die Hilfequote gar auf 67,3 Prozent. Bei (Ehe)Paaren mit Kindern hingegen liegt die Hilfequote erst dann über dem Durchschnittsniveau von 8,7 Prozent, wenn mehr als drei Kinder (19,3 Prozent) zu unterhalten sind. Ein deutlich geringeres Risiko tragen mit 2,5 Prozent Paare ohne Kinder.

Regionale Disparitäten

Das Ausmaß der Abhängigkeit von Leistungen nach dem SGB II hängt maßgeblich von der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Betroffenen ab: Arbeitslosigkeit, niedrige Erwerbseinkommen sowie Trennung, Scheidung und Alleinerziehen vergrößern die Hilfebedürftigkeit. Insofern kann es nicht verwundern, dass die Verteilung von SGB II-Leistungsempfängern nach Städten und Landkreisen ein großes Ungleichgewicht aufweist (vgl. Abbildung "Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach ausgewählten Städten und Kreisen 2019").

Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung in ausgewählten Städten und Kreisen 2019 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

In einzelnen wirtschaftlichen Krisengebieten – auch in den alten Ländern − liegen 2019 die Quoten bei über 20 Prozent, so in Bremerhaven bei 21,7 Prozent und in Gelsenkirchen bei 24,4 Prozent. Mehr als jeder fünfte bzw. sogar vierte Bewohner dieser Städte hat ein so niedriges Einkommen, dass Hartz IV Leistungen beansprucht werden müssen. In Süddeutschland hingegen, insbesondere in den Landkreisen, sind – absolut wie relativ (in Bezug auf die Bevölkerung) − nur wenige Menschen auf Hartz IV angewiesen, so u.a. in den bayerischen Kreisen Pfaffenhofen und Ostallgäu mit 1,2 Prozent bzw. 2,1 Prozent. Aber auch in den süddeutschen Großstädten liegen die Empfängerquoten unter dem Bundesdurchschnitt, so beispielsweise in Böblingen (4,1 Prozent), München (5,6 Prozent) oder Stuttgart (7,6 Prozent).

Verweildauer

Fragt man danach, wie lange Leistungen nach dem SGB II bezogen werden, also danach wie lange die Angewiesenheit auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld bereits andauert, wird sichtbar, dass sich 2019 nahezu die Hälfte der Empfänger (42,7 Prozent) bereits 4 Jahre und länger im Leistungsbezug befindet. Kurz- und mittelfristige Leistungsbezüge sind demgegenüber eher selten; 23,8 Prozent stehen weniger als 12 Monate im Leistungsbezug.

Die langfristige, sich über mehrere Jahre erstreckende Abhängigkeit von Hartz IV weist darauf hin, dass es für einen großen Personenkreis äußerst schwierig ist, den Leistungsbezug durch Erzielung eines ausreichenden Einkommens zu beenden. Bezieht man sich auf die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, so haben die Langzeitarbeitslosen, und hier insbesondere die Älteren und die Arbeitslosen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, trotz der günstigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, kaum eine Chance auf eine Eingliederung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. Unter den erwerbsfähigen Leistungsbeziehern befinden sich aber nicht nur Arbeitslose; auch viele Erwerbstätige erhalten, soweit sie bedürftig sind, (aufstockendes) Arbeitslosengeld II. Das gleiche gilt für bedürftige Alleinerziehende, denen wegen der Betreuung von Kleinkindern, Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird oder deren (Teilzeit)Einkommen sehr niedrig ist. In beiden Gruppen fällt die Zahl der Langzeitbezieher besonders hoch aus.

Weitere Inhalte

Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee ist Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.