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450 Euro Beschäftigung/Minijobs | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de

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450 Euro Beschäftigung/Minijobs

Ernst Kistler Gerhard Bäcker

/ 4 Minuten zu lesen

Nahezu 8 Millionen Menschen arbeiten auf der Grundlage eines Minijobs. Hier darf im Monat nicht mehr als 450 Euro verdient werden. Dies ist attraktiv, da keine Steuern und Beiträge gezahlt werden müssen. Aber auch die negativen Folgen sind zu beachten.

Eine Reinigungskraft putzt in einem Treppenhaus. Infolge des Ehegattensteuersplittings und der üblichen Steuerklassenwahl erweist sich ein Überschreiten der 450 €-Grenze für Ehefrauen als unattraktiv. (© picture-alliance, imageBROKER | Bernhard Classen)

Rund 4,9 Millionen Beschäftigte haben ein Hauptbeschäftigungsverhältnis mit einem Monatseinkommen von nur bis zu 450 Euro (vgl. Abbildung "Beschäftigte in Mini-Jobs 2003 bis 2019"). Die Begrenzung auf einen geringen Verdienst ist Folge spezieller steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Regelungen: Da das Einkommen aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis steuerfrei Ist und auch keine zwingenden Beiträge in der Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung anfallen, entsteht ein Anreiz, eine Erwerbstätigkeit als "Zuverdienst" ausüben.

Bei den Minijobs darf bei dauerhafter Beschäftigung das Arbeitseinkommen 450 Euro im Monat nicht übersteigen. Durch den Mindestlohn von 9,35 Euro in der Stunde (2020), errechnet sich eine maximale regelmäßige Arbeitszeit von 48,12 Stunden im Monat bzw. 11,2 Stunden in der Woche, bis zu der die Arbeitnehmer*innen keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, da ansonsten das Monatseinkommen über 450 Euro liegt.

Für diese Arbeitsverhältnisse gelten spezifische, vom regulären Arbeitsverhältnis abweichende sozialversicherungs- und steuerrechtliche Regelungen: Das Einkommen aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis ist steuerfrei, auch fallen keine Beiträge in der Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung an. In der Gesetzlichen Rentenversicherung besteht hingegen seit 2013 eine Versicherungs- und Beitragspflicht. Allerdings haben die Beschäftigten die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen (opt-out Regelung). Hingegen unterscheiden sich die arbeitsrechtlichen Regelungen und Ansprüche nicht, es besteht also u.a. ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf Bezahlung von Feiertagen und auf bezahlten Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz.

Die geringfügige Beschäftigung kann als Hauptbeschäftigung (ausschließlich geringfügig Beschäftigte) oder als Nebenbeschäftigung (im Nebenjob geringfügig Beschäftigte) ausgeübt werden. Für die Hauptbeschäftigten sind die Einkommen von bis zu 450 Euro die ausschließlichen Arbeitnehmereinkommen. Um die individuellen Arbeitnehmereinkommen der Nebenbeschäftigten zu ermitteln, müssen die Monatsverdienste aus Haupt- und Nebenbeschäftigung zusammengerechnet werden. Die Nebenbeschäftigung ist finanziell attraktiv, denn sie unterliegt im Unterschied zu einem steuer- und beitragspflichtigen Mehrverdienst beim Hauptarbeitgeber (Verlängerung der individuellen Arbeitszeiten oder Ableistung von Überstunden) keinerlei Abzügen .

Minijobs sind vor allem kostengünstige Beschäftigungsverhältnisse. Zwar liegen die Arbeitgeberbeiträge höher als bei versicherungspflichtigen Beschäftigten), aber zum einen sind die Stundenlöhne niedrig und zum anderen werden die kostenträchtigen Arbeitnehmerrechte im großen Maße umgangen. Empirische Befunde weisen darauf hin, dass vielen geringfügig Beschäftigten zentrale Arbeitnehmerrechte (wie Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Feiertagsvergütung, bezahlter Erholungsurlaub, Kündigungsschutz, Elternzeit und Pflegezeit) von den Betrieben vorenthalten werden. Einer Studie des IAB für das Bundesarbeitsministerium von 2015 ist zu entnehmen, dass die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall knapp der Hälfte der befragten Minijobber vorenthalten wird; beim Recht auf bezahlten Urlaub betrifft dies ein Drittel der geringfügig Beschäftigten . Sowohl auf Seiten der Beschäftigten als auch in den Betrieben zeigt sich in jeweils rund der Hälfte der Fälle der Nichtgewährung grundlegender Arbeitnehmerrechte, dass Beschäftigte und/oder Unternehmensverantwortliche die gesetzlichen Anforderungen nach eigener Aussage nicht kennen. Gleichzeitig werden die bestehenden Ansprüche und Rechte aber oft auch nicht eingefordert bzw. gewährt, obwohl sie bekannt sind .

Beschäftigte in Mini-Jobs 2003-2019 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Zwischen 2003 und 2019 ist die Zahl der Minijobs deutlich angestiegen – vor allem in den Jahren 2003 und 2004, dann bis 2013 langsamer und seither eigentlich nicht mehr. Betrug die Zahl der Minijobs im März 2003 noch etwa 5,6 Mio., so hat sie sich seitdem auf rund 7,8 Mio. (Dezember 2019) erhöht, darunter 4,9 Mio. im Hauptjob und 3 Mio. im Nebenjob. Vor allem die Zahl der im Nebenjob geringfügig Beschäftigten ist kontinuierlich angestiegen, während die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten seit etwa 2007 nahezu konstant geblieben ist.

Die Minijob-Regelungen für Hauptbeschäftigte wirken wie eine "gläserne Decke" hinsichtlich des Umfangs und auch der Qualität der Erwerbsbeteiligung. Dies gilt in erster Linie für die große Gruppe der ausschließlich geringfügig beschäftigten Ehefrauen, deren Arbeitseinkommen nach dem Modell der sog. modifizierten Versorgerehe einen "Zuverdienst" darstellt und deren materielle soziale Sicherung im Wesentlichen abgeleitet über den Ehemann erfolgt – in der Erwerbsphase durch Teilhabe am Einkommen des Ehemannes, im Alter über die Rente des Ehemannes bzw. die Hinterbliebenenversorgung und im Krankheitsfall über die Familienversicherung der GKV. Die ökonomischen Anreize verhindern, dass das Arbeitsangebot über ein höheres Stundenvolumen ausgeweitet wird und dass damit - über ein höheres Einkommen - ein finanziell eigenständiges, vom Ehemann unabhängiges Leben möglich wird.

Die Anreize, die geringfügige Beschäftigung nicht nur als kurzfristige Überbrückungs- und Übergangsphase (wie bei Personen in Ausbildung oder bei Rentner*innen) zu verstehen, sondern als "Normalität", werden deutlich, wenn man sich anschaut, wie sich das verfügbare Einkommen von Ehefrauen nach Überschreiten der 450 €-Schwelle entwickelt: Infolge des Ehegattensteuersplittings und der üblichen Steuerklassenwahl (Kombination von III und V) erweist sich ein Überschreiten der 450 €-Grenze als unattraktiv, da der Nettolohn zunächst sinkt (bei 451 werden nur noch 362 Euro ausgezahlt) und erst bei einem Brutto von etwa 600 Euro wird der Nettobetrag von 450 Euro wieder erreicht .

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Prof. Dr. rer. pol., geb. 1952; Direktor am INIFES.
E-Mail: E-Mail Link: info@inifes.de

Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.