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Einkommensumverteilung durch den Sozialstaat: steigender Handlungsbedarf

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

/ 4 Minuten zu lesen

Wenn über die Verteilungswirkungen des Sozialstaates diskutiert wird und Reformen eingefordert werden, ist es erforderlich, über eine gesicherte Datenbasis zu verfügen. Erste Analysen, die die Einkommensungleichheit vor und nach dem Wirksamwerden des Staates vergleichen, kommen zu dem Ergebnis, dass der Ausgleich der Bruttohaushaltseinkommen zwar merklich ist, aber zunehmend schwächer ausfällt.

Ausgang der U-Bahnstation Universität Essen. Die Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen und die Nutzung öffentlicher Einrichtungen sind nicht von der Höhe der Steuer- und Beitragszahlung abhängig. Jedoch profitieren ärmere Bevölkerungsgruppen weniger von Einrichtungen wie einer Universität, einem Theater oder einer Oper. (© picture-alliance, CHROMORANGE | Wilfried Wirth)

Inwieweit vermindert der Sozialstaat durch die Doppelwirkung von staatlichen Leistungen auf der einen, Steuer- und Beitragsabzügen auf der anderen Seite die Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung? Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Haushaltsmarkteinkommen mit den verfügbaren Haushaltseinkommen verglichen werden. Für die Messung der Umverteilungswirkungen von Abgaben an den Staat und staatlicher Transferleistungen werden verschiedene Indikatoren verwendet, die aber alle

  • nur relativ ungenau bzw.

  • isoliert betrachtet nur relativ unvollständig sind und zu Fehlinterpretationen führen können.

Die Ungenauigkeit beginnt bereits mit der mehrfach beklagten Unvollständigkeit der Messung der Einkommen von Personen bzw. Haushalten − insbesondere im Bereich der höchsten Einkommen. Wenn die Bezugsbasis (z. B. bei der Einkommensteuer) schon nicht stimmt, so sind sich daraus ergebende Quoten der Steuerbelastung automatisch ungenau. Wo − wie durch die Abgeltungssteuer − Einkommen aus Kapitalerträgen dem Finanzamt in ihrer Höhe zum größten Teil gar nicht bekannt werden, ist etwa die Errechnung einer Steuerlast mit den Daten der Steuerstatistik eigentlich ein vergebliches Bemühen. Als weitere Stichworte möge der Hinweis auf Schwarzgelder oder Schwarzarbeit (durch Arbeitnehmer*innen wie Gewerbetreibende) ausreichen.

Verteilungswirkungen von Realtransfers

Zwingend unvollständig ist die Messung und Diskussion von Umverteilungseffekten dort, wo große Bereiche der staatlichen Aktivitäten und Leistungen außerhalb der Betrachtung bleiben. Das gilt insbesondere für diejenigen Leistungen, die wie die öffentliche Infrastruktur und die sozialen Sach- und Dienstleistungen nicht in Geld ausgezahlt werden, sondern (weitgehend) kostenfrei in Anspruch genommen werden können. Ein Problem ist dabei, dass sich diese Realtransfers den Individuen oder Haushalten nur schwer zuordnen lassen. Auch ist es zweifelhaft, ob bei der Nutzung von Leistungen des Gesundheitssystems (z.B. Krankenhausaufenthalte) oder von Angeboten der Jugendhilfe (z.B. Inobhutnahme) wirklich von einem zurechenbaren geldwerten Vorteil gesprochen werden kann.

Da die Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen und die Nutzung öffentlicher Einrichtungen nicht von der Höhe der Steuer- und Beitragszahlung abhängig sind, sondern bedarfsbezogen erfolgen, könnte man erwarten, dass reale Transfers annähernd gleich verteilt werden. Doch es spricht auch viel für die Vermutung, dass gerade einkommensschwache Bevölkerungsgruppen von manchen Realtransfers unterproportional profitieren. Eine solche sozial selektive Inanspruchnahme öffentlicher Güter und Dienste ist u.a. eine Folge von

  • fehlenden formalen Voraussetzungen, da z.B. der Besuch einer Hochschule eine Hochschulzugangsberechtigung (Abitur) voraussetzt,

  • fehlenden finanziellen Voraussetzungen, wenn z.B. eine weiterführende Ausbildung an einer unzureichenden Ausbildungsförderung scheitert oder die Benutzung öffentlicher Kultureinrichtungen (Oper, Theater) durch die zwar subventionierten, aber immer noch hohen Eintrittspreise verhindert wird,

  • selektiven Angebotsstrukturen, wenn sich z.B. die medizinische, schulische und weitere infrastrukturelle Versorgung in "besseren" Wohnvierteln und Stadtteilen konzentriert,

  • mangelnder Bedarfsartikulation bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund von Informationsdefiziten oder eines schichtdifferenten Verhaltens (soziale Distanz gegenüber Ärzten oder Lehrern, soziale Unterschiede im Umgang mit Krankheiten).

Rückläufige Verringerung der Armutsbetroffenheit

Eine gängige Betrachtungsweise der Umverteilung durch den Staat ist die Frage, wie sich durch die (nur monetären) Sozialtransfers und die Abgaben die Armutsrisikoquoten verändern (vgl. Abbildung "Armutsrisikoquoten vor und nach Sozialtransfers").

Armutsrisikoquoten vor Sozialtransfers und Reduktion durch Sozialtransfers 1995–2017 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Es wird sichtbar, dass die Armutsrisikoquote bezogen auf die Bruttohaushaltseinkommen im Zeitverlauf gestiegen ist und dass diese Quote durch die Sozialtransfers merklich reduziert wird. Allerdings geht die Reduktion im Verlauf der Jahre zwischen 1995 und 2017 kontinuierlich zurück und liegt 2017 (je nach Datenquelle) nur noch bei etwa 30 Prozent.

Zur Analyse der Veränderung der Einkommensverteilung können auch die Gini-Koeffizienten als Maßgröße verwendet werden (vgl. Abbildung "Einkommensungleichheit von Markteinkommen und verfügbarem Einkommen von1991 bis 2015"). Auch hier lässt sich erkennen, dass die verfügbaren Einkommen deutlich gleichmäßiger verteilt sind als die Markteinkommen, dass sich aber im Zeitverlauf seit 1991 in beiden Fällen das Maß der Ungleichverteilung vergrößert hat.

Einkommensungleichheit von Markteinkommen und verfügbarem Einkommen 1991–2015 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die Tabelle "Gini-Koeffizienten des Markteinkommens bzw. der verfügbaren Äquivalenzeinkommen vor und nach Sozialleistungen" zeigt entsprechende Werte für den Euroraum und Deutschland im Vergleich der Jahre 2007 und 2015.

Gini-Koeffizienten des Markteinkommens bzw. der verfügbaren Äquivalenzeinkommen vor und nach Sozialleistungen 2007 und 2015 in Deutschland und in den Ländern der EU-19

Ohne und mit Renten/Pensionen

Gini-Koeffizienten der …EU-19Deutschland
2007201720072017
... Äquivalenzeinkommen vor Sozialleistungen (Renten/Pensionen in Sozialleistungen eingeschlossen)0,4930,5160,5440,564
... verfügbaren Äquivalenzeinkommen vor Sozialleistungen (Renten/Pensionen in Sozialleistungen nicht eingeschlossen)0,3500,3650,3730,291
... verfügbaren Äquivalenzeinkommen nach Sozialleistungen0,3000,3080,3040,295

Quelle: Eurostat 2017.

Die erste Zeile der Tabelle lässt eine sehr große Ungleichheit der Verteilung der verfügbaren Äquivalenzeinkommen (vor Abzug der direkten Steuern und vor Sozialleistungen) erkennen, wobei an dieser Stelle Renten und Pensionen zu den Sozialleistungen gerechnet werden, also in der Primärverteilung der Einkommen nicht enthalten sind. Es geht also um die rein "am Markt" erzielten Einkommen, was die hohen Gini-Koeffizienten erklärt. Die Ungleichverteilung ist in dieser Betrachtung in Deutschland höher als im Durchschnitt der EU-19-Länder und sie hat zwischen 2007 und 2015 in beiden Regionen zugenommen.

Rechnet man die Renten/Pensionen zu den Primäreinkommen (betrachtet sie also nur als quasi zeitverschobene Einkommen aus der Erwerbsphase) und bezieht die anderen monetären Sozialtransfers noch nicht mit ein, so reduzieren sich die Gini-Koeffizienten erheblich. Der Grund: Für den großen Anteil der Älteren stellen Renten und Pensionen den mit Abstand größten Teil ihrer Einkommen dar. In den Ländern des Euro-Raumes ist zwischen den Jahren 2007 und 2015 eine leichte Zunahme und in Deutschland eine leichte Abnahme der Gini-Koeffizienten auf dieser Ebene festzustellen.

Unter Einbeziehung von Renten/Pensionen sowie der anderen monetären Sozialleistungen (3. Zeile) reduziert sich die Ungleichheit der verfügbaren Äquivalenzeinkommen nochmals um ca. 5 Prozentpunkte beim Gini-Koeffizienten in EU-19 und ca. 7 Prozentpunkte in Deutschland. Der Umverteilungseffekt ist in Deutschland also etwas stärker. Er hat im Betrachtungszeitraum jedoch weder hierzulande noch im Durchschnitt der EU-19 zugenommen.

Diese Befunde zeigen, dass trotz eines erheblichen Mitteleinsatzes im Rahmen der sozialstaatlichen Umverteilung der Prozess der Einkommensspreizung zwar abgebremst aber zunehmend weniger ausgeglichen worden ist. Mit anderen Worten: Die Ausgleichsfunktion des Sozialstaates ist in den zurückliegenden Jahren unter zunehmenden Druck geraten. Da die Ungleichheit der Markteinkommen zugenommen hat, wird es immer schwieriger und aufwendiger eine nachträgliche Korrektur zu erreichen.

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Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.