Nach dem Ausbruch des SARS-CoV-2-Virus zu Beginn des Jahres 2020 wurde am 28. Februar entsprechend dem Pandemieplan des Bundes ein gemeinsamer Krisenstab des Bundesgesundheitsministeriums und Bundesinnenministeriums eingesetzt, der sich ab dem 3. März zweimal die Woche traf. Zu diesem Zeitpunkt wähnte so mancher den Aufbau eines Krisenstabs als reine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass sich das Virus auch in Deutschland flächendeckend etablieren sollte. Aber spätestens ab dem 16. März, als von der Bundesregierung und den Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer gemeinsam sukzessive weitreichende Entscheidungen getroffen wurden, die tief in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingriffen, war deutlich, dass sich Deutschland bereits mitten im Umbruch befand. Innerhalb kurzer Zeit wurden Großveranstaltungen verboten, öffentliche Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten geschlossen, Auflagen für und Schließungen von Bars, Restaurants, Geschäften, Sportstätten sowie anderen Betrieben angeordnet und sogar die Grenzen zu unseren Nachbarländern der Europäischen Union geschlossen. Deutschland befand sich im Ausnahmezustand.
Ebenfalls im Ausnahmezustand war die Wissenschaft, die mit einer für sie ganz neuen Situation konfrontiert wurde: Entscheidungsträgerinnen und -träger in Wirtschaft und Politik benötigten dringend wissenschaftliche Erkenntnisse, und zwar nicht, wie gewohnt, nach jahrelanger sorgfältiger Forschung und Diskussion, sondern unmittelbar, innerhalb weniger Tage. Dieser wissenschaftliche Druck traf insbesondere die Virologie und Epidemiologie, deren Erkenntnisse die medizinische Bekämpfung des Virus voranbringen und die Verbreitung von SARS-CoV-2 eindämmen sollten. Aber auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften standen schlagartig im Licht der Aufmerksamkeit. Denn welche Konsequenzen würden die getroffenen Maßnahmen kurz- und langfristig für die Menschen und das Zusammenleben in Deutschland haben? Neben dem Druck, zeitnah wissenschaftliche Erkenntnisse zu liefern, bedeutete die neue Situation aber auch, dass Informationen zu den Auswirkungen von Corona auf die Gesellschaft im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar wären, wenn sie nicht sofort und regelmäßig erhoben würden.
Belastbare Erkenntnisse in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beruhen oft auf statistischen Auswertungen amtlicher oder wissenschaftlicher Datenerhebungen, deren Verfahren nicht derart kurzfristig einsetzbar sind. Den Erhebungen der amtlichen Statistik liegen vorwiegend mehrstufige Meldeverfahren zugrunde, bei denen Menschen an verschiedenen Stellen Informationen ein- und weitergeben müssen. Während Statistiken aus diesen Meldeverfahren sehr genau sind, wird eine schnelle und konsistente Berichterstattung durch die vielen Schnittstellen erschwert. Wissenschaftliche Datenerhebungen hingegen beruhen meist auf Umfragen mit Personenstichproben. Damit die entsprechenden Statistiken allerdings aussagekräftig für die allgemeine Bevölkerung sind, muss eine Zufallsstichprobe eben dieser Population gezogen werden, ein Prozess, der je nach Verfahren und Stichprobengröße mehrere Monate bis zu einem Jahr in Anspruch nehmen kann. Hinzu kommt für viele etablierte Großerhebungen eine mehrmonatige Feldarbeitszeit mit persönlich-mündlichen Interviews in Haushalten vor Ort. Zudem verlangte in diesem Fall die Situation nach Vergleichswerten zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangslage vor der Coronakrise, denn nur so lässt sich feststellen, was eine durch Corona bedingte Ausnahme und was die Regel ist.
In den Medien und vermehrt auch in der Wissenschaft liest man zwar regelmäßig die Ergebnisse schnellerer Studien, die behaupten die allgemeine Bevölkerung "repräsentativ" abzubilden, allerdings basieren diese meist auf kommerziellen Online-Befragten-Pools, die eine Selbstselektion der Teilnehmenden erlauben und dadurch internetaffine, hoch gebildete Personen mittleren Alters erwiesenermaßen deutlich überrepräsentieren und somit die Bevölkerung durch die fehlende Zufallsstichprobe der Grundgesamtheit auch in anderen Merkmalen nicht akkurat abbilden. In ruhigeren Zeiten führen Schätzungen anhand dieser selektiven Online-Befragten-Pools lediglich zu Kritik an den Methoden. Während einer Krise sind solche fehlleitenden Schätzungen allerdings besonders gefährlich, wenn Entscheidungsträgerinnen und -träger ihre Maßnahmen danach ausrichten. Die Coronakrise hat ein Dilemma offenbart, nach dem verlässliche Bevölkerungsdaten überwiegend nicht in der notwendigen Schnelligkeit und Häufigkeit vorliegen, während uns schnelle unzuverlässige Daten überfluten, in einer Zeit, in der wissenschaftliche Evidenz dringend benötigt wird.
In dieser Situation entschied sich am 16. März 2020 ein Team an der Universität Mannheim, die Mannheimer Corona-Studie (MCS) – eine tägliche Datenerhebung basierend auf der Zufallsstichprobe, der Infrastruktur und den langfristig erhobenen Paneldaten des German Internet Panels (GIP) – ins Leben zu rufen, um so den wissenschaftlichen Zwiespalt zwischen verlässlichen Längsschnittdaten der Bevölkerung und schneller, häufiger Datenerhebung zeitnah zu überbrücken. Über 16 Wochen, vom 20. März bis zum 10. Juli 2020, erhob die Mannheimer Corona-Studie täglich wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Individualdaten dazu, wie die Coronakrise das Leben der Menschen in Deutschland veränderte. Die Erkenntnisse der Studie wurden prominent durch die Medien aufgegriffen und im Krisenstab, vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie dem Bundesinnenministerium angehörigen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) genutzt (siehe auch Interner Link: Kapitel 14.3).
In diesem Kapitel werden die MCS-Daten verknüpft mit den langfristigen GIP-Daten analysiert, um auf diese Weise die sich verändernde Beschäftigungssituation der Erwerbstätigen in Deutschland während der frühen Phase der Coronakrise zu skizzieren. Insbesondere werden Geschlechter-, Bildungs- und Einkommensunterschiede beleuchtet, vor allem in Bezug auf die Betroffenheit von Kurzarbeit und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten.
Autor(en): Annelies G. Blom, Katja Möhring, Universität Mannheim Herausgeber: WZB / SOEP