Wie würde die Einkommensverteilung in Deutschland aussehen, wenn alle das Bruttoeinkommen erhalten würden, welches sie als gerecht erachten? In der Befragung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) wurde nicht nur danach gefragt, ob das eigene Einkommen als gerecht wahrgenommen wird, sondern auch nach der Höhe, die das eigene Einkommen haben müsste, um gerecht zu sein. Für Personen, die ihr Einkommen als gerecht bewerten, sind tatsächliches und gerechtes Einkommen identisch, für alle anderen unterscheidet sich der gerechte vom tatsächlichen Einkommensbetrag. Berechnet man aus diesen Angaben eine aus Perspektive der Befragten "gerechte" Einkommensverteilung, kann diese mit der tatsächlichen Einkommensverteilung verglichen werden. Der Vergleich in Abbildung 4 zeigt, dass eine solche "gerechte" Einkommensverteilung gegenüber der realen Verteilung leicht nach rechts verschoben ist, die Beschäftigten in Deutschland in einer "gerechten" Welt also mehr Gehalt für ihre Arbeit bekommen würden. Besonders deutlich ist diese Verschiebung bei Personen mit niedrigen und mittleren Einkommen. In ihrem Verlauf sind die beiden Einkommensverteilungen dagegen weitestgehend identisch.
Gerechtigkeitsbewertung der Einkommensverteilung
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Die Verteilung auf Basis "gerechter" persönlicher Einkommen folgt offenbar keinem Gleichheitsideal. Auch wenn alle befragten Beschäftigten das Einkommen bekämen, das sie für sich persönlich als gerecht bewerten, würde es nach wie vor deutliche Einkommensungleichheiten in Deutschland geben. Dies spiegelt sich auch in der vergleichsweise geringen Zustimmung für das Gleichheitsprinzip und der hohen Zustimmung zum Leistungsprinzip wider, die in den europäisch vergleichenden Daten sichtbar wurden. Hier sei jedoch angemerkt, dass für die Berechnung der "gerechten" Einkommensverteilung nur berücksichtigt wurde, welches Einkommen Erwerbstätigte in Deutschland für sich selbst als gerecht betrachten würden. Bei der Frage, wie gerecht die Einkommensverteilung in Deutschland ist, geht es hingegen nicht nur um das eigene Einkommen, sondern auch um die Einkommen anderer. Auch wenn ich mich selbst gerecht entlohnt fühle, kann ich ungerecht finden, was andere Menschen um mich herum verdienen.
In der 2018 / 2019 erhobenen 9. Welle des European Social Survey (ESS) wurden alle Befragten gebeten, jeweils anzugeben, wie sie niedrige und hohe Einkommen in ihrem Land bewerten. Dazu sollten die Befragten an die untersten und obersten 10 % der höchstverdienenden Vollzeitbeschäftigten denken. Zusätzlich wurden ihnen Informationen zu den tatsächlichen Bruttoeinkommen dieser Gruppe präsentiert. In Deutschland waren die entsprechenden Einkommensgrenzen "über 5.800 Euro" für hohe Einkommen und "unter 1.700 Euro" für niedrige Einkommen. Zur Bewertung verwendeten die Befragten eine 9-stufige Skala, die von – 4 "niedrige Einkommen, äußerst ungerecht" über 0 "gerechtes Einkommen" bis + 4 "hohe Einkommen, äußerst ungerecht" verläuft. Negative Werte zeigen an, dass die Einkommen als ungerechterweise zu gering bewertet werden, während positive Werte anzeigen, dass die Einkommen als ungerechterweise zu hoch bewertet werden.
In den Abbildungen 5 und 6 ist die durchschnittliche Bewertung für verschiedene Länder dargestellt. In ganz Europa wurden niedrige Einkommen im Schnitt als ungerecht und zu niedrig bewertet, hohe Einkommen als ungerecht und zu hoch. Allerdings ist das Ausmaß der empfundenen Ungerechtigkeit in Bezug auf niedrige Einkommen deutlich stärker. Deutschland liegt hier mit einem Wert von – 2,2 im europäischen Mittelfeld. Am geringsten wurden niedrige Einkommen in Tschechien und Finnland als ungerecht eingestuft. Am stärksten wurde die Ungerechtigkeit dagegen in Bulgarien und Zypern empfunden. Hohe Einkommen wurden in Deutschland mit einem Durchschnitt von 0,5 nur in geringem Maße als ungerecht bewertet. Hier gehört Deutschland im europäischen Vergleich eher zu den Ländern, die wenig Ungerechtigkeit bezüglich des oberen Endes der Einkommensverteilung äußern. In Italien und Österreich war die Ungerechtigkeitswahrnehmung hoher Einkommen fast dreimal, in Zypern fast viermal so hoch wie in Deutschland. Übereinstimmend findet sich in diesen drei Ländern eine im Vergleich zu Deutschland deutlich höhere Präferenz für das Gleichheitsprinzip.
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