Im Folgenden wird ein übergreifendes Bild der Sozialstruktur der Bundesrepublik präsentiert, das auf die Konzepte der sozialen Lagen und der subjektiven Schichteinstufung zurückgreift. Für die Unterscheidung von sozialen Lagen wird die erwachsene Bevölkerung nach Alter (bis 60 Jahre, ab 61 Jahren) sowie nach ihrer Stellung zum und im Erwerbsleben aufgegliedert. Daraus ergeben sich insgesamt 18 soziale Lagen von Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen, die zunächst für Männer und Frauen getrennt dargestellt werden. Im Blickpunkt dieses Kapitels steht die Sozialstruktur im Jahr 2018 in West- und Ostdeutschland. Durch den Vergleich mit dem Jahr 1990 können zudem die Richtung des sozialen Wandels insgesamt sowie insbesondere die sozialstrukturellen Veränderungen in Ostdeutschland in der Zeit seit der deutschen Vereinigung betrachtet werden. Dabei richtet sich das Interesse vor allem darauf, inwieweit soziale Lagen einerseits mit objektiven Lebensbedingungen einhergehen und andererseits mit subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen verbunden sind.
Soziale Lagen in Deutschland
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Die massiven Umwälzungen, die nach 1990 auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt stattfanden, brachten weitreichende Konsequenzen für die Sozialstruktur mit sich. Während sich die DDR als vollbeschäftigte Arbeitsgesellschaft charakterisieren ließ, folgten für einen erheblichen Teil der ehemals Erwerbstätigen im Verlauf der gesellschaftlichen Transformation nach der deutschen Vereinigung ungewollte Lebensphasen in Arbeitslosigkeit, Vorruhestand und Hausfrauenrolle. Im Zeitverlauf näherten sich die Beschäftigungsstrukturen in Ostdeutschland denen in Westdeutschland an.
Die Sozialstruktur Westdeutschlands veränderte sich im Vergleich dazu seit 1990 nur leicht. Die größte Ausnahme stellt die gestiegene Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben dar: Der Anteil der Hausfrauen ging seit 1990 um drei Viertel zurück. Parallel dazu stieg der Anteil von Frauen in qualifizierten und hoch qualifizierten Angestelltenpositionen deutlich an. Die Hausfrauenrolle ist aber auch heute noch in Westdeutschland weiter verbreitet als in Ostdeutschland. Angesichts des demografischen Wandels nahm der Anteil an Rentnerinnen und Rentnern im Vergleich zu 1990 deutlich zu.
In beiden Landesteilen dominieren unter den Erwerbstätigen die Angestellten sowie Beamtinnen und Beamten. Während die alte Bundesrepublik bereits über einen längeren Zeitraum als eine "Angestelltengesellschaft" bezeichnet wurde, löste sich die ausgeprägte "Facharbeitergesellschaft" der damaligen DDR weitgehend auf, wenngleich bei den Männern Facharbeiterpositionen immer noch stärker und Angestelltenpositionen weniger verbreitet sind als in Westdeutschland.
Je nach sozialer Lage bieten sich unterschiedliche Chancen zur Lebensgestaltung. Die Ungleichheit in den objektiven Lebensbedingungen, die sich aus der Zugehörigkeit zu den hier unterschiedenen sozialen Lagen ergibt, äußert sich unter anderem in Einkommensunterschieden, im allgemeinen Lebensstandard – zum Beispiel gemessen am Wohneigentum – sowie in der Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage. Dabei zeigt sich, dass mit einer höheren Position in der hierarchischen Gesellschaftsstruktur erwartungsgemäß auch eine vorteilhaftere materielle Situation verbunden ist. Hoch qualifizierte oder leitende Angestellte und Beamte sowie Selbstständige befanden sich überdurchschnittlich oft im oberen Segment der Einkommensverteilung, während die Zugehörigkeit zu Arbeiterpositionen eher mit einem mittleren oder niedrigen Einkommen verbunden war. Am schlechtesten war es um die Einkommenssituation von Arbeitslosen bestellt; diese fanden sich insbesondere in Ostdeutschland nahezu ausschließlich im untersten Einkommensquintil wieder. Vergleicht man die finanzielle Situation in Ost- und Westdeutschland, zeigt sich, dass Ostdeutsche in nahezu allen sozialen Lagen gegenüber Westdeutschen deutlich schlechter gestellt waren. Lediglich bei un- und angelernten Arbeiterinnen und Arbeitern, Selbstständigen und Nichterwerbstätigen gab es nur geringe Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen.
Wohneigentum verdeutlicht als relevanter Indikator für den allgemeinen Lebensstandard, dass mit den differenzierten sozialen Lagen auch Unterschiede in den Möglichkeiten der Ressourcenverwendung einhergehen: In Ost- und Westdeutschland fanden sich unterdurchschnittliche Eigentümerquoten bei wenig qualifizierten Arbeiterinnen und Arbeitern, Angestellten und Beamten, bei Studierenden, Nichterwerbstätigen und vor allem bei Arbeitslosen.
Die ungleichen materiellen Verhältnisse, die mit diesen sozialen Lagen verbunden sind, spiegeln sich auch in der subjektiven Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Situation wider. Während Personen in privilegierten sozialen Lagen ihre wirtschaftliche Situation vorwiegend als "sehr gut" oder "gut" bewerteten, fiel die Bewertung bei Personen in schlechteren sozialen Lagen erwartungsgemäß weniger günstig aus. Erneut besteht zwischen Arbeitslosen und allen anderen sozialen Lagen eine deutliche Kluft. In Ostdeutschland bewerteten darüber hinaus auch Personen im Vorruhestand ihre wirtschaftliche Lage nur selten als "sehr gut" oder "gut".
Die subjektive Beurteilung des eigenen Anteils am allgemeinen Lebensstandard als "gerecht" (beziehungsweise "ungerecht") variiert ebenfalls nach sozialer Lage. Es zeigt sich, dass vor allem Arbeitslose, aber auch Personen in einfachen Arbeiter- oder Angestelltenpositionen sowie Facharbeiterinnen und Facharbeiter in Ostdeutschland seltener als andere einen gerechten Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand zu erhalten glaubten. Nur 44 % der Arbeitslosen in Westdeutschland und 16 % in Ostdeutschland betrachteten ihren Anteil am Lebensstandard als gerecht. In Ostdeutschland betrachteten auch ältere Menschen mit Ausnahme der ehemaligen Angestellten und Beamten ihren Anteil am Lebensstandard vergleichsweise selten als gerecht. Grundsätzlich sahen Ostdeutsche über fast alle Lagen hinweg ihren Lebensstandard im Vergleich zu Westdeutschen seltener als gerecht an.
Die einzelnen sozialen Lagen repräsentieren auch unterschiedliche soziale Positionen in der subjektiv wahrgenommenen vertikalen Gliederung der Gesellschaft, wie an der Selbsteinstufung auf der "Unten-oben-Skala" (1 bis 10) abzulesen ist. Am höchsten ordneten sich erwartungsgemäß leitende und höhere Angestellte und Beamte, Selbstständige sowie Meisterinnen und Meister ein, aber auch diejenigen, die in ihrem zurückliegenden Erwerbsleben eine solche Position ausgeübt hatten (Rentnerinnen und Rentner) oder den Aufstieg in eine entsprechende Position für die Zukunft erwarteten (noch in Ausbildung). Am unteren Ende ordneten sich dagegen einfache Angestellte, (ehemalige) un- und angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Arbeitslose, Nichterwerbstätige und Personen im Vorruhestand, aber auch Facharbeiterinnen und Facharbeiter ein. Die Differenz zwischen den sozialen Lagen mit der höchsten und niedrigsten Einstufung betrug in beiden Landesteilen fast drei Skalenpunkte. In den meisten sozialen Lagen stuften sich Ostdeutsche und Westdeutsche ähnlich ein. Insbesondere Personen im Vorruhestand und ehemalige Selbstständige, aber auch leitende Angestellte und noch erwerbstätige ältere Menschen stuften sich im Westen deutlich höher ein als im Osten. Meisterinnen und Meister sowie Vorarbeiterinnen und Vorarbeiter hingegen stuften sich in Ostdeutschland höher ein.
Die allgemeine Lebenszufriedenheit ist das bilanzierende Maß der Bewertung aller Lebensumstände. Hier wird noch deutlicher als bei der wahrgenommenen sozialen Position in der gesellschaftlichen Hierarchie, dass mit den verschiedenen sozialen Lagen auch ein unterschiedlich hohes Niveau an Lebensqualität verbunden ist. Auch hier betrug die Differenz zwischen den sozialen Lagen mit der höchsten und niedrigsten Einstufung 2,5 Skalenpunkte in Westdeutschland und sogar mehr als 3 Skalenpunkte in Ostdeutschland. Tendenziell ist die Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland etwas geringer als in Westdeutschland. Selbstständige hingegen gaben in Ostdeutschland deutlich höhere Zufriedenheitswerte an als in Westdeutschland.
Auch bezüglich der Erwartungen an zukünftige Entwicklungen zeigen sich deutliche Unterschiede nach sozialer Position. Insbesondere Arbeitslose, einfache Angestellte, (ehemalige) Arbeiterinnen und Arbeiter, Facharbeiterinnen und Facharbeiter sowie Meisterinnen und Meister blickten pessimistisch in die Zukunft. Sie waren zu großen Teilen der Ansicht, so wie die Zukunft aussehe, könne man es kaum noch verantworten, Kinder auf die Welt zu bringen. Personen in leitenden und hoch qualifizierten Angestelltenpositionen sowie Selbstständige teilten diese Ansicht hingegen eher selten. Zudem war Zukunftspessimismus in Ostdeutschland über nahezu alle sozialen Lagen hinweg weiter verbreitet als in Westdeutschland. Nur Studierende und Auszubildende im Osten schätzten die Zukunft optimistischer ein als im Westen.