Die aktuelle Situation
Der Ausbruch der Covid-19 Pandemie hat Ägypten hart getroffen. Der internationale Tourismus, wichtige Einnahmequelle für Millionen Ägypter, wurde nahezu vollständig lahmgelegt. Obgleich die offiziellen Infektions- und Todeszahlen im internationalen Vergleich relativ niedrig sind, wird die Pandemie die ohnehin schon schwierige sozioökomische Lage und damit die allgemeine Konfliktanfälligkeit des Landes weiter verschärfen. Schon vor der Pandemie mussten 27% der Ägypter mit weniger als 3,20 US-Dollar pro Tag auskommen. Beobachter befürchten pandemiebedingt einen weiteren Anstieg der Armutsrate
Trotz massiver Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte hat die Gefahr terroristischer Anschläge in Ägypten nicht abgenommen. Diese richten sich überwiegend gegen staatliche Einrichtungen, wie Polizeistationen und Militärposten, aber auch gegen Kirchen und Moscheen, mit Hunderten von Opfern. Allein 2020 haben bereits mehrere schwere Attentate stattgefunden. Bei einem Anschlag von Islamisten auf der Sinai-Halbinsel am 30. April 2020 wurden zehn Armeeangehörige getötet. Der "Islamische Staat" (IS) bzw. dessen lokaler Ableger "Wilayat Sina", übernahm in den meisten Fällen die Verantwortung für die Angriffe.
Als Reaktion töteten Spezialeinheiten Anfang Mai 2020 im nördlichen Sinai nach Angaben des Innenministeriums 18 Terroristen, bereits am 16. März 2020 waren sechs und am 11. Februar 2020 weitere 17 Terroristen in Feuergefechten im Bezirk Obeidat in Arish nahe der Grenze zum Gaza-Streifen erschossen worden. Allerdings bezeichnet die Regierung undifferenziert nahezu alle Aufständischen, manchmal auch die beduinischen Einwohner des Sinai, pauschal als "Terroristen". Der Anti-Terror-Kampf wird bewusst mit dem vergleichbar rabiaten Vorgehen gegen örtliche Mafiaclans und kriminelle Netzwerke vermischt.
Wer immer sich kritisch über die Regierung äußert, muss wegen "Gefährdung der staatlichen Sicherheit" oder "Unterstützung von Terrorismus" mit langen Gefängnisstrafen oder gar der Todesstrafe rechnen. Nach Schätzungen von Amnesty International darben zwischen 40.000 und 60.000 politische Häftlinge in überfüllten Gefängnissen.
Ein inneres und regionales Stabilitätsrisiko stellt die Verwicklung Ägyptens in die Konflikte in den Nachbarländern dar: Libyen, Sudan und Jemen. Gerade die rund 1.000 km lange Grenze zu Libyen gilt als wichtiger Schmuggelweg für Waffen, Söldner und Terroristen. Organisationen wie al-Qaida oder der IS haben in Libyen sichere Rückzugsräume gefunden. Präsident Abdel Fattah al-Sisi kündigte im Juni 2020 an, dass sich die ägyptische Armee auf eine eigene "Militärmission" in Libyen einstellen müsse – eine Drohung, die der libysche Regierungschef Fayez al-Sarraj umgehend als illegitime Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes verurteilte.
Der Konflikt mit den südlichen Anrainerstaaten um Nutzungsrechte des Nilwassers macht die existenzielle Abhängigkeit Ägyptens mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung (über 100 Mio.) in dramatischer Weise deutlich. Insbesondere das äthiopische Staumauerprojekt "Grand Ethiopian Renaissance Dam" (GERD) lässt in Ägypten die Furcht vor sinkenden Pegelständen wachsen. Dadurch dürften sich die Dürreperioden weiter verschärfen. Die Regierung forderte im Juni 2020 den UN-Sicherheitsrat auf, Äthiopien daran zu hindern, ohne eine vertragliche Einigung einseitig mit der Auffüllung des GERD-Reservoirs zu beginnen.
Ursachen und Hintergründe des Konflikts
Das Ende des Regimes von Hosni Mubarak (Amtszeit 1981-2011) war ein hoffnungsvoller Moment für alle Ägypter, die sich nach einem freien, demokratischen und gerechten Ägypten sehnen. Die verkrusteten staatlichen Strukturen, getragen von der in viele Bereiche hineinregierenden Armee und einer aufgeblähten, ineffizienten Bürokratie, schienen plötzlich überwindbar. Dies war eine Illusion. Heute sind weitgehend dieselben Kräfte an den entscheidenden Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wie unter Mubarak und den Regimen davor.
Die wichtigste Ursache der innerstaatlichen Konflikte in Ägypten ist die starke Trennung und Polarisierung zwischen Unterstützern und Kritikern des Regimes ohne Möglichkeiten einer demokratischen Konfliktschlichtung. Oppositionelle aus dem islamistischen, dem liberalen sowie linken Spektrum, darunter Studierende, Professorinnen und Professoren, Künstler und Medienschaffende, werden gleichermaßen verfolgt. Die Regierung hat seit 2011 mindestens 19 neue Gefängnisse errichten lassen, in denen Folter und Misshandlung von Gefangenen weit verbreitet sind. Viele der Aktivisten des Arabischen Frühlings 2011 wurden mit drakonischen Gefängnisstrafen belegt, teilweise für Kommentare in sozialen Medien. Strafbar ist die Beteiligung an Demonstrationen, egal ob gegen steigende Preise der Kairoer U-Bahn oder die drastischen Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit.
Der Kampf zwischen dem Regime und der Muslimbruderschaft hat nach dem einjährigen Intermezzo der Herrschaft von Präsident Mohamed Mursi (2012-2013) wieder stark an Bedeutung gewonnen. Präsident Abdel Fattah al-Sisi wirft der Muslimbruderschaft religiösen Extremismus und Staatsgefährdung vor und präsentiert sich selbst als Verteidiger des echten, gemäßigten Islams. Die oftmals pauschale Stigmatisierung von Anhängern der Muslimbruderschaft sowie liberalen und säkularen Regierungskritikern als "Terroristen" verhindert eine konstruktive und inklusive Lösung der Konflikte.
Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen Spielräume des Regimes für die Finanzierung des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystems immer enger. Ägypten hat wirtschaftlich jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt. Externe Einkünfte wie die Schifffahrtsgebühren aus dem Suez-Kanal, Einnahmen aus dem Tourismus, die Rücküberweisungen von Auslandsägyptern und großzügige Unterstützung von Partnerländern und -organisationen halfen, die strukturellen Defizite der Volkswirtschaft einigermaßen auszugleichen.
Die aktuelle Covid-19-Pandemie macht die Versäumnisse schlagartig sichtbar. Konflikttreibend ist vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen. 2019 lag die offizielle Arbeitslosenquote bei 11,29%, unter den 15-29-Jährigen, die etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen, gelten sogar 31,3% als beschäftigungssuchend.
Ein Großteil der ärmeren Schichten verdingt sich als Tagelöhner oder im informellen Sektor, hat also keinen Schutz gegen Ausbeutung oder Verdienstausfälle bei Krankheit, Verletzungen oder Wirtschaftsflauten. Sinkende Direktinvestitionen aus dem Ausland (FDIs) reduzierten sich im Zeitraum Juli 2018 bis März 2019 von 6,2 Mrd. US-Dollar auf 4,6 Mrd. US-Dollar.