Verschleppte Konflikte und hybride Staatlichkeit im post-sowjetischen Raum
Eine schnelle Lösung der verschleppten Konflikte an der russischen Peripherie ist unwahrscheinlich. Das liegt vor allem daran, dass Russland die Konflikte für seine geopolitischen Interessen instrumentalisiert. Wie die internationale Gemeinschaft damit umgehen soll, wird im Westen kontrovers diskutiert.
Von März 1990 bis zur Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 erklärten sich nicht nur die Sowjetrepubliken, sondern auch einige ihrer Teilgebiete für unabhängig. Die tiefe Wirtschafts- und Gesellschaftskrise heizte ethnische Spannungen an, von denen mehrere in Gewaltkonflikte eskalierten – zwischen Armenien und Aserbaidschan, in der Republik Moldau, in Georgien, Russland und Tadschikistan [Link zum Konfliktporträt Tadschikistan]. Einige schwelen bis heute – sie sind "verschleppte Konflikte". Im besten Fall – wenn die Waffen schweigen – sind sie "eingefroren".
In den meisten Fällen wollten sich ethnische Minderheiten von den neu entstehenden Staaten abspalten: Berg-Karabach von Aserbaidschan, Südossetien und Abchasien von Georgien, Transnistrien von der Moldau und Tschetschenien von Russland. Da die Unabhängigkeitsbestrebungen der Republiken anti-sowjetisch und ethno-nationalistisch aufgeladen waren, fühlten sich diese Minderheiten bedroht und widersetzten sich der Vereinnahmung durch die Titularnation.
In diesem Widerstand wurden sie von pro-sowjetischen bzw. pro-russischen Kräften unterstützt, die sich gegen den Zerfall stemmten. Ihr Spektrum reichte von offiziellen Sicherheitskräften über irreguläre Milizen, teilweise aus Russland unterstützt, bis hin zu politischen Abenteurern. Moskau nutzte schon frühzeitig Friedenstruppen als Instrument, um unter seiner Ägide ausgehandelte Waffenstillstände zwischen den Konfliktparteien seinen Interessen gemäß durchzusetzen und abzusichern (Malek 1998/ Zagorski 1996).


Alle genannten Konfliktgebiete verfügen heute über staatliche Attribute wie Parlamente, Regierungen, Sicherheitskräfte usw. Sie sind aber dennoch, was man gemeinhin Satellitenstaaten nennt. Ihre Staatlichkeit ist begrenzt beziehungsweise hybrid, denn einige staatliche Funktionen (wie der Grenzschutz) werden von einer Schutzmacht übernommen. In Berg-Karabach war das bisher Armenien, in den übrigen Gebieten Russland. Bei den Schutzmächten liegt auch der Schlüssel zur Konfliktlösung. Russland spielt dabei eine Doppelrolle: Es präsentiert sich als Vermittler, ist aber gleichzeitig Konfliktpartei.


Berg-Karabach


Noch im Rahmen der KSZE (später OSZE) wurde 1992 die Minsk-Gruppe etabliert, um unter dem Ko-Vorsitz Frankreichs, Russlands und der USA eine Konfliktlösung zu ermöglichen. Nach zwei Jahren Kriegshandlungen vermittelte Russland 1994 einen Waffenstillstand. Seit 1995 führt ein OSZE-Sondergesandter punktuelle Inspektionen an der Waffenstillstandslinie durch. Gleichzeitig hat Russland Armenien und Aserbaidschan mit Rüstungsgütern beliefert.
Im September 2020 eskalierte der Konflikt erneut in einen 44-Tage-Krieg, in dem Aserbaidschan die Oberhand gewann. Dabei erhielt es Unterstützung durch die Türkei, die sich in Konkurrenz zu Russland als Regionalmacht etablieren möchte. Am 10. November führte Russland ein trilaterales Waffenstillstandsabkommen mit Armenien und Aserbaidschan herbei, das durch russische Friedenstruppen abgesichert werden soll. Armenien hat sich verpflichtet, seine Streitkräfte auf sein eigenes Staatsgebiet zurückzuziehen. An seiner statt wird Russland die Schutzmacht in Berg-Karabach.
Abchasien und Südossetien


Als die ethno-nationalistische Mobilisierung in Georgien zunahm, sagte sich 1992 auch die Autonome Sowjetrepublik Abchasien los. Der abchasische Bevölkerungsanteil lag dort bei 20 %, der georgische bei 45 %. Der Unabhängigkeitskonflikt war blutig, am Ende war ein Großteil der Georgier geflohen oder vertrieben. Zwei Waffenstillstandsvereinbarungen (1993 und 1994) führten zur Entsendung einer russischen Friedenstruppe und einer UN-Beobachtermission.
Nach 2004 schlug der neue georgische Präsident Saakaschwili in beiden Konflikten eine härtere Gangart ein. Gleichzeitig nahm er Kurs auf eine Mitgliedschaft in NATO und EU. Die Spannungen stiegen. Als Gefechte und militärische Aktivitäten an den Waffenstillstandslinien derart zunahmen, dass sie in Georgien als Vorzeichen eines bevorstehenden Angriffs interpretiert wurden, befahl Saakaschwili im August 2008 den Einmarsch in Südossetien. Dort geriet auch die russische Friedenstruppe unter Feuer. Dies löste den georgisch-russischen Fünf-Tage-Krieg aus, in dem Georgien unterlag. Moskau erkannte die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an und verhinderte die Verlängerung der Missionen von OSZE und UN. Stattdessen verstärkte Russland seine eigene militärische Präsenz und übernahm den Grenzschutz zum georgischen Kernland.
Seit Herbst 2008 finden in Genf Internationale Diskussionen unter dem Vorsitz von UN, OSZE und EU statt. Daran nehmen Georgien, Russland, die USA und Vertreter beider Gebiete teil. Die Europäische Union hat eine Beobachtermission (EUMM) entsandt, die aber nur auf der georgisch kontrollierten Seite der Verwaltungsgrenze patrouillieren kann. Obwohl der Waffenstillstand hält, kommt es immer wieder zu Spannungen.
Transnistrien


Im September 1990 erklärte sich Transnistrien zur Sowjetrepublik und schuf eigene staatliche Strukturen. Nachdem die Republik Moldau 1991 unabhängig wurde, führte dies zum bewaffneten Konflikt. Dabei wurde Transnistrien von der 14. Armee unterstützt. Infolge eines Waffenstillstands unter russischer Vermittlung wurde eine trilaterale moldauisch-transnistrisch-russische Friedenstruppe aufgestellt.
Die internationale Konfliktbearbeitung erfolgt in einem 5+2-Format. Ihm gehören die beiden Konfliktparteien, Russland, die Ukraine und die OSZE sowie seit 2005 als Beobachter die EU und die USA an. Zuvor hatte Russland 2003 mit dem Kosak-Memorandum eine Lösung im Alleingang gesucht. Dabei sollte Transnistrien als föderales Subjekt einer neutralen Republik Moldau starke Einfluss- und Vetorechte erhalten. Die Initiative scheiterte, und auch die 5+2-Verhandlungen stagnierten.
Seit 2014 ist die Republik Moldau mit der EU assoziiert. Die transnistrischen Exporteure können am Freihandel mit der EU teilhaben – unter der Bedingung, dass sie sich in der Republik registrieren und die offiziellen Exportzertifikate verwenden. Inzwischen gehen mehr Exporte Transnistriens in die EU als nach Russland, insbesondere nach Rumänien (Necsutu 2019).
Von allen verschleppten Konflikten ist dieser inzwischen der entspannteste. Der Waffenstillstand hält, die Zusammenarbeit verläuft pragmatisch – nur am politischen Status Quo hat sich wenig geändert.
Krim und Ostukraine


Als der ukrainische Präsident Janukowitsch im Februar 2014 infolge der Proteste des Euro-Maidans die Flucht nach Russland ergriff, besetzten russische Sicherheitskräfte – als "Grüne Männchen" getarnt – die Krim. Aufgrund eines hastig anberaumten "Referendums", das keinerlei internationalen Standards entsprach und von der Vollversammlung der Vereinten Nationen für völkerrechtlich ungültig erklärt wurde, annektierte Russland die Halbinsel innerhalb eines Monats.
Wenig später sickerten irreguläre Kämpfer und Einheiten aus Russland in die ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk ein. Dort unterstützten sie die gewaltsame Abspaltung sogenannter Volksrepubliken. Als ukrainische Sicherheitskräfte und Freiwilligenbataillone die Oberhand zu gewinnen drohten, griffen russische Truppen auch direkt in die Kämpfe ein. Seitdem gewährt Russland den "Volksrepubliken" erhebliche finanzielle, personelle und militärische Unterstützung.


Im März 2014 mandatierte die OSZE eine Beobachtungsmission. Zudem wurde eine in Minsk tagende Trilaterale Kontaktgruppe mit der Ukraine und Russland unter Ägide der OSZE ins Leben gerufen. Politisch wurde dies durch hochrangige Vermittlungsgespräche der Präsidenten Frankreichs, Russlands und der Ukraine sowie der deutschen Bundeskanzlerin flankiert (Normandie-Format).
Im September 2014 und Februar 2015 wurde in Minsk ein Waffenstillstand vereinbart, die OSZE-Mission damit betraut, ihn zu überwachen. Doch die Waffen schwiegen nur selten. Bis 2020 verging kaum eine Woche ohne Todesopfer. Deshalb ging es auch bei den politischen Fragen kaum voran. Streitpunkte sind der künftige Status der Gebiete, die Modalitäten für freie Wahlen und die Kontrolle über die Grenze zu Russland. Ob die jüngste, im Juli 2020 erfolgte Bekräftigung des Waffenstillstands dauerhaft Bestand hat, muss sich zeigen.


Internationale Ansätze der Konfliktbearbeitung
Trotz aller internationalen Bemühungen stehen die Chancen für eine baldige politische Lösung der verschleppten Konflikte eher schlecht. Das eingesetzte Instrumentarium hat bisher bestenfalls ihr "Einfrieren" ermöglicht. Um mehr zu erreichen, fehlt es der internationalen Gemeinschaft an Geschlossenheit. Denn obwohl alle Konflikte eine lokale Dimension haben, wurde immer deutlicher, dass Moskau sie aus geopolitischem Interesse am Leben erhalten und die damit verbundene Instabilität im eigenen Interesse "managen" will. In der Frage, wie mit einem solchen Russland umzugehen ist, stehen sich zwei Positionen gegenüber.Die Vertreter eines stärker auf Kompromisse drängenden Ansatzes sind bereit, weiter auf die behaupteten russischen Interessen einzugehen (in Deutschland werden sie mitunter als "Russlandversteher" bezeichnet). Die westliche Rolle in der jüngeren Vergangenheit sehen sie kritisch und empfehlen, sich mit Russland über die sicherheitspolitische Orientierung der Staaten im postsowjetischen Raum zu verständigen (vgl. Adomeit 2019). Bei den betroffenen "Staaten dazwischen" stößt diese Art von Kompromisswilligkeit auf heftige Ablehnung (OSZE 2015). Insbesondere die Vorstellung, Deutschland und Russland könnten sich über ihre Köpfe hinweg "einigen", weckt bei ihnen Reminiszenzen an den Molotow-Ribbentrop-Pakt.
Die Gegenposition tritt mit Blick auf die Souveränitätsrechte prinzipienfester und wesentlich kompromissloser auf. Ausgangspunkt ist die Analyse, dass sich Russland als globale Macht in einem multipolaren internationalen System etablieren will – mit dem "Recht" auf eine exklusive Einflusssphäre in seiner Nachbarschaft. Der in den OSZE-Dokumenten fixierte Konsens, wonach alle Staaten gleiche, souveräne Rechte haben, werde dabei missachtet. Beschreitet man diesen Weg, wäre nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit beschädigt, sondern letztlich auch die eigene Sicherheit. Deshalb müsse man sich auf eine längerfristige politische Auseinandersetzung mit Russland einstellen – und dabei in Kauf nehmen, dass die Konflikte im post-sowjetischen Raum weiter verschleppt werden.
Wie immer das Pendel zwischen diesen Positionen auch ausschlägt: Die internationale Konfliktbearbeitung muss versuchen, militärische Eskalationen zu verhindern und vertrauensbildende Mechanismen zu stärken. Der 44-Tage-Krieg um Berg-Karabach im Herbst 2020 zeigt, welche Gefahren drohen, wenn lediglich ein Einfrieren des Konflikts gelingt und Fortschritte bei der weiteren Konfliktlösung ausbleiben. In Ermangelung besserer Alternativen ist es deshalb notwendig, an den etablierten Mechanismen der Konfliktbearbeitung festzuhalten – in der Hoffnung, dass sich mittelfristig doch noch Chancen für politische Durchbrüche eröffnen.


Literatur
Adomeit, Hannes (2019): Müssen wir Russland besser verstehen lernen? Eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten für eine neue Russlandpolitik, SIRIUS, Vol. 3, No. 3, S. 224-241.Allan, Duncan (2020): The Minsk Conundrum: Western Policy and Russia’s War in Eastern Ukraine.
Deutschlandfunk (2020) Interview mit dem Außenpolitiker Gernot Erler: "Eine russische Politik, die versucht, die EU zu destabilisieren".
Fischer, Sabine (Hrsg.) (2016): Nicht eingefroren! Die ungelösten Konflikte um Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach im Lichte der Krise um die Ukraine, SWP-Studie, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
Malek, Martin (1998): Rußlands "Friedensmissionen" in der GUS, in: Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zwischen Konflikten und russischer Dominanz. Landesverteidigungsakademie (LVAk) und Büro für Sicherheitspolitik. Necsutu, Madalin (2019): BIRN Fact-check: Is Transnistria Really Economically Dependent on Russia? OSCE (2015): Back to Diplomacy. Final Report and Recommendations of the Panel of Eminent Persons on European Security as a Common Project. OSCE Yearbook – Yearbook on the Organization for Security and Co-operation in Europe.
Sherr, James (2020): A compromise with Russia that respects core Western principles is an illusion.
Wittkowsky, Andreas (2010): Fünf Jahre ohne Plan: Die Ukraine 1991–96. Nationalstaatsbildung, Wirtschaft und Eliten. 2., durchgesehene Auflage. Berlin: Lit.
Zagorski, Andrei V. (1996): Machtpolitik oder kooperative Friedenserhaltung? Russlands militärische Einsätze in der früheren Sowjetunion, in: Vereinte Nationen; German Review on the United Nations, Vol. 44, No. 2.