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Militärische, wirtschaftliche und kriminelle Netzwerke im postsowjetischen Raum | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Militärische, wirtschaftliche und kriminelle Netzwerke im postsowjetischen Raum

Nikolaus von Twickel

/ 10 Minuten zu lesen

Die russische Außenpolitik setzt auf informelle Gruppen und Netzwerke. Sie reichen von Separatisten-Milizen über korrupte Geschäftsleute und Politiker bis hin zu "Informationskriegern" im Internet. Allen gemeinsam ist, dass sie offiziell keine Verbindung zur russischen Führung haben, aber durchaus in deren Interesse handeln.

Brennende Trümmer der abgeschossenen Maschine des Malaysia-Airlines-Flugs 17 (MH17). (© picture-alliance, Associated Press | Dmitry Lovetsky)

Militärische Intervention

Der Konflikt in der Ostukraine ist in mehrerer Hinsicht beispielhaft für den Einsatz privater bzw. nichtstaatlicher Akteure als Stellvertreter russischer staatlicher Interessen. Die im April 2014 ausgerufenen separatistischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk waren von Anfang an von Moskau gesteuert und sind es nach Meinung der meisten Beobachter auch weiterhin. Diese Steuerung erschließt sich aus dem Lauf der Ereignisse, lässt sich aber nicht immer ohne weiteres nachweisen.

So gelang es den Anführern der prorussischen Kundgebungen in Donezk und Luhansk im März 2014 zunächst nicht, einen Umsturz gegen die durch die Euromaidan-Revolution an die Macht gekommene neue Führung in Kiew herbeizuführen: Die Autorität des ukrainischen Staates schwand erst, als ein Kommando aus etwa 50 bewaffneten Kämpfern im April 2014 öffentliche Gebäude im Gebiet Donezk besetzte, russische Fahnen hisste und zum Kampf gegen die "Junta" in Kiew aufrief.

Deren Anführer Igor Girkin, ein ehemaliger Agent des russischen Inlandgeheimdienstes FSB, der das Pseudonym Strelkow verwendete, hat offen zugegeben, dass er das Kommando auf der frisch von Russland annektierten Halbinsel Krim zusammengestellt hatte und die prorussischen Protestbewegungen vor Ort ohne sein Eingreifen zum Scheitern verurteilt gewesen wären. Die Frage, wer ihn damals in die Ostukraine geschickt hatte, hat Girkin bislang nicht beantwortet.

Mit und nach ihm kamen weitere russische Staatsbürger mit einschlägiger Erfahrung, wie der Militärgeheimdienstler Sergej Dubinsky (Spitzname Chmury), der eine wichtige Rolle beim versehentlichen Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 durch eine russische Luftabwehrrakete spielte, sowie der Moskauer Polit-Berater und Girkin-Vertraute Alexander Borodai, der zum ersten "Premierminister" der "Volksrepublik" Donezk wurde.

Hinter Girkin und Borodai steht offenbar Konstantin Malofejew. Der für seine ultraorthodoxen Ansichten bekannte Moskauer Geschäftsmann war bis 2014 Borodais Arbeitgeber und hat offenbar bei der "Anschubfinanzierung" der Separatistenrepubliken geholfen. Das Netzwerk dieser drei Männer wurde bereits 2014 als eine Art halbstaatliche Partnerschaft bezeichnet. 2016 kam dann durch geleakte E-Mails ans Licht, dass über ihnen wiederum Wladislaw Surkow stand – der damalige Ukraine-Beauftragte in der Kremlverwaltung.

Surkow gilt als Erfinder und wichtigster Patron der "Volksrepubliken". Aus dem Mail-Leak geht hervor, dass Kabinettsposten in Donezk in Putins Präsidialverwaltung vergeben wurden. Surkows Verbindungen mit Girkin, Borodai und Malofejew sind Belege dafür, dass der von Moskau im Widerspruch zu den Tatsachen "Bürgerkrieg" genannte Konflikt vom Kreml durch den Einsatz russischer nationalistischer Netzwerke angezettelt wurde.

Auch wenn die Genannten mehrheitlich nicht mehr im Amt sind – Girkin und Borodai wurden noch im Sommer 2014 aus der Ostukraine abgezogen; Surkow musste Anfang 2020 seinen Kreml-Posten an einen Rivalen abgeben – so agieren ihre Netzwerke weiter. Surkows Protegé in Donezk, Denis Puschilin, steht seit 2018 an der Spitze der "Volksrepublik" und Borodai kontrolliert als Vorsitzender des "Verbands der Donbass-Freiwilligen" das wichtigste Netzwerk für den Truppen-Nachschub der Separatisten. Seit Herbst 2021 sitzt Borodai auch in der Staatsduma.

Heute sind die Streitkräfte der "Volksrepubliken" längst keine losen Netzwerke mehr, sondern militärische Verbände (je ein "Armeekorps" in Donezk und Luhansk) unter Führung russischer Offiziere.

Wirtschaftliche Kontrolle

Im russisch kontrollierten Donbass haben sich auch wirtschaftliche Netzwerke etabliert. Seit 2017 als Folge einer von Kiew verhängten Wirtschaftsblockade bedeutende Teile der Kohle- und Schwerindustrie von den Separatisten beschlagnahmt wurden, haben sich dort sehr undurchsichtige Strukturen gebildet, die offenbar massiv am illegalen Handel mit Russland und anderen Ländern verdienen.

Zentrales Element war bis 2021 Wneschtorgserwis (Außenhandelsdienst), eine von größter Geheimhaltung geprägte Holding, die aus den offiziell unter "externer Verwaltung" stehenden beschlagnahmten Betrieben bestand und Medienberichten zufolge von dem in Russland lebenden ukrainischen Geschäftsmann Serhij Kurtschenko kontrolliert wurde. Kurtschenko galt stets als enger Vertrauter von Ex-Präsident Viktor Janukowytsch, der während der Euromaidan-Revolution 2014 nach massiven Korruptionsvorwürfen gestürzt wurde und seitdem ebenfalls in Russland lebt.

Zusammen mit einer ebenfalls von Kurtschenko kontrollierten Firma namens "Gaz-Alians" wickelte Wneschtorgserwis seit 2017 den Kohle- und Stahlhandel zwischen den "Volksrepubliken" und Russland ab. 2018 wurde bekannt, dass Gaz-Alians eine Monopolstellung für den Kohleexport nach Russland innehatte. Der Großteil dieser Exporte ging in Drittländer, denn Russland hat selbst genug Kohle und ist nicht an billiger Konkurrenz aus der Ostukraine interessiert. Schätzungen zufolge betrugen die so erzielten Umsätze bis zu drei Milliarden Dollar pro Jahr.

Wneschtorgserwis sorgte dem Donezker "Einnahmeministerium" zufolge im Jahr 2019 für 70 % des Steueraufkommens der "Volksrepublik". Der offizielle Firmensitz in der von Georgien abtrünnigen Provinz Südossetien vermeidet direkte Finanzströme zwischen Russland und den "Volksrepubliken", die westliche Sanktionen nach sich ziehen könnten. Die massive Geheimhaltung konnte jedoch nicht verhindern, dass die USA im Januar 2018 Wneschtorgserwis und Gaz-Alians wegen Unterstützung der "Volksrepubliken" auf ihre Sanktionsliste setzten.

Letztlich erwies sich Wneschtorgservis als Reinfall: Im Zuge der Corona-Krise konnte der Konzern seine Schulden nicht bedienen und seine Arbeiter nicht bezahlen. Angesichts von wachsendem Unmut und Streiks zog Moskau die Reißleine und ließ im Juni 2021 verkünden, dass die großen Industriebetriebe an einen russischen "Investor" namens Jewgeny Jurtschenko übertragen wurden. Jurtschenko, der vorher noch nie in der Metallindustrie tätig war und kaum über die nötigen Finanzen verfügt, versprach, Löhne und Gehälter wieder pünktlich zu bezahlen. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen vom Kreml ausgesuchten Strohmann.

Korruption und Kriminalität sind auch in den Separatistengebieten Georgiens an der Tagesordnung. Anders als die ostukrainischen "Volksrepubliken" existieren diese Regionen bereits seit den frühen 1990er Jahren, aber auch sie sind stark von russischem Geld abhängig. In Abchasien ist das rund die Hälfte des Staatshaushalts, in Südossetien sogar mehr als 80%. Die so geschaffenen Abhängigkeiten sowie fehlende Transparenz und öffentliche Kontrolle sind ein Nährboden für Korruption. So wurde im Herbst 2008 bekannt, dass von 55 Mio. US-Dollar russischer Wirtschaftshilfe für Südossetien nur 15 Mio. bei den zu finanzierenden Objekten angekommen sind – der Rest sei "verschwunden", so die Einschätzung eines Kremlbeamten.

Die von Moldau abtrünnige Republik Transnistrien ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie ein De-facto-Staat aus seiner Nichtanerkennung Kapital schlagen kann. Dort ist es der "Sheriff-Gruppe", einem Handels- und Industriekonglomerat, gelungen, zum mächtigsten Akteur in der Wirtschaft und in der Politik aufzusteigen. Die von ehemaligen KGB-Offizieren kontrollierte Gruppe wird verdächtigt, mit dem Schmuggel von Zigaretten und Alkohol über die Ukraine groß geworden zu sein. Die Machtstellung der Sheriff-Gruppe wurde 2016 eindrucksvoll demonstriert, als sie der transnistrischen Regierung in Tiraspol einen Kredit gewährte, damit diese Pensionszahlungen leisten konnte.

Klar ist, dass diese wirtschaftlichen Netzwerke genauso wie die militärisch-politischen keinesfalls selbstständig entstanden sind. Es ist völlig ausgeschlossen, dass im russischen Machtbereich Privatleute einfach einen Konzern mit Sitz in Südossetien und Industriebesitz im russisch kontrollierten Donbass gründen können.

Propagandamedien

2013 entstand in Sankt Petersburg eine offiziell privatwirtschaftliche Medienorganisation rund um die "Nachrichtenagentur" RIAFAN. Dazu gehört auch eine "Internet Research Agency" genannte Redaktion, die später als Trollfarm Schlagzeilen machte. Das Medienkonglomerat gehört dem Petersburger Geschäftsmann Jewgeny Prigoschin, der häufig als "Putins Koch" bezeichnet wird, weil er durch Catering-Aufträge des Kremls reich geworden ist.

Prigoschin, der nie ein staatliches Amt innehatte, wird regelmäßig mit Kreml-Auslandsoperationen in Verbindung gebracht. Seine Internet Research Agency wird beschuldigt, die US-Präsidentenwahl 2016 sowie der Kongresswahlen 2018 beeinflusst zu haben, was ihn auf die Sanktionsliste des US-Justizministeriums brachte. Außerdem gibt es zahlreiche Hinweise, dass er hinter der russischen Söldnertruppe "Wagner" steht, die in Syrien, der Ostukraine und Afrika aktiv ist. Prigoschin bestreitet, der Eigentümer der Truppe zu sein – obwohl er 2018 sogar an einem Treffen russischer Generäle mit dem libyschen General Chalifa Haftar im russischen Verteidigungsministerium teilgenommen hat.

Neben RIAFAN existieren weitere Online-Portale, die Kreml-Narrative verbreiten, aber nominell nicht staatlich sind. Darunter ist das Portal "News Front", das aus der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim in mehreren Sprachen, darunter Deutsch, Französisch und Spanisch, betrieben wird. Einem Bericht der Wochenzeitung "Die Zeit" von 2017 zufolge ist News Front ein vom russischen Geheimdienst finanziertes Projekt, mit dem die Bundestagswahl im September desselben Jahres beeinflusst werden sollte.

Diese Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, aber im Dezember 2020 enthüllten deutsche Medien, dass News Front hinter einer Falschmeldung über den russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny steht, die über eine Reihe gefälschter Websites in Europa verbreitet worden war.

Ähnlich wie News Front verbreiten Anna News, Russkaja Wesna und South Front antiwestliche und antiukrainische Propaganda (mit Schwerpunkten auf der Ostukraine bzw. Syrien). Allen gemeinsam ist, dass ihr deutscher Content qualitativ dürftig und ihre Reichweiten gering sind – nicht zuletzt, weil sie aus den großen sozialen Netzwerken verbannt wurden. Eine Urheberschaft staatlicher russischer Strukturen hinter diesen Portalen lässt sich nicht belegen, liegt aber nahe, nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie – anders als viele russische Nationalisten – praktisch nie den Kreml kritisieren.

Hackertruppen

Russland wird seit Jahren für eine wachsende Zahl von Angriffen auf IT-Infrastruktur weltweit verantwortlich gemacht, die aber nicht immer eindeutig als staatlich gelenkt definiert werden können. Als im Frühjahr 2007 in Estland zahlreiche Behörden, Banken und Medien Ziel einer großen Cyberattacke wurden, fiel der Verdacht schnell auf Moskau, das gerade heftig gegen die estnische Regierung protestiert hatte, weil sie ein sowjetisches Militärdenkmal in der Hauptstadt Tallinn umsetzen ließ.

Estland konnte damals keine konkreten Beweise für die Urheberschaft staatlicher russischer Stellen vorlegen. Zwei Jahre später behauptete ein führender Aktivist der größten Pro-Kreml-Jugendbewegung "Naschi" ("die Unsrigen"), dass er den Angriff gemeinsam mit einer Gruppe russischer Hacker durchgeführt habe. Naschi wurde 2005 aus dem Kreml heraus gegründet, um die russische Jugend mit Patriotismus und antiwestlicher Rhetorik an den Staat zu binden. Als ihr wichtigster Pate gilt Wladislaw Surkow, also derselbe Kremlbeamte, der später die "Volksrepubliken" der Ostukraine aus der Taufe hob.

Während die Naschi-Bewegung wegen ihrer engen Verbindungen zum Kreml mindestens als staatsnah klassifiziert werden muss, lagen die Dinge beim nächsten großen russischen Hackerangriff anders. Im Sommer 2008 überrannten russische Truppen Georgien, nachdem das Kaukasusland versucht hatte, die abtrünnige pro-russische Region Südossetien mit Waffengewalt einzunehmen. Im Zuge das bewaffneten Konfliktes, der nach wenigen Tagen zugunsten Russlands ausging, kam es zu massiven Cyberattacken auf georgische Ziele.

In diesem Konflikt sollen russische Geheimdienste erstmals "patriotische" Hacker für sich haben arbeiten lassen. In einigen Fällen waren das Kriminelle, die etwa wegen Kreditkartenbetruges gesucht wurden und sich anwerben ließen, um der Strafverfolgung zu entgehen, berichtete die Online-Zeitung "Meduza" 2018. Anderen wurden dem Bericht zufolge Geheimdienst-Büros zur Verfügung gestellt, in denen sie vor dem Zugriff von Polizei und Staatsanwaltschaft sicher waren.

Im Mai 2021 verschaffte sich eine andere Gruppe namens Nobelium Zugriff zu einem Online-Marketing-Konto der amerikanischen Entwicklungshilfsorganisation USAID. Von dort verschickten die Hacker Malware-Mails an weitere 3.000 Empfänger. Die Mails wirkten authentisch, enthielten aber einen Link, der zum Datendiebstahl geeignete Schadsoftware herunterlädt.

Die Nobelium-Hacks gelten als weiteres Beispiel von Cyberangriffen, die von nichtstaatlichen Gruppen durchgeführt werden, damit der russische Staat jegliche Verantwortung von sich weisen kann – was der Kreml nach beiden Angriffen im Dezember 2020 und Mai 2021 getan hat. Nach Meinung des russischen Geheimdienstexperten und Buchautors Andrei Soldatow heuert die Regierung in Moskau zivile IT-Spezialisten als Hacker an, die quasi im Nebenerwerb Ziele im westlichen Ausland angreifen.

Fazit

Die russische Führung agiert in bestimmten Bereichen indirekt und durch informelle Gruppen und Netzwerke, die keine offizielle Verbindung zum Staat haben. Dabei geht es dem Kreml vor allem darum, die eigene Verantwortung zu verschleiern bzw. glaubhaft abzustreiten. Ein Ziel dieser informellen Strukturen ist es, die schleichende Eingliederung und mögliche Annexion der Separatistengebiete in Georgien, Moldau und der Ukraine voranzutreiben.

Neben den offiziellen Aktivitäten des russischen Staates (z.B. Ausgabe russischer Pässe, Ermöglichung der Teilnahme an den Duma-Wahlen) konzentrieren sich diese Netzwerke u.a. darauf, militärische Strukturen in den Separatistengebieten zu stärken, Wirtschaftsunternehmen den Zugang zu den russischen und anderen Märkten zu verschaffen, die lokale, russische und internationale öffentliche Meinung im Sinne des Kremls zu beeinflussen und sensible Infrastrukturen durch Hackerangriffe zu stören. In all diesen Bereichen gibt es große Grauzonen, in denen die Grenzen zwischen radikalem Polit-Aktivismus, staatlich gelenkten Kampagnen, Hackerangriffen und organisierter Kriminalität verschwimmen.

Hier zeigt sich der Nachteil solcher Strukturen. Ihre Kontrolle durch den russischen Staat ist nur eingeschränkt möglich. So können korrupte und kriminelle Netzwerke entstehen, etwa in den von Russland abhängigen Separatistengebieten. Moskau versucht, die Profiteure an sich zu binden, indem es den De-facto-Machthabern materielle Anreize gibt, ihre Posten zu behalten und eine Lösung der Konflikte zu verschleppen.

Dass der Kreml bei fortdauerndem Kontrollverlust auch zu gewaltsamer Intervention bereit ist, hat etwa die Ermordung des Donezker Separatistenführers Alexander Sachartschenko am 31. August 2018 gezeigt. Danach wurde im Zuge einer umfangreichen Säuberungskampagne die bis dahin bestehende relative militärische, politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit der "Donezker Volksrepublik" de facto beendet (von Twickel 2018).

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Nikolaus von Twickel ist gelernter Journalist und arbeitet als Redakteur beim Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Von 2015 bis 2016 war er Presseverbindungsoffizier bei der OSZE SMM im ostukrainischen Donezk.