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Einführung: Friedensförderung in Zeiten des Weltordnungskonflikts zwischen Demokratien und Autokratien | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Einführung: Friedensförderung in Zeiten des Weltordnungskonflikts zwischen Demokratien und Autokratien

Lutz Schrader

/ 10 Minuten zu lesen

Seit Ende der 2000er Jahre sind autoritäre Regime mit einigem Erfolg dabei, Strategien zur Eindämmung und Befriedung innerstaatlicher und regionaler Konflikte zu entwickeln. Dabei spielen ihnen sowohl offenkundige Defizite der liberalen Friedensförderung als auch die halbherzige Stabilisierungspolitik westlicher Staaten in die Hände.

(© picture-alliance, Maxym Marusenko)

Die gewaltsame Niederschlagung der Proteste gegen den Wahlbetrug in Belarus und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sind Ausdruck der gestiegenen Entschlossenheit autokratischer Staaten, Konflikte in ihrem Innern und in ihrer Nachbarschaft mit eigens dafür entwickelten Konzepten und Werkzeugen zu ihren Gunsten zu entscheiden und möglichst langfristig zu befrieden. Analoge Entwicklungen sind in der VR Interner Link: China (z.B. Hongkong, Interner Link: Tibet und Interner Link: Xinjiang) und im chinesischen Vorgehen gegenüber Nachbarstaaten (z.B. Taiwan) zu beobachten.

Es gibt zudem immer mehr Hinweise, dass Moskau und Peking ihre Unterstützung für kleinere autokratische Regime koordinieren (z.B. in Zentralasien und Interner Link: Myanmar). Als institutionelle Rahmen für die regionale Verbreitung autoritärer Politikansätze werden u.a. die Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS) und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) genutzt.

Tabubruch autokratischer Regime

Das zunehmend selbstbewusstere Vorgehen autokratischer Regime begann mit dem zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) und dem Bürgerkrieg in Sri Lanka (1983-2009). In beiden Fällen wurde die Gegenpartei im Bürgerkrieg – die tschetschenischen Rebellen und die Kämpfer der tamilischen LTTE – unter Einsatz massiver militärischer Gewalt und brutaler politischer Repression bekämpft und physisch weitgehend vernichtet.

Kennzeichnend für die Kriegsführung der russischen Regierung unter Präsident Putin und der singalesischen Regierung unter Präsident Mahinda Rajapaksa waren die systematische Verletzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte. Zu ihrem Repertoire gehörten u.a. die der Bruch von Verträgen, die Missachtung von Zusagen und Vereinbarungen, verdeckte Operationen ("False-Flag-Operations" ), systematische Gewalt gegen Zivilisten (Massenüberwachungen und -verhaftungen, Vergewaltigungen, Folter), schwere Bombardements von Städten und ziviler Infrastruktur sowie die Ermordung von Führern und Angehörigen der Rebellen und der politischen Opposition.

Beide Staaten haben damit in ostentativer Weise den nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in mehreren Dokumenten besiegelten Konsens gebrochen, bei der Beilegung inner- und zwischenstaatlicher Konflikte auf massive Menschenrechtsverletzungen und systematische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu verzichten. Entsprechende Festlegungen finden sich u.a. in der Charta und der "Agenda für den Frieden" der Vereinten Nationen sowie in der Charta von Paris der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die internationale Gemeinschaft und der Westen im Besonderen haben damals sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber Sri Lanka kaum auf den ungeheuerlichen Tabubruch reagiert.

Diese defensive Haltung hat wohl auch dazu beigetragen, dass die Praxis rücksichtsloser Repression und Niederschlagung innerstaatlicher und regionaler Konflikte schnell Schule machte. Beispiele sind der russische Überfall auf Interner Link: Georgien (2008), die russische Annexion der Krim (2014), der Interner Link: syrische Bürgerkrieg (ab 2012), der Stellvertreterkrieg der saudisch geführten Koalition gegen die Huthi-Milizen im Interner Link: Jemen (ab 2015), die "Strafaktionen" der Türkei gegen die Kurden in der Osttürkei, im Nordirak und in Interner Link: Syrien (ab 2015),Interner Link: Irak der Völkermord gegen die Rohingya und die Bekämpfung ethnischer Milizen in Interner Link: Myanmar (ab 2017), der Krieg der äthiopischen Regierung gegen die bewaffnete Opposition in der Provinz Interner Link: Äthiopien(ab 2020) und nicht zuletzt der Angriffskrieg gegen die gesamte Interner Link: Ukraine seit Februar 2022.

Autoritärer Modus der Bearbeitung und Befriedung von Konflikten

Um die durch brutale Gewalt oder Wahlen behauptete oder eroberte politische Herrschaft möglichst dauerhaft zu sichern, haben autokratische Regime in den letzten anderthalb Jahrzehnten ihr politisches Repertoire stetig perfektioniert. Dafür wurden und werden Techniken, die seit jeher zum Repertoire autokratischen Regierens gehören (z.B. Manipulation von Wahlen) verfeinert und durch spezifische Handlungsansätze ergänzt, die eigens für den Umgang mit innerstaatlichen und regionalen Konflikten entwickelt wurden (s.u.). Offene Repression und subtile Beeinflussung und Kontrolle greifen ineinander.

Außerdem deuten Parallelen und Analogien zwischen dem Vorgehen verschiedener Regime darauf hin, dass Autokraten und Diktatoren mit Blick auf die Vervollkommnung ihrer Strategien voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen. Als aktive Förderer eines solchen autoritären Modus des Konfliktmanagements haben sich bislang Russland und China hervorgetan, die immer selbstverständlicher als die Garantiemächte autoritärer Staaten agieren. Auf regionaler Ebene sind analoge Aktivitäten von Seiten des Iran, Saudi-Arabiens, Interner Link: Ägyptens und Ruandas zu beobachten.

Für die Strategien autokratischer Regime, Parteien und Bewegungen zur Eindämmung und Befriedung innerstaatlicher und regionaler Konflikte hat sich die Bezeichnung "autoritärer Modus des Konfliktmanagements" durchgesetzt. Die Forscher unterscheiden drei Ebenen und Handlungsstränge (vgl. z.B. Lewis/Heathershaw/Megoran 2018):

1. Kontrolle und Steuerung des öffentlichen Diskurses und der Meinungsbildung:

  • staatliche Propaganda (z.B. Diskreditierung von Oppositionellen als Terroristen),

  • Kontrolle der Medien (z.B. Kauf von Medien durch regimenahe Unternehmen, Verbot kritischer Zeitungen),

  • Beschränkung des Zugangs zu Informationen (z.B. Verbot von Kritik an Regierungspolitik und Mitgliedern der politischen Führung),

  • Kontrolle und Rahmung des nationalen Diskurses (z.B. Bezeichnung von Straflagern als "Umerziehungseinrichtungen" und von Kriegen als "Spezialoperationen"),

  • Kontrolle der Wissenschaften (z.B. Konzeption einer nationalistischen Erinnerungs- und Geschichtspolitik),

  • Belohnung von Wohlverhalten (z.B. Bonussystem in China).

2. Kontrolle des politischen, physischen, symbolischen und virtuellen Raumes:

  • Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Territorien und Plätzen (z.B. Konfliktgebiete, öffentliche Plätze oder Rohstoffvorkommen),

  • Restrukturierung von Siedlungsräumen (z.B. Zerstörung von Stadtvierteln und Dörfern oppositioneller ethnischer Gruppen),

  • Verbot von oder Verpflichtung zu politischen und religiösen Symbolen im öffentlichen Raum (z.B. Kleidung, Bärte, Kopftücher),

  • Einschränkung der Freizügigkeit (z.B. Zuzug erwünschter bzw. Umsiedlung nicht erwünschter Bevölkerungsgruppen),

  • Kontrolle und Sperrung des Internets (z.B. Aufbau eigener Plattformen, Abschaltungen),

  • Kontrolle der Diaspora (z.B. Eröffnung von verdeckten Auslandsbüros des Geheimdienstes im Ausland).

3. Die Kontrolle und Nutzung wirtschaftlichen Aktivitäten

  • Kontrolle der wirtschaftlichen Tätigkeit des Landes (z.B. Besetzung von Schlüsselposten, Begünstigung loyaler Unternehmer),

  • wirtschaftliche Bevorteilung loyaler politischer, gesellschaftlicher und ethnischer Gruppen (z.B. Sonderzahlungen an Familien und Rentner),

  • Austrocknung der wirtschaftlichen Grundlagen der Opposition und rivalisierender ethnischer Gruppen (z.B. Enteignungen, Kappung der Zuwendungen der Diaspora),

  • Nutzung von IT-Techniken für politische Kontrolle (z.B. bargeldloses Bezahlen),

  • Übernahme der Kontrolle über Märkte und Einkünfte der organisierten Kriminalität (z.B. vorübergehende Duldung von Korruption und Schmuggel),

  • Umlenkung der Unterstützungsgelder von internationalen Organisationen (z.B. Manipulation, Betrug und Überfälle auf humanitäre Konvois).

Insbesondere die autokratischen Führungsmächte China und Russland haben in der letzten Dekade gezielt versucht, den internationalen Konsens zu den Grundsätzen des liberalen Peace-buildings bis hinein in den UN-Sicherheitsrat und den UN-Menschenrechtsrat aufzuweichen. Gleichzeitig unterließen es die westlichen Staaten, die gewaltsame Niederschlagung von Konflikten durch autoritäre Regime angemessen zu verurteilen. Mehr noch: Mit ihrer Stabilisierungspolitik haben sie weltweit die Konsolidierung autoritärer Regime begünstigt (vgl. z.B. Smith et al. 2020).

Auch in Deutschland hat man lange über offenkundige Defizite bei Menschenrechten und Demokratie hinweggesehen, sofern die autoritären Regime, z.B. im westlichen Balkan, in Nordafrika und im Sahel, für regionale Stabilität sorgten und Migranten von den EU-Grenzen fernhielten. Auch in Großbritannien wurde die Stabilisierungspolitik mit dem Bericht der "Cameron-Kaberuka-Kommission" und dem "UK Government’s Approach to Stabilisation" spätestens seit 2018 zur bestimmenden Linie des Umgangs mit autoritären Regimen in Konflikt- und Post-Konfliktländern. Das war auch eine Reaktion auf den unbefriedigenden Verlauf mehrerer maßgeblich von westlichen Staaten unterstützter Friedensprozesse (z.B. Interner Link: Afghanistan, Interner Link: Bosnien-Herzegowina, Interner Link: Libyen, Interner Link: Mali, Interner Link: Nahost, Naher und Mittlerer Osten).

In einigen Staaten und Regionen (z.B. Zentralasien, Südostasien, arabischer Raum) sieht es tatsächlich so aus, als könnten autoritäre Regime eine bestimmte Form des Friedens aufrechterhalten (Owen et al. 2018). Das scheinen auch die offiziellen Zahlen zu belegen. Danach weisen autoritäre Regime im Durchschnitt hohe Raten für das Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit auf. 35 % der Menschen gaben an, sich 2019 sicherer zu fühlen als 2014. Ruanda rangierte mit 67 % an der Spitze, dicht gefolgt von China mit 65 %. Nur in konsolidierten Demokratien haben die Menschen eine geringere Angst vor Gewalt als in autoritären Regimen (World Peace Index 2021: 55).

Doch immer mehr Fälle (z.B. Interner Link: Venezuela, Myanmar, Sri Lanka, Kasachstan, Iran) deuten darauf hin, dass die illiberale Befriedung innerstaatlicher Konflikte zu keinem langfristigen, nachhaltigen Frieden führt. Der Rückfall in offene Gewalt ist immer nur einen Schritt weit entfernt. In der einschlägigen Forschungsliteratur kursiert dafür u.a. der Begriff des "ängstlichen Friedens" (Höglund/Söderberg Kovacs 2010: 384). Ein solcher autoritärer "Frieden" hat jedenfalls nicht mit dem zu tun, wofür Johan Galtung in Anlehnung an Martin Luther King den Begriff des "positiven Friedens" geprägt hat.

Übrigens finden autoritäre Ansätze der Eindämmung und Befriedung von Konflikten nicht nur in nicht-demokratischen Staaten Anwendung. Illiberale Praktiken, wie nationalistische und populistische Propaganda, Einschränkung der Freiheit und des Handlungsraums kritischer Gruppen und Personen sowie der Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sind zunehmend auch im Politikrepertoire formal demokratischer Staaten anzutreffen. Beispiele dafür sind Konfliktländer, wie Brasilien, Interner Link: Indien und Interner Link: Tunesien.

Fünfzehn Friedensprozesse

Dank der neuen Forschungsergebnisse über autoritäre Strategien der Eindämmung und Befriedung gewaltsamer innerstaatlicher und regionaler Konflikte wird es leichter zu verstehen, warum sich Friedensprozesse so unterschiedlich entwickeln – warum die einen relativ erfolgreich verlaufen, andere nach Phasen des Aufbruchs und messbarer Fortschritte immer wieder von Rückschlägen unterbrochen werden, und wieder andere dauerhaft von einem hohen Maß an Polarisierung, Menschenrechtsverletzungen und Gewalt sowie politischer Unfreiheit und sozialer Ungerechtigkeit gekennzeichnet sind.

Die in diesem Kapitel vorgestellten fünfzehn Fallbeispiele repräsentieren die gesamte Bandbreite von Friedensprozessen. Sie lassen sich im Großen und Ganzen drei Gruppen zuordnen. Zur ersten Gruppe gehören mit dem Interner Link: Baskenland, Interner Link: Nordirland, Interner Link: Namibia und Interner Link: Sierra Leone Friedensprozesse, die weitgehend nach liberalen Spielregeln gestaltet werden. In der zweiten Gruppe mit Interner Link: Bosnien-Herzegowina, Interner Link: Kolumbien, Interner Link: Kosovo, Interner Link: Nordmazedonien, Interner Link: Norduganda und Interner Link: Südafrika treten mal liberale, mal autoritäre Ansätze in den Vordergrund. Die Länder der dritten Gruppe (Interner Link: Kambodscha, Interner Link: Nicaragua, Interner Link: Guatemala, Interner Link: Mosambik und Interner Link: Aceh/Indonesien) sind mehr oder weniger eindeutig auf einem autoritären Pfad der Konfliktnachbereitung und -befriedung unterwegs.

Die Fallbeispiele in der ersten Gruppe verdeutlichen, wie liberale Friedensprozesse durch eine verfehlte Politik schnell gefährdet werden können. Im Fall Nordirlands ließ die Entscheidung der britischen Regierung und der nordirischen Unionisten im Juni 2016 für den Brexit die Konfliktlinien wieder aufbrechen. Die unionistische DUP verlangte die Beseitigung der Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien als Bedingung für ihre Mitarbeit in der gemeinsamen Regierung mit der katholisch-republikanischen Sinn Fein und stellt damit die Grundlagen des Friedensprozesses in Frage. In Sierra Leone, das der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon im Juni 2010 als "einen der weltweit erfolgreichsten Fälle für Wiederaufbau, Friedenswahrung und Friedensaufbau nach einem Konflikt" bezeichnet hatte, trübt sich das Bild aufgrund der durch Epidemien und Klimawandel zusätzlich verschärften sozioökonomischen Lage bedrohlich ein. Im August 2022 ließ die Regierung Proteste gegen Preiserhöhungen und Benzinknappheit gewaltsam niederschlagen.

In der zweiten Gruppe setzen vier Länder (Kolumbien, Kosovo, Nordmazedonien und Südafrika) nach einer mehr oder weniger langen autoritären Phase unter der Herrschaft rechtskonservativer bzw. linkspopulistischer Regierungen ihren überwiegend konstruktiven Kurs fort. Zuletzt hat in Kolumbien nach dem Wahlsieg des linken Präsidenten, Gustavo Petro, im Juni 2022 der Friedensprozess wieder Fahrt aufgenommen. Die neue Regierung nimmt mit dem Entwicklungsplan 2022–2026 auch die Überwindung der strukturellen Ursachen des Konflikts (z.B. ungerechte Landverteilung, Drogenschmuggel und Umweltzerstörung) in Angriff.

In Bosnien-Herzegowina und Uganda überwiegen dagegen weiterhin die autoritären Tendenzen. Bei den Wahlen Anfang Oktober 2022 in Bosnien konnten sich trotz Einbußen wiederum die nationalistischen Kräfte behaupten. Dies zeigt, dass ihre spalterische Politik noch immer bei einer Mehrheit verfängt. In Uganda ist unter Langzeitpräsident Museveni eine klare Zunahme autoritärer Tendenzen zu verzeichnen. Um der Unzufriedenheit der Bevölkerung angesichts wirtschaftlicher Stagnation, steigender Arbeitslosigkeit und hoher Flüchtlingszahlen aus dem Interner Link: Südsudan zu begegnen, setzt die Regierung immer öfter auf den Sicherheitsapparat. Doch dadurch wird kein einziges Problem gelöst, vielmehr erhalten alte Konflikte neue Nahrung.

Die Fallbeispiele der dritten Gruppe vermitteln eine Vorstellung davon, wie unterschiedlich autoritäre "Friedensprozesse" verlaufen können. In Nicaragua, Venezuela und Kambodscha haben sich einst linke Regierungen in stramme autoritäre Regime gewandelt. Als enge Verbündete Russlands und Chinas setzen sie die Rezepte der autoritären Einhegung und Befriedung innerstaatlicher Konflikt fast modellhaft um. In Guatemala versuchen rechtskonservative Kräfte, ihre bei den Wahlen im Juni 2019 errungene Macht abzusichern. Hier wiederholt sich ein bekanntes Muster: Zuerst werden kritische Stimmen in Medien und dann in der Justiz zum Schweigen gebracht. In der indonesischen Provinz Aceh schließlich greift die lokale Regierung auf das islamische Recht (Scharia), inklusive der Prügelstrafe, zurück, um ihre gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen durchzusetzen und zu legitimieren.

Weitere Inhalte

Dr. Lutz Schrader (Jg. 1953) ist freiberuflicher Dozent, Berater und Trainer mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung sowie Konfliktberatung. Arbeits- und Forschungsthemen sind die Konflikte im westlichen Balkan, Handlungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure in bewaffneten Konflikten und Post-Konfliktgesellschaften, Verfahren der Konflikttransformation sowie Friedens- und Konflikttheorien.