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Nordirland | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Nordirland

Ariane Schoen

/ 11 Minuten zu lesen

Die ehemals verfeindeten Lager – Unionisten und Nationalisten – lenken seit 2007 gemeinsam die Geschicke Nordirlands. Nach dem Brexit ist das befürchtete Wiederaufflammen der Gewalt bislang ausgeblieben.

Gespaltenes Land: Mauern und Zäune trennen in Belfast pro-irische Republikaner und pro-britische Unionisten. (© picture-alliance, empics)

Der Konflikt um den nordöstlichen Teil der irischen Insel, das heutige Nordirland, geht auf die systematische Ansiedelung protestantischer Engländer und Schotten seit Anfang des 17. Jahrhunderts zurück. Die euphemistisch als „Plantation of Ulster“ ) bezeichnete Kolonisierung ging mit der Enteignung der ansässigen katholischen Bevölkerung einher. Seitdem fühlen sich die irischen Katholiken als Opfer politischer und wirtschaftlichen Benachteiligung und Diskriminierung durch die protestantische Mehrheit. Mit der Teilung der Insel 1921/22 verblieb Nordirland bei Großbritannien, während sich im Süden die heutige Republik Irland formierte. In Nordirland versuchen die mehrheitlich protestantischen Unionisten bzw. Loyalisten bis heute, die Bindungen an Großbritannien aufrechtzuerhalten, während die mehrheitlich katholischen Nationalisten bzw. Republikaner die Vereinigung mit der Republik Irland anstreben.

Während des Bürgerkriegs (1968–1998) wurden ca. 16.200 Bombenanschläge, 37.000 Fälle von Schusswaffengebrauch, 22.000 bewaffnete Überfälle und 2.200 Brandanschläge registriert. Mehr als 3.600 Menschen haben ihr Leben durch politisch motivierte Gewalt verloren, über 47.000 Menschen Verwundungen erlitten. Von den 1,6 Mio. Bürgern Nordirlands wurde etwa jeder Zwanzigste verletzt, jeder fünfte hatte im unmittelbaren Umfeld Tote und Verletzte zu beklagen (Kandel 2005: 9). Paramilitärische Organisationen vertrieben zwischen 1980 und 2005 etwa 4.600 Menschen aus dem Land.

Bevölkerungszusammensetzung in Nordirland 2021. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Der Weg zum Frieden

Der Friedensprozess wurde mit der Annäherung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland in den 1980er Jahren eingeleitet. London und Dublin einigten sich – auch unter Vermittlung der USA – im Belfast-Abkommen („Karfreitagsabkommen“) vom 10. April 1998 darauf, die Entscheidung über die staatliche Zugehörigkeit Nordirlands bis zu einer späteren Volksabstimmung offenzuhalten. Bis dahin gehört Nordirland weiter zu Großbritannien. Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung sollte durch die Gewährleistung von öffentlicher Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie die politische Meinungsbildung im Parlament abgelöst werden. Beide Seiten verpflichteten sich auf die gegenseitige Anerkennung der Traditionen und Identitäten („parity of esteem“) sowie auf die Gewährleistung gleichberechtigter Teilhabe an der Machtausübung unter Wahrung der jeweiligen Interessen („principle of consent“).

Das System der politischen Selbstverwaltung Nordirlands orientiert sich am Modell der Konkordanzdemokratie. Den politischen Prozess sollte die Verabschiedung einer Menschenrechtscharta für die irische Insel und der Beginn der Versöhnungsarbeit flankieren. Schließlich wurde vereinbart, den Friedensprozess in eine engere Zusammenarbeit zwischen Nordirland, der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich einzubetten. Den Rahmen dafür bot die gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Das Karfreitagsabkommen, das aus einem zwischenstaatlichen britisch-irischen Vertrag und einer Übereinkunft zwischen unionistischen und nationalistischen Parteien besteht, erreichte im Norden und Süden der irischen Insel eine breite gesellschaftliche Zustimmung. Doch bedurfte es starken britischen und irischen Drucks, um den Friedensprozess in Gang zu halten. Erst das St. Andrews Agreement von 2006 ebnete den Weg zur Bildung einer Regierung aus Unionisten und Nationalisten. Mit dem Hillsborough-Abkommen von 2010 ging die Verantwortung für Polizei und Justiz auf nordirische Behörden über. In weiteren Abkommen (2013, 2014) einigten sich die Parteien u.a. auf Kompromisse in Bezug auf den Umgang mit Traditionsumzügen, das Zeigen von Flaggen und Symbolen sowie auf Verfahren zur Aufarbeitung der Vergangenheit.

Erfolge und Fortschritte

Vorrangiges Ziel der Friedenskonsolidierung nach Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens war es, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen. Die diskreditierte Polizei – die Royal Ulster Constabulary – wurde in „Police Service Northern Ireland“ umbenannt und erhielt ein neutrales Dienstwappen. Die britische Flagge verschwand vor den Polizeiposten. Die Mannschaftsstärken wurden halbiert, Sondereinheiten aufgelöst, die Aufsicht einem politischen Gremium übertragen und als unabhängige Kontrollinstanz ein Ombudsmann installiert. Zudem sollten die Mannschaften paritätisch mit protestantischen und katholischen Bewerbern besetzt werden.

Gleichzeitig harren bis heute über 3.700 Fälle von Mord und schweren Gewalttaten, begangen von Polizeikräften, der Aufklärung. Inzwischen leidet die Polizeiarbeit unter finanziellen Kürzungen und personellen Engpässen. Die bevorzugte Rekrutierung von Katholiken, um das Übergewicht protestantischer Polizisten auszugleichen, wird nicht mehr fortgeführt. In einem Bericht von 2009 hatte der Staatsminister für Nordirland erklärt, dass die entsprechende Bestimmung nur noch einmal verlängert würde, da der Anteil der Katholiken in der Polizei Nordirlands von 8,3 % in 2001 auf 27,58 % gestiegen sei.

Auch die Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen verlief zäh. Erst 2005 bestätigte eine internationale Expertenkommission den Vollzug durch die Irisch-Republikanische Armee (IRA). Die unionistischen Verbände zogen 2009 nach. Jedoch verschwanden die Gruppierungen nicht vollständig; Teile von ihnen wechselten in die organisierte Kriminalität und gewaltgestützte Ökonomie (Moltmann 2017). Auch wenn die paramilitärischen Organisationen sich zu friedlichen Mitteln zur Erreichung ihrer politischen Ziele bekennen, gibt es weiterhin Orte, in denen ihre Präsenz im alltäglichen Leben dominant ist. Durch Androhung oder Anwendung von Gewalt sind sie in der Lage, Kontrolle über die Aktivitäten und die Verteilung der Ressourcen in ihrem Gebiet aufrechtzuerhalten (Sturgeon et al. 2024).

Der Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung Nordirlands zog sich über Jahre hin. Wie bereits erwähnt, einigten sich die unionistische Democratic Unionist Party (DUP) und die republikanisch-nationalistischen Sinn Féin erst 2007 im Rahmen des St-Andrews-Abkommens auf eine gemeinsame Übernahme der Regierungsgeschäfte. Seitdem haben sich beide Seiten in einer „pragmatischen Konfrontation“ eingerichtet (Moltmann 2011), wozu auch wiederholte Regierungskrisen gehören.

Anfang 2017 zerbrach die Koalition aus DUP und Sinn Féin als Folge des Skandals um die Förderung von erneuerbaren Energien, auch „Cash for Ash-Skandal“ genannt (McBride 2019). Nach den darauffolgenden Neuwahlen konnte zunächst keine neue Regierung gebildet werden, weshalb das Land von Beamten unter Aufsicht eines britischen Ministers regiert wurde. Erst im Januar 2020 wählte die nordirische Legislative Arlene Forster (DUP) zur Ersten Ministerin und Michelle O’Neill (Sinn Féin) zur stellvertretenden Ersten Ministerin, wodurch die nordirische Regierung wieder handlungsfähig wurde.

Im April 2021 trat Arlene Forster als Parteivorsitzende und Regierungschefin zurück. Die Politikerin sah sich mit parteiinterner Kritik wegen der Folgen des Brexits für Nordirland konfrontiert. Paul Givan wurde ihr Nachfolger im Amt. Am 3. Februar 2022 verkündete Givan aus Protest gegen das Externer Link: Protokoll zu Nordirland seinen Rücktritt. Das Protokoll sollte eine harte Grenze auf der irischen Insel vermeiden, um die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd nicht zu gefährden.

Bei den Parlamentswahlen im Mai 2022 gewann mit Sinn Féin erstmals eine katholische, irisch-republikanische Partei die meisten Stimmen. Aus Protest gegen das Nordirland-Protokoll, das nach dem Brexit neue Handelsregeln festlegte, verweigerte die protestantisch-unionistische DUP jedoch die Regierungsbeteiligung. Dies führte zu einer 2-jährigen Regierungskrise. Seit Februar 2024 hat Nordirland mit Michelle O'Neill von der Partei Sinn Féin eine neue Regierungschefin, die erste einer irisch-republikanischen Partei.

Umfragen in der nordirischen Bevölkerung zeigen, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu einer der beiden Gemeinschaften langsam zurückgeht. Das spricht für eine gewisse Beruhigung und Normalisierung der Situation. Im Jahr 2024 bezeichneten sich jeweils 30 % der Befragten als Unionisten oder Nationalisten, 35 % als weder dem einen noch dem anderen Lager zugehörig. Zugleich scheint die Vereinigung mit der Republik Irland an Zustimmung zu gewinnen. Zwischen 2020 und 2024 ist der Anteil der Katholiken, die sich als Nationalisten bezeichnen, von 59 % auf 69 % gestiegen. Der Anteil der Protestanten, die sich als Unionisten bezeichneten, ist dagegen mit 67 und 66 % quasi gleichgeblieben.

Passend dazu wird die Diskussion zur Vereinigung der irischen Insel intensiver. Ein Recherche-Projekt der Royal Irish Academy (ARINS, Analysing and Researching Ireland North and South) führt regelmäßig Umfragen zu diesem Thema durch. Ergebnisse aus 2024 zeigen, dass im Fall eines Referendums 34 % der nordirischen Befragten dafür stimmen würden, dass Nordirland das Vereinigte Königreich verlässt und sich mit der Irischen Republik vereint. 2022 lag dieser Wert noch bei 27 %. Der Anteil, die für einen Verbleib stimmen würden, ging von 50 auf 48 % zurück.

Gleichzeitig machen die Ergebnisse deutlich, dass viele Menschen mit protestantischem Hintergrund äußerst negativ auf eine Abstimmung über ein vereinigtes Irland reagieren würden. Wie allerdings eine Vereinigung aussehen könnte, ist offen. Klar ist, dass wesentliche Änderungen an den bestehenden politischen Institutionen der Republik Irland notwendig wären. Hier wird insbesondere diskutiert, ob eine die Beteiligung einer Partei mit britisch-unionistischem Hintergrund an der Regierung oder in anderen politischen Entscheidungsprozessen garantiert werden müsste.

Karte der separatistischen Bewegungen in Westeuropa. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Probleme und Defizite

Die größten Unsicherheiten und Störungen für den Friedensprozess in Nordirland gehen von dem veränderten regionalen Kontext in Folge des Brexits aus. War die Einbettung in die Europäische Union ursprünglich eine zentrale Voraussetzung für die Anbahnung und den Erfolg der Friedensverhandlungen, sind mit dem Austritt Großbritanniens und damit auch Nordirlands aus der EU alte Befürchtungen und Spannungen in Nordirland wieder aufgebrochen, die auch das Verhältnis zwischen Dublin und London belasten.

Um die negativen Auswirkungen des Brexit zu begrenzen, haben die EU und London das „Nordirland-Protokoll“ als Teil des Austrittsvertrags ausgehandelt. Die Vertragsklausel wurde im Februar 2023 durch das „Windsor Framework“ angepasst und konkretisiert. Die Vereinbarungen sehen vor, dass Nordirland einen Sonderstatus erhält und de facto Mitglied des EU-Binnenmarkts für Güter und der Zollunion bleibt. Diese Regelung ist jedoch an die Bedingung geknüpft, dass Importe, die aus Großbritannien über Nordirland nach Irland und damit in die EU eingeführt werden, vorher gemäß EU-Standards kontrolliert werden. Güter, die nur für Nordirland bestimmt sind, können dagegen ohne Kontrollen importiert werden.

Außerdem räumt das „Windsor Framework“ dem nordirischen Parlament ein Vetorecht gegen mögliche neue EU-Warenvorschriften ein. Mit der sogenannten Stormont-Bremse („Stormont brake“) kann das irische Parlament gegebenenfalls EU-Regelungen blockieren, wenn diese „signifikante und dauerhafte Auswirkungen auf das tägliche Leben“ in Nordirland haben (Sparrow 2023). Konkret geht es um die fragile Machtbalance zwischen den protestantischen Unionisten und katholischen Nationalisten. Während die DUP aufgrund der De-facto-Mitgliedschaft Nordirlands im EU-Binnenmarkt eine schleichende Loslösung von Großbritannien befürchtet, will Sinn Féin unbedingt eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik vermeiden. Die offene Grenze zwischen Nordirland und Irland war und ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Beilegung des Nordirlandkonflikts.

Im Dezember 2024 billigte die nordirische Legislative die Fortsetzung des Windsor Frameworks für vier Jahre. Die 36 Gegenstimmen (zu 48 Zustimmungen) kommen von den unionistischen Parteien. Sie kritisierten, dass über den Antrag der Regierung nicht gemeinschaftsübergreifend abgestimmt wurde. Die im Karfreitagsabkommen fixierte Regel erfordert die Unterstützung bestimmter Entscheidungen sowohl durch eine Mehrheit der Unionisten als auch der nationalistischen Abgeordneten. Dies hätte den Unionisten, die im nordirischen Parlament in der Minderheit sind, die Möglichkeit gegeben, die Verlängerung zu verhindern.

Der Verzicht auf Grenzkontrollen beflügelt den Warenaustausch zwischen Nordirland und der Irischen Republik. Irland ist nach dem Brexit zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Austausch zwischen der EU und Großbritannien geworden. Während der grenzüberschreitende Handel zwischen Norden und Süden der irischen Insel im Jahr 2015 2,8 Mrd. Euro umfasste, stieg er bis 2024 auf 10,6 Mrd. Euro. Zugleich nahmen mit der Intensivierung der wirtschaftlichen Aktivitäten zwischen Norden und Süden der irischen Insel auch die Diskussionen über die Vereinigung der Irischen Republik mit Nordirland Fahrt auf.

Ein wichtiges Defizit des Friedensprozesses ist die Interner Link: schleppende Aufarbeitung der Konfliktgeschichte. Die 2005 eingesetzte „Kommission für Opfer und Überlebende für Nordirland“ bleibt umstritten. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob und in welcher Form eine bedingte Amnestie für Rechtsbrecher zur Versöhnung und Befriedung sowie zur Entlastung von Ermittlungsinstanzen und Justiz beitragen könnte. Die Befürworter argumentierten, dass eine solche Form der Aufarbeitung bessere Erfolgsaussichten habe als polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsprozesse.

Im Oktober 2025 hat die britische Labour-Regierung einen Gesetzesvorschlag im Unterhaus eingebracht, der das umstrittene Gesetz der konservativen Vorgängerregierung ersetzen soll. Dessen Umsetzung hätte bedeutet, dass alle laufenden gerichtlichen Verfahren und Voruntersuchungen zu bislang ungeklärten Fällen eingestellt werden. Verantwortlichen für Morde und andere Verbrechen wäre de facto Straffreiheit garantiert worden, sofern sie mit der Unabhängigen Kommission für Versöhnung und Informationsbeschaffung (ICRIR) kooperieren.

Gemäß dem neuen Gesetz sollen neun Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen werden. Des Weiteren werden 24 anhängige Ermittlungsverfahren einem „Prüfungsverfahren” seitens des Generalstaatsanwalts unterzogen, um zu entscheiden, ob sie wieder aufgenommen werden können oder von der neu geschaffenen Legacy Commission übernommen werden. Schließlich soll die Untersuchung zum Tod von acht IRA-Mitgliedern und einem Zivilisten, die 1987 in Loughgall, County Armagh, von der SAS erschossen wurden, wieder aufgenommen werden.

Öffentliche Debatte gibt es auch über das Programm zur Entschädigung der Opfer von Gewalt („Victims Payments Scheme“), das Anfang 2020 vom britischen Unterhaus verabschiedet wurde. Hauptstreitpunkt ist, wer von dem Programm profitieren soll. Das Programm folgt dem Prinzip „ohne eigenes Verschulden“. Das heißt, nur jene Opfer haben Anspruch auf Entschädigung, die nicht selbst an Gewaltakten beteiligt waren. Die Verordnung für Opfer und Überlebende („The Victims and Survivors Order“) aus dem Jahre 2006 hat in dieser Hinsicht keine Unterscheidung vorgenommen. Dies wurde damals als Beitrag dazu angesehen, die Spaltung in der Gesellschaft zu verringern. Bis zum 31. August 2026 werden Anträge entgegengenommen. Danach wird sich zeigen, inwiefern eine gerechte Entschädigung der Opfer nach diesem Modus zu einem langfristigen Frieden in Nordirland beitragen kann.

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Ariane Schoen ist seit ihrem Auslandssemester in Belfast eng mit der Region Nordirland verbunden. Beeinflusst durch die Brexit-Entscheidung, schrieb sie ihre Bachelorarbeit zur Rolle der Europäischen Union im Friedensprozess in Nordirland. Ariane Schoen hat im Bachelor Internationale Beziehungen an der TU Dresden und im Master Governance & Human Rights an der Leuphana Universität Lüneburg studiert. Anschließend arbeitete sie in einer entwicklungspolitischen Beratungsfirma. Derzeit ist sie bei einer auf nachhaltige Produkte ausgerichteten Fondsverwaltung angestellt.