Der Krieg in Sierra Leone (1991–2002) war einer der gewalttätigsten postkolonialen Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent. Zehn Jahre lang kämpften die Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) mit ihren Verbündeten gegen regierungstreue Milizen und zeitweise auch gegen die Armee.
Die RUF hatte anfänglich Gründe, gegen die Regierung vorzugehen. Sierra Leone war von Korruption durchsetzt und wirtschaftlich von internationalen Unternehmen dominiert, die sich im Zusammenspiel mit der Regierung an den heimischen Rohstoffen bereicherten. Der Bevölkerung fehlte es hingegen am Nötigsten, unter anderem am Geld für Schulgebühren und Gesundheitsversorgung. Eine Hauptursache des Krieges waren die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die geringen Aussichten junger Männer in den ländlichen Gebieten, Farmland zu bekommen. Hinzu kam der schwierige Zugang zu Bildung und der beschränkte gesellschaftliche Einfluss von jungen Leuten allgemein.
Doch im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen wendete sich die RUF immer mehr von ihren ursprünglichen Zielen ab. Mit Unterstützung der Regierung des benachbarten Liberia finanzierte sie sich hauptsächlich über den illegalen Handel mit Rohdiamanten. Als die RUF Mitte der 1990er Jahre in die politische und militärische Defensive geriet, agierte sie zunehmend brutaler. Weltweit bekannt wurde die Praxis, Zivilisten Arme und Hände abzuhacken. Ursprünglich sollten die Menschen auf diese Weise davon abgeschreckt werden, an den für Februar 1996 anberaumten Wahlen teilzunehmen und für Tejan Kabbah, den Kandidaten der Sierra Leone People’s Party (SLPP), zu stimmen. Kabbah wurde trotz der brutalen Einschüchterung zum Präsidenten gewählt. Ein Jahr später musste er jedoch wegen eines Militärputsches fliehen.
In dieser Situation gingen die Militärjunta mit der RUF ein Bündnis ein, um ihre Macht über das Land zu erhalten. In der Folge wurden tausende Zivilisten verstümmelt und getötet. Ihnen gegenüber stand die Civil Defence Force (CDF). Das waren Bürgermilizen, die sich landesweit organisierten, um Kabbah und seine Regierung ins Amt zurückzubringen. Unterstützung erhielten sie von Truppen der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS). Die Milizen gingen mit vergleichbarer Härte und Brutalität wie die RUF vor und machten sich ebenfalls massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig.
Der Weg zum Frieden
Präsident Kabbah und seine Regierung konnten nach neun Monaten in die Hauptstadt Freetown zurückkehren. Als Reaktion auf ihre Entmachtung besetzten Einheiten der RUF und ehemalige Militärs am 6. Januar 1999 mehrere Stadtteile und lieferten sich heftige Gefechte mit der westafrikanischen Friedenstruppe. Diese Kämpfe forderten rd. 5.000 Todesopfer. Der Krieg hat fast nur Verlierer hinterlassen – 90 % der Kriegsopfer waren Zivilisten, viele der Kindersoldaten haben nicht freiwillig gekämpft, ungezählte Mädchen und Frauen wurden Opfer sexualisierter Gewalt, 60 % der Bevölkerung flüchten innerhalb des Landes oder in die Nachbarstaaten, die wirtschaftliche und staatliche Infrastruktur wurde weitgehend zerstört.
Im Juli 1999 unterzeichneten die Rebellen und die Regierung in Lomé (Togo) ein Friedensabkommen. Die Gewalt ging dennoch weiter, auch die UN-Friedensmission (UNAMSIL) konnte sie zunächst nicht eindämmen. Im Jahr 2000 wurde die UNAMSIL-Truppe mit 17.500 Soldaten zu der zu diesem Zeitpunkt größten UN-Mission aufgestockt. Das offizielle Ende des Bürgerkrieges wurde am 18. Januar 2002 verkündet.
Die UN führte von 2001 bis 2004 ein umfassendes Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramm (DDR) durch. Rund 70.000 Kämpfer gaben ihre Waffen ab und registrierten sich für Ausbildungs- und Reintegrationsprogramme. Das UN-Mandat (UNAMSIL) endete am 31. Dezember 2005; bis Ende 2014 unterstützte die UNO die Friedenskonsolidierung. Die dringlichsten Aufgaben im Rahmen des Wiederaufbaus waren die Wiederherstellung der Verkehrsinfrastruktur, die Reintegration von Flüchtlingen und ehemaligen Kämpfern sowie die Schaffung funktionierender sozialer und politischer Institutionen (z.B. Justizreform, strukturelle Unterstützung von Frauen, Dezentralisierungsprogramm).
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) sollte durch ihre Arbeit (2002-2004) den Opfern Stimme und Gesicht geben, die Hintergründe der Verbrechen aufklären und die Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern unterstützen. Ihr Bericht enthält weitreichende, für die Regierung bindende Reformvorschläge zur Überwindung der strukturellen Konfliktursachen, die bis heute nur teilweise umgesetzt wurden.
Für die strafrechtliche Verfolgung der Haupttäter schufen die UNO und die Regierung einen Strafgerichtshof in Freetown. Nur das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten von Liberia, Charles Taylor, fand aus Sicherheitsgründen in Den Haag statt. Es gab insgesamt neun Verurteilungen zu Haftstrafen zwischen 15 und 52 Jahren. Erstmals in der Geschichte der internationalen Strafjustiz wurden auch Verantwortliche für die Rekrutierung von Kindersoldaten verurteilt. Neu war auch, dass Vergewaltigungen als Kriegshandlung verhandelt wurden.
Mit dem Aufbau einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) und eines Strafgerichtshofs betrat Sierra Leone bei der juristischen Aufarbeitung eines Bürgerkriegs Neuland. Doch das gleichzeitige Wirken dieser unterschiedlichen Institutionen führte auch dazu, dass viele Menschen sie verwechselten und irrtümlich davon ausgingen, dass die Berichte, die von der TRC gesammelt wurden, Zeugenaussagen für das Gericht darstellten. So verweigerten sie oft die Zusammenarbeit mit der Kommission aus Furcht vor Repressalien durch ehemalige Kämpfer.
Erfolge und Fortschritte
Der Wechsel im Präsidentenamt nach den Wahlen von 2007 von Ahmad Tejan Kabbah (Sierra Leone People’s Party - SLPP) zu Ernest Bai Koroma (All People’s Congress - APC), war ein Zeichen politischer Stabilität und demokratischer Reife. Auch die Wiederwahl Koromas Ende 2012 und die friedlich verlaufenden Kommunalwahlen, die seit 2004 alle vier Jahre stattfinden, wurden als Erfolg gewertet.
Eine größere Herausforderung für die demokratischen Institutionen waren die Wahlen im März 2018, die von großen Spannungen begleitet waren. Präsident Koroma durfte nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten. Doch letztendlich verliefen die Wahlen relativ friedlich. Im zweiten Wahlgang wurde der bisherige Oppositionsführer Julius Maada Bio (SLPP) zum Präsidenten gewählt. Die Wiederwahl von Bio im Juni 2023 wurde von der APC und anderen Oppositionsparteien heftig angefochten, was zu öffentlichen Protesten und Vorwürfen der Wahlfälschung führte. In der Folge verschärften sich die Spannungen zwischen der SLPP und der APC – und damit einhergehend – die ethnopolitische Spaltung zwischen den beiden größten Bevölkerungsgruppen, den Mende und Temne.
Ein Schwerpunkt der Reformpolitik bildeten die Gesetze und Maßnahmen zur Stärkung der Rechte von Frauen und jungen Menschen. Die „Gender Acts“ (2007) legen Strafen für sexualisierte Gewalt auch innerhalb der Ehe fest und regeln u.a. das Erbrecht für Frauen neu. Das im Januar 2023 in Kraft getretene GEWE-Gesetz (Gender Equality and Women’s Empowerment Act) zielt darauf ab, die politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe von Frauen zu stärken und strukturelle Diskriminierung abzubauen. Wichtige Festlegungen waren u.a. eine Beschäftigungsquote für Frauen von 30 % im öffentlichen Sektor und in Firmen mit mehr als 25 Mitarbeitenden, Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern sowie der Anspruch auf 14 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub.
2011 wurde eine nationale Jugendkommission eingerichtet, 2013 folgte ein Ministerium für Jugendangelegenheiten. 2014 und 2018 wurden Strategiepapiere als Grundlage für die Jugendpolitik erstellt, mit dem Ziel, die Jugend durch Bildung, Qualifizierung, Beschäftigung, bürgerschaftliches Engagement und Gesundheitsdienste zu stärken. Doch nach wie vor sind junge Menschen in der Politik und in gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen unterrepräsentiert, obwohl etwa 60 % der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sind.
Die Regierung von Präsident Bio hat 2018 das Programm für kostenlose qualitative Schulbildung (FQSE) ins Leben gerufen, das den Zugang zu kostenloser Grund- und Sekundarschulbildung verbessern soll. Trotzdem gibt es immer noch Probleme im Schulwesen, wie schlechte Infrastruktur, Lehrer ohne Ausbildung und fehlende Lehrmaterialien.
Probleme und Herausforderungen
Im August 2022 kam es vor allem in der Hauptstadt Freetown und in weiteren Städten im Norden des Landes zu massiven Protesten gegen die Regierung von Präsident Bio. Auslöser waren die steigende Inflation und die Erhöhung der Lebenshaltungskosten. Die Demonstrierenden forderten den Rücktritt des Präsidenten. Die Proteste eskalierten gewaltsam, mindestens 27 Zivilisten und sechs Polizisten kamen ums Leben. Die Regierung reagierte mit einer landesweiten Ausgangssperre und schaltete zeitweise das Internet ab.
Am 26. November 2023 versuchten abtrünnige Offiziere und nicht identifizierte Kämpfer die Regierung zu stürzen. Bei den Angriffen auf Kasernen und Gefängnisse in Freetown starben 14 Soldaten, ein Polizist, ein Gefängniswärter und zwei Zivilisten. Etwa 1.890 Häftlingen gelang die Flucht. Die Regierung verhängte erneut eine landesweite Ausgangssperre. In der Folge wurden mehr als 80 Personen festgenommen, darunter auch der ehemalige Präsident Ernest Bai Koroma, dem Hochverrat vorgeworfen wird. Im Juli 2024 wurden elf ehemalige Soldaten und Polizisten wegen ihrer Beteiligung am Putschversuch zu langen Haftstrafen verurteilt.
Eines der wichtigsten Probleme für junge Menschen in Sierra Leone ist die Arbeitslosigkeit. In einigen Gebieten wird sie für Jugendliche auf über 60 % geschätzt.
Mehr als 80 % der Bevölkerung betreiben Subsistenzlandwirtschaft bzw. sind im informellen Sektor beschäftigt. Es gibt so gut wie keine produzierende Industrie.
Trotz der Fortschritte bei der staatlichen Kontrolle des Diamantensektors wird immer noch ein erheblicher Teil der Diamanten, geschätzt etwa 50 %, illegal ausgeführt. Der Steuersatz für die meisten legal exportierten Diamanten beläuft sich auf gerade einmal 3 %. Auch von der Ausfuhr anderer Rohstoffe, z.B. Eisenerz und Rutil, profitieren die Staatskasse und die Bevölkerung relativ wenig.
Internationale Agrarkonzerne verschaffen sich oft mithilfe von Bestechungsgeldern und falschen Versprechungen die Kontrolle über riesige Landflächen, die sie zu Palmöl- und Zuckerrohrplantagen umwandeln, um u.a. Biokraftstoff zu produzieren. Dem Staat gehen so wichtige Einnahmen verloren, die dringend für die Stärkung der Wirtschaft und die Entwicklung des Bildungs- und Gesundheitswesens benötigt werden und die finanzielle Situation der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten ist oft prekärer als zuvor.
Die Ebola-Epidemie von 2014 bis 2016 hat die Situation zusätzlich verschärft. Der Tourismussektor, der gerade zuvor gewachsen war, ist eingebrochen. In vielen Gegenden blieb aufgrund der Quarantänemaßnahmen die Ernte auf den Feldern. Die Flächen konnten nicht neu bestellt werden, weil es an Wanderarbeitern fehlte. Im gleichen Zeitraum sank der Weltmarktpreis für Eisenerz auf die Hälfte. Von diesem wirtschaftlichen Einbruch hat sich das Land bislang kaum erholt.
Sowohl die Covid-19-Epidemie mit den Lockdowns als auch der Ukrainekrieg und die folgende Erhöhung von Lebensmittelpreisen, vor allem für Speiseöl und Weizen, haben die wirtschaftliche Armut im Land weiter anwachsen lassen. Dreiviertel der Menschen in Sierra Leone sagen, dass es Zeiten gibt, in denen sie nicht genug Geld haben, um Essen zu kaufen.
Ein weiteres besorgniserregendes Krisensymptom in Nachkriegsgesellschaften ist das Ausmaß an sexueller Gewalt, insbesondere gegen Mädchen.
Ein Beispiel für die zunehmend negativen Auswirkungen der Klimakrise auf Sierra Leone war das Schlammlawinen-Unglück am Rande von Freetown im August 2017.
Korruption war eine der Ursachen des Krieges und gilt nach wie vor als ein zentrales Entwicklungshemmnis. Sie betrifft nahezu alle Bereiche von Verwaltung über Justiz bis hin zu öffentlichen Aufträgen, dem Finanzsektor und der Vergabe von Land- und Rohstoffkonzessionen.
Um die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen, nimmt die Regierung zunehmend Einfluss auf die Medien und beschneidet die Meinungs- und Versammlungsfreiheit (BTI Sierra Leone 2024). Im Dezember 2023 wurde die Influencerin Hawa Hunt während einer Live-Fernsehsendung verhaftet, weil sie sich kritisch über den Präsidenten und die First Lady geäußert hatte. Sie wurde auf der Grundlage des Cybersecurity and Crime Act 2021 angeklagt und erst nach über zwei Monaten wieder auf freien Fuß gesetzt.
Infolge all dieser schwierigen Umstände ist die Situation junger Leute in Sierra Leone heute kaum besser als vor dem Bürgerkrieg. Die soziale Sprengkraft, die potenziell von einer extrem jungen Bevölkerung ohne Perspektiven ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Ungefähr ein Drittel ist jünger als 15 Jahre. Laut Gallup Survey (2023) gaben 73 % der Befragten an, dass sie dauerhaft auswandern würden, wenn sie könnten. Unter der Altersgruppe von 15 bis 29 Jahren liegt dieser Anteil bei 79 %. Das ist weltweit einer der höchsten Werte.