Am Sonntag, den 8. Dezember 2024, begann in Syrien eine neue Zeitrechnung. In den Morgenstunden verließ Machthaber Baschar al-Assad die Hauptstadt Damaskus in Richtung Russland, sein Regime war gestürzt. Damit endeten fast 14 Jahre Krieg, 54 Jahre Diktatur der Familie Assad und 61 Jahre Herrschaft der Baath-Partei.
Syrerinnen und Syrer innerhalb und außerhalb des Landes feierten diesen Moment als „Wiedergeburt“. Beobachterinnen und Beobachter verwiesen auf den Fall der Mauer in Deutschland. Tatsächlich war Syrien neben China, Nordkorea und Kuba eines der wenigen Länder, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht mit dem pseudosozialistischen Einparteienregime gebrochen hatte. Diese historische Einordnung ist wichtig, denn sie hilft zu verstehen, welche Bedeutung der Sturz des Assad-Regimes für die Menschen in Syrien hat und warum er – ungeachtet der weiteren Entwicklung – von ungläubiger Freude, Begeisterung und Erleichterung begleitet wird. Gleichzeitig lässt sie erahnen, vor welch immensen Herausforderungen die Bevölkerung und die neuen Machthaber stehen.
Schwieriges Erbe
Drei Generationen von Syrerinnen und Syrern sind mit der Angst vor Verhaftung und Folter, mit staatlicher Willkür, Ausbeutung und Demütigung, mit sozialistischer Propaganda und arabischem Nationalismus aufgewachsen. Assads Narrative von „kurdischem Separatismus“ und „sunnitischem Extremismus“, von „bedrohten Minderheiten“ (die er angeblich schütze), von „ausländischen Verschwörern“ und einer flexibel interpretierbaren „terroristischen Gefahr“ haben die Gesellschaft gespalten und wirken bis heute nach.
Hinzu kommen strukturelle Missstände: Korruption und Klientelismus, ein aufgeblähter Beamtenapparat, allmächtige Geheimdienste, gleichgeschaltete Medien und eine vollständig vereinnahmte Gesellschaft – von der Handelskammer bis zum Syrischen Roten Halbmond, von der Frauenunion bis zum Bauern- und Journalistenverband – alle Organisationen waren vom Regime kontrolliert. Jahrzehntelang konnten die Menschen in Syrien nicht ihre Meinung sagen, nicht über Politik diskutieren, nicht ohne Angst schlafen, sich weder frei entfalten noch unabhängig organisieren. Sie waren Untertanen eines verbrecherischen Regimes, bis sie am 8. Dezember 2024 über Nacht zu Bürgerinnen und Bürgern eines neuen Syriens wurden – wie auch immer dieses aussehen mag.
Jede schlechte Nachricht – seien es Massaker an der Zivilbevölkerung, die Verschiebung eines Parteiengesetzes oder die Ernennung von Extremisten – lässt grundsätzliche Zweifel an der neuen Führung aufkommen. Will sie wirklich alle einbeziehen oder nur Legitimität erzeugen? Denkt der selbsternannte Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa so moderat, wie er redet? Und läuft es mit so viel Macht in den Händen eines Islamisten am Ende nicht doch auf ein autoritäres, religiös geprägtes System hinaus?
Damit der Machtwechsel zu einem besseren Leben für alle Menschen in Syrien führt, müssen in fünf Bereichen Fortschritte erzielt und die richtigen Weichen gestellt werden: territoriale Einheit, innere Sicherheit, politische Mitbestimmung, wirtschaftliche Entwicklung und Gerechtigkeit.
Territoriale Einheit
Auch Monate nach dem Machtwechsel hat die Übergangsregierung in Damaskus nicht die vollständige Kontrolle über das syrische Staatsgebiet. Im Norden sind Teile des Grenzgebietes von der Türkei besetzt, der Nordosten steht nach wie vor unter einer kurdisch geprägten Verwaltung, in der südöstlichen Provinz Sweida müssen drusische Interessen eingebunden werden, während Israel von Südwesten aus militärisch angreift und Fakten schafft. Für die territoriale Einheit Syriens und den Zusammenhalt der Gesellschaft ist es deshalb entscheidend, wie es im Norden und Süden weitergeht. Gelingt es, die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien (AANES) in das übrige Syrien zu integrieren und dabei sowohl kurdische als auch zentralstaatliche Interessen zu berücksichtigen? Wird die Türkei damit zufrieden sein, sodass sie die Kontrolle über die besetzten Gebiete vollständig an die Regierung in Damaskus übergibt und die von ihr finanzierten Söldnertruppen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) auflöst? Findet sich im Süden ein Weg, die Drusen und ihre Strukturen in den neuen Staat einzugliedern? Und wer kann das aggressive Vorgehen Israels und die damit einhergehende Instrumentalisierung der Drusen stoppen?
Kurden
Drei Aspekte stehen im Mittelpunkt der Verhandlungen zwischen der Übergangsregierung und der kurdisch dominierten AANES: Militär, Verwaltung und Ressourcen. Im Nordosten befinden sich die wenigen Öl- und Gasvorkommen Syriens und große landwirtschaftliche Flächen, auf denen vor allem Weizen für die Brotproduktion angebaut wird. Die AANES hat in den vergangenen zehn Jahren eigenständige Verwaltungsstrukturen aufgebaut – mit einem Justiz- und Bildungssystem, mit Zulassungs- und Genehmigungsverfahren und eigenen Ausweisdokumenten. Ihre bewaffneten Einheiten – die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) – sind langjährige Verbündete der USA im Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) und gelten mit 60.000 Kämpfern als das stärkste und professionellste Militärbündnis neben der nationalen Armee.
Wie soll all das in den neuen syrischen Staat überführt werden? Das als historisch gefeierte Abkommen zwischen Übergangspräsident al-Scharaa und SDF-Kommandeur Mazlum Abdî vom 10. März 2025 enthält kaum konkrete Anhaltspunkte. Es sieht vor, dass alle zivilen und militärischen Einrichtungen im Nordosten Syriens in die Verwaltung des syrischen Staates übergehen, einschließlich der Grenzübergänge, des Flughafens Qamishli und der Öl- und Gasfelder. Die Details sollen bis Ende 2025 in verschiedenen Exekutivausschüssen ausgehandelt werden.
Dort wird intensiv gerungen: Die SDF sind bereit, Teil der syrischen Armee zu werden und sich deren zentralem Kommando zu unterstellen, wollen aber ihre Kämpferinnen und Kämpfer nicht mit Islamisten zu neuen Einheiten vermischen, sondern ihre eigenen Verbände beibehalten. Die AANES will keine einseitige Selbstauflösung, sondern eine Fusion zweier Verwaltungssysteme. Sie möchte vor allem ihre kurdischsprachigen Schulen erhalten und konnte bereits die Anerkennung ihrer Abschlüsse durchsetzen. Fortschritte im Erb- und Personenstandsrecht zugunsten der Frauen will die AANES nicht wieder aufgeben. Die natürlichen Ressourcen gehörten allen Syrerinnen und Syrern, betont die Selbstverwaltung seit Jahren, von ihrer Nutzung sollen deshalb alle Menschen in Syrien profitieren und nicht nur – wie unter dem alten Regime – die Herrschenden in Damaskus.
Aus kurdischer Sicht enthält das Abkommen vom 10. März einige wichtige Punkte. Es bestätigt, dass die kurdische Gemeinschaft eine autochthone Gemeinschaft Syriens ist mit vollen staatsbürgerlichen und verfassungsmäßigen Rechten. Daneben sieht es einen Waffenstillstand auf dem gesamten Territorium vor – also auch ein Ende der türkischen Angriffe. Und es umfasst die sichere Rückkehr aller vertriebenen Syrerinnen und Syrer in ihre Heimatorte, was für die kurdische Bevölkerung in den von der Türkei besetzten Gebieten bislang nicht ohne Weiteres möglich war. Vieles hängt deshalb vom Verhalten der Türkei ab.
Türkei
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt zur Durchsetzung eigener Interessen seit Jahren auf militärischen Druck. Für ihn ist die AANES ein „Terrorstaat“, da sie unter maßgeblichem Einfluss der Partei der Demokratischen Union (PYD), der syrischen Schwesterpartei der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), steht. Zudem stellen deren bewaffnete Brigaden – die Volksverteidigungseinheiten YPG (Männer) und YPJ (Frauen) – den Großteil der SDF, was zu Verwerfungen mit dem NATO-Partner USA führte. Die Terroristen der einen sind die Verbündeten der anderen.
In drei Interventionen hatte die Türkei 2016, 2018 und 2019 Gebiete entlang der Grenze unter ihre Kontrolle gebracht und mithilfe der islamistischen SNA-Milizen kontrolliert. Dabei wurden mehrere Hunderttausend Menschen vertrieben. Jahrelang griff die Türkei den Nordosten zudem mit Drohnen und Raketen an, tötete dabei immer wieder Zivilisten und zerstörte zivile Infrastruktur.
Im Zuge der Entspannungspolitik zwischen der türkischen Regierung und der PKK könnte sich Erdoğan nun auch mit den Kurden im Nordosten Syriens einigen. Ende Februar 2025 hatte der seit 26 Jahren in der Türkei inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan zur Auflösung der PKK aufgerufen, die kurz darauf erklärte, die Waffen niederlegen zu wollen.
Tatsächlich ist die Türkei die große Gewinnerin des Machtwechsels in Syrien. Alle ihre Interessen – Rückkehr der syrischen Flüchtlinge, Ende der kurdischen Autonomie, Verstetigung des eigenen Einflusses und wirtschaftlicher Aufschwung – könnten sich erfüllen. Viele der mehr als dreieinhalb Millionen in der Türkei lebenden Syrerinnen und Syrer werden freiwillig in ihre Heimat zurückkehren, sobald diese sicher und stabil ist. Die Selbstverwaltung im Nordosten wird aufgelöst, in Damaskus sitzen die eigenen Verbündeten an den Schalthebeln der Macht, Teile der SNA werden in die syrische Armee integriert. Sollte Syrien wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen, könnte die Türkei massiv profitieren, schließlich ist Syrien für den nördlichen Nachbarn mit 900 Kilometern gemeinsamer Grenze das Tor zur arabischen Welt. Selbst eine dauerhafte militärische Präsenz in Syrien ist denkbar – trotz des Rückzugs aus den besetzten Grenzgebieten. Denn angesichts der wachsenden Bedrohung durch Israel könnte die syrische Regierung einen starken militärischen Partner zur Abschreckung brauchen. Erdoğan steht bereit, er möchte die türkischen Militärbasen im Norden behalten und weitere in Zentralsyrien errichten – sehr zum Ärger Israels.
Israel
Die israelische Regierung betrachtet die Türkei seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 zunehmend als Feind und warnt vor einem „türkischen Protektorat“ in Syrien. Nachdem die israelische Regierung in den vergangenen anderthalb Jahren die Islamische Republik Iran und ihre Unterstützer in der Region deutlich geschwächt hat, scheint sie die Türkei als neue Gefahr für die eigene Sicherheit zu betrachten und ihre Präsenz in Syrien ins Visier zu nehmen.
Bereits seit 2017 fliegt Israel regelmäßig Luftangriffe in Syrien. Diese richteten sich bis zum 8. Dezember 2024 vor allem gegen die iranischen Revolutionsgarden, die in den vergangenen 14 Jahren ihre Präsenz in Syrien ausgebaut und Assads Reich zum entscheidenden Brückenkopf ihrer „Achse des Widerstands“ gemacht hatten. Israel hatte weniger ein Problem mit dem Assad-Regime – das nach den Kriegen von 1948, 1967 und 1973 die Waffenstillstandslinie auf dem Golan ruhig gehalten hatte – als mit dessen Unterstützern, neben dem iranischen Regime vor allem die Hisbollah im Libanon, deren Nachschubwege durch Syrien führten.
Bis heute sind die syrischen Golanhöhen von Israel besetzt und annektiert, Verhandlungen über eine Rückgabe und ein Friedensabkommen scheiterten zuletzt im Jahr 2000. Syrien hat damit als einziges arabisches Land noch einen territorialen Konflikt mit Israel. Nach dem Sturz Assads kündigte die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Waffenstillstandsabkommen von 1974 einseitig auf. „Präventiv“ zerstörte die israelische Armee mit mehr als 700 Luftangriffen die militärische Infrastruktur des Nachbarn und rückte mindestens zwölf Kilometer tief auf syrisches Gebiet vor. Sie kontrolliert die UN-Pufferzone auf dem Golan und hat den Berg Hermon eingenommen, die militärstrategisch wichtige höchste Erhebung der Region. Israelische Truppen haben Kontrollpunkte und drei neue Militärposten errichtet, Straßen gesperrt, Zufahrtswege planiert und die Vertreibung von Zivilisten ausgelöst. Netanjahu droht offen mit einer Militärintervention in Richtung Damaskus und fordert eine entmilitarisierte Zone in den drei südsyrischen Provinzen Quneitra, Daraa und Sweida.
Die Übergangsregierung hat auf die Eskalation bisher zurückhaltend reagiert. Außenminister Asaad al-Shaybani betont, man habe die iranische Präsenz im Land beendet und damit die Sicherheit Israels gewährleistet, von Syrien gehe keine Bedrohung aus. Man halte sich an das Waffenstillstandsabkommen von 1974 und verlange dies auch von Israel.
Netanjahu argumentiert, den neuen islamistischen Machthabern sei nicht zu trauen, Israel müsse deshalb selbst für seine Sicherheit sorgen und wolle den Minderheiten in Syrien Schutz bieten. Drusische Vertreter haben die Einmischung Israels jedoch zurückgewiesen. Sie verhandeln mit der Übergangsregierung über die Eingliederung ihrer Milizen in die nationale Armee und stellen ähnliche Forderungen wie die Kurden für die SDF.
Innere Sicherheit
Nach 14 Jahren eines äußerst brutal geführten Krieges zwischen dem Assad-Regime und verschiedenen, zum Teil stark ideologisierten und radikalisierten Aufständischen, der von ausländischen Mächten missbraucht und befeuert wurde, ist Syrien ein Land voller bewaffneter Männer und offener Rechnungen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Sicherheitslage insgesamt erstaunlich stabil, auch wenn es immer wieder zu lokalen Kämpfen, Gewaltausbrüchen oder Racheakten kommt.
Erklärtes Ziel von Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa ist es, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen, alle nichtstaatlichen Akteure zu entwaffnen und Teile von ihnen in die nationale Armee zu integrieren. Diese soll aus 20 Divisionen bestehen. Dabei setzt er auf langjährige Vertraute der HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham), die bereits in Idlib für Sicherheit und Ordnung sorgten, aber auch für Repression und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden.
In den ersten Tagen nach dem Sturz des Assad-Regimes wurde eine Amnestie für Militärdienstleistende erlassen. In sogenannten Versöhnungszentren konnten Soldaten niederen Ranges ihre Waffen abgeben, sich registrieren lassen und gehen. Auf der „Konferenz des Sieges“ Ende Januar 2025 wurden die Strukturen des alten Regimes – unter anderem Geheimdienst, Armee, Baath-Partei, Parlament – offiziell aufgelöst. Gleichzeitig sollten sich auch alle Rebellenfraktionen und Milizen auflösen und in die neue Armee integrieren. Vertreter der kurdisch geführten SDF, der drusischen Verbände in Sweida und der Anführer der stärksten Division in der südsyrischen Provinz Daraa, Ahmad al-Awda, waren nicht anwesend – über ihre Eingliederung wurde und wird gesondert verhandelt. Der neue Sicherheitsapparat besteht aus drei Elementen: der Polizei, der sogenannten Allgemeinen Sicherheit und dem Geheimdienstdirektorat. Alle drei sowie die Armee und das Verteidigungsministerium werden von ehemaligen Vertretern des HTS-Sicherheitsapparats in Idlib geleitet.
Immer wieder kommt es in Syrien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die meist einen lokalen Auslöser haben. Dabei stoßen ehemalige Vertreter des Regimes, aufgebrachte Einheimische, Dschihadisten, Assad-Anhänger und Sicherheitskräfte der neuen Regierung aufeinander. Wie leicht lokale Kämpfe zu ungehemmten Massakern eskalieren können, zeigte sich Anfang März 2025 an der Küste, als innerhalb weniger Tage mehr als 1.600 Menschen getötet wurden, darunter Hunderte alawitische Zivilisten.
Ereignisse wie diese offenbaren vor allem die Schwäche der neuen Führung. Trotz seiner Machtbefugnisse hat al-Scharaa die Lage nicht vollständig unter Kontrolle. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen operieren bewaffnete Einheiten des alten Regimes weiterhin im Untergrund und organisieren sich neu, um das Land zu destabilisieren. Sie erhalten virtuelle Unterstützung von Assad-Anhängern, russischen Fake-Profilen und iranisch finanzierten Nutzern, die gezielt Falschnachrichten und manipulierte Bilder im Internet verbreiten, um Diskurse in den sozialen Medien zu beeinflussen und verschiedene gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufzuhetzen.
Zum anderen werden die Anweisungen aus Damaskus – keine außergerichtliche Gewalt, keine Massaker, keine Plünderungen – nicht von allen befolgt. Bestimmte Gruppen stellen die Autorität von Ahmad al-Scharaa infrage, darunter reguläre Mitglieder der Sicherheitskräfte, ehemalige Einheiten der SNA, die auf Drängen der Türkei in die neue Armee integriert wurden, und Dschihadisten, die al-Scharaa für einen Verräter halten und sich seiner Herrschaft ohnehin nicht unterworfen haben. Letztere könnten sich mittelfristig terroristischen Gruppen wie dem IS oder al-Qaida anschließen.
Der Umgang mit dem IS ist eine weitere Herausforderung für den neuen Staat. Im Nordosten des Landes verstecken sich nach Angaben aus US-Sicherheitskreisen mehrere tausend aktive IS-Mitglieder im Untergrund. Rund 8.500 Dschihadisten, Terrorverdächtige oder radikalisierte junge Männer sitzen in den Gefängnissen der Selbstverwaltung. Zudem müssen mehr als 38.000 Angehörige von IS-Anhängern - Frauen, Kinder und Jugendliche, die unter katastrophalen Bedingungen in den Lagern al-Hol und Roj leben - bewacht, versorgt und nach Möglichkeit resozialisiert werden. Seit 2019 kümmern sich die SDF mit Unterstützung der USA um dieses Erbe des IS. Sollte US-Präsident Donald Trump die 2.000 US-Soldaten abziehen und die humanitäre Hilfe von USAID einstellen, ohne ein alternatives Konzept zur Eindämmung des IS zu entwickeln, ist ein Erstarken der Terrororganisation absehbar. AANES strebt daher die Auflösung des Lagers al-Hol bis Ende 2025 an. Insgesamt sollen 15.000 Syrerinnen und ihre Kinder in eine verarmte und traumatisierte syrische Gesellschaft resozialisiert werden, 15.000 irakische Personen in den Irak zurückkehren und 8.000 Angehörige von Drittstaaten rückgeführt werden.
Politische Mitbestimmung
Niemand hatte damit gerechnet, dass die Offensive, die HTS am 29. November 2024 von Idlib aus startete, nur elf Tage später mit dem Sturz Assads enden würde. HTS wollte die Luftangriffe des Regimes und Russlands stoppen, eine Machtübernahme in Damaskus lag damals außerhalb jeder Vorstellungskraft. Als Ahmed al-Scharaa am 8. Dezember Damaskus erreichte, musste er deshalb improvisieren und schnell entscheiden. Er holte seine HTS-Minister aus Idlib und übertrug ihnen die Amtsgeschäfte, wohl wissend, dass diese geschäftsführende Regierung nur eine Notlösung war. Bis März 2025 versprach er eine Übergangsregierung, die inklusiver und kompetenter sein sollte.
Al-Scharaa begann eine Politik der offenen Tür. Monatelang empfing er fast täglich Delegationen aus dem In- und Ausland – Geschäftsleute und Geistliche, Kommandeure und Exilsyrer, Stammesvertreter und Mitglieder der Zivilgesellschaft, Außenminister, Staatschefs, Vertreter der EU und der UN. Er hörte zu, warb um Unterstützung, machte sich ein Bild vom Zustand der syrischen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft nach Jahren der Isolation als gesuchter Terrorist und Dschihadistenführer, so schien es. Daneben gab der HTS-Chef mehreren ausländischen Medien Interviews und bemühte sich, nach innen und außen Vertrauen zu schaffen. So gelang es ihm, den Zusammenbruch des Staates und ein Abgleiten ins Chaos zu verhindern.
Ende Januar 2025 ließ sich al-Scharaa auf der „Konferenz des Sieges“ zum Übergangspräsidenten ernennen. Eine groß angekündigte „Konferenz des Nationalen Dialogs“, die ursprünglich für mehrere Tage geplant war, um eine Übergangsregierung zu wählen und Komitees zu bilden, die eine Verfassung ausarbeiten und Präsidentschafts- und Parlamentswahlen innerhalb der nächsten vier Jahre vorbereiten sollten, verlief Ende Februar enttäuschend.
Offene Kritik gab es auch an al-Scharaas Verfassungserklärung Anfang März 2025. Sie enthält zwar demokratische Prinzipien wie Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, eine unabhängige Justiz und die Anerkennung internationaler Menschenrechtskonventionen, macht diese aber von einem nahezu allmächtigen Präsidenten abhängig. Direkt oder indirekt ernennt al-Scharaa alle politischen Entscheidungsträger – die Regierung, das Parlament und das Oberste Gericht. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, kann Gesetze vorschlagen und mithilfe eines von ihm ernannten Nationalen Sicherheitsrates den Ausnahmezustand verhängen. Letzteres weckt bei syrischen Oppositionellen böse Erinnerungen, denn die Willkürherrschaft der Assads beruhte jahrzehntelang darauf, dass der 1963 verhängte Ausnahmezustand alle an sich guten Gesetze außer Kraft setzte. Auch ein Parteiengesetz wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, was die Frage aufwirft, wie politische Mitbestimmung und Teilhabe organisiert werden soll.
Al-Scharaas Vision wird indes immer klarer. Er setzt beim politischen Übergang ausschließlich auf Einzelpersonen, die aufgrund ihrer Kompetenz und Erfahrung glaubwürdig erscheinen. Vertreter bestimmter Parteien oder Bündnisse werden vorerst nicht einbezogen. So vermeidet er Diskussionen über Legitimität und Repräsentativität und ermöglicht eine direktere Kontrolle von Ministern und Abgeordneten.
Dies zeigte sich auch bei der Vorstellung der Übergangsregierung am 29. März 2025, die sich wie versprochen aus Technokraten mit unterschiedlichem Hintergrund zusammensetzt. Die Schlüsselressorts Außen, Inneres, Justiz und Verteidigung werden weiterhin von ehemaligen HTS-Politikern kontrolliert, 14 der insgesamt 23 Minister haben keine Verbindung zu HTS. Elf von ihnen kommen aus der Zivilgesellschaft, drei waren vor 2011 für das Assad-Regime tätig. Eine Christin ist Ministerin für Arbeit und Soziales, der Verkehrsminister ist Alawit aus Latakia, der Landwirtschaftsminister kommt aus Sweida und der Bildungsminister ist Kurde aus Afrin. Alle anderen Mitglieder des Kabinetts sind sunnitische Araber. Mit dieser Regierung versuchte al-Scharaa, es allen recht zu machen, was gleichzeitig bedeutete, niemanden ganz zufriedenzustellen. Entsprechend gab es Kritik von verschiedenen Seiten.
Ein salafistisches Weltbild hat sich bei Personalentscheidungen bislang nicht durchgesetzt. Zwar ist ein konservativer sunnitischer Islam stärker als zuvor im Staat verankert und wird offiziell propagiert, aber nach religiös begründeter staatlicher Repression sieht es derzeit nicht aus. Mit Sheich Osama Al-Rifai wurde ein gesellschaftlich anerkannter und populärer Gelehrter zum Großmufti Syriens ernannt, der Minister für religiöse Angelegenheiten ist für ein eher gemäßigtes Islamverständnis bekannt.
Dass Syrien nach Jahrzehnten der Diktatur nicht innerhalb weniger Monate zu einer liberalen Demokratie werden würde, war absehbar. Kurz- und mittelfristig läuft die politische Entwicklung auf ein autoritäres System hinaus, in dem die Macht weiterhin zentralisiert und monopolisiert ist. Viel wird daher von der Person des Präsidenten abhängen und davon, ob er bereit sein wird, bei einer Stabilisierung des Landes Macht abzugeben und sich nach Ablauf der fünfjährigen Übergangszeit demokratischen Wahlen zu stellen.
Wirtschaft
Die Menschen in Syrien versinken seit Jahren im Elend. 90 Prozent leben in Armut, mehr als 16 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, die Hälfte der Bevölkerung sind Vertriebene – 7,4 Millionen innerhalb und 6,5 Millionen außerhalb des Landes. Verschärft wird die Not vor allem im Norden durch die Folgen des Erdbebens vom Februar 2023, eine Cholera-Epidemie und die Auswirkungen des Klimawandels in Form von Wassermangel und Dürren. An dieser Ausgangslage hat sich auch Monate nach dem Machtwechsel nichts geändert.
Ein Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen vom Februar 2025 zeichnet ein düsteres Bild. Demnach wurden ein Drittel der Gesundheitszentren und fast ein Drittel aller Wohneinheiten während des Krieges zerstört oder schwer beschädigt. Mehr als die Hälfte der Wasseraufbereitungsanlagen und Abwassersysteme sind nicht mehr funktionsfähig, sodass fast 14 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen haben. Die Energieproduktion ist um 80 Prozent zurückgegangen, mehr als 70 Prozent der Kraftwerke und Übertragungsleitungen sind beschädigt. Zwischen 40 und 50 Prozent der Kinder zwischen 6 und 15 Jahren gehen nicht zur Schule.
Neben humanitärer Hilfe braucht Syrien deshalb vor allem langfristige Investitionen in die Entwicklung des Landes – Infrastruktur und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Energieversorgung müssen erneuert, Produktion und Landwirtschaft wiederbelebt werden. Aufgrund der massiven Vertreibungen und Enteignungen durch das Assad-Regime muss beim Wiederaufbau immer auch die Frage der Eigentumsrechte berücksichtigt werden. Hunderttausende Menschen kehren in ihre Heimatorte zurück und stehen vor den Ruinen ihrer Häuser oder vor neuen Bewohnern, die die Wohnungen übernommen und womöglich repariert haben.
Das größte Hindernis für eine internationale Wirtschaftsförderung und ausländische Investitionen sind die US-Sanktionen unter dem Caesar-Act, die sich auch gegen Dritte richten und damit andere Staaten und private Unternehmen von einem nachhaltigen Engagement in Syrien abhalten. Da sämtliche sektorbezogenen Sanktionen der USA, der EU und Großbritanniens wegen der Gewalt des Assad-Regimes verhängt wurden, sollten sie grundsätzlich aufgehoben und nicht nur vorübergehend ausgesetzt werden – vor allem im Finanzsektor, in der Öl- und Gasindustrie, im Baugewerbe, im Kraftwerksbau, in der Informationstechnologie und was den Personen- und Warenverkehr betrifft. Dies würde es sowohl Europa als auch den Regionalmächten ermöglichen, eine größere Rolle bei der Stabilisierung Syriens zu spielen, an der sie als Nachbarn ein großes Interesse haben – allen voran die Türkei, Katar und Saudi-Arabien.
Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung. Aufgrund seiner geografischen Lage und klimatischen Bedingungen hat Syrien von allem etwas: Rohstoffe, Landwirtschaft, Industrie und Tourismus. Die Syrerinnen und Syrer blicken auf eine jahrtausendealte Zivilisation zurück und haben dank ihrer Widerstandsfähigkeit, Kreativität und Innovationskraft auch 40 Jahre sozialistische Planwirtschaft überlebt. Hinzu kommt die syrische Diaspora, die aus erfolgreichen Unternehmern, NGO-Gründerinnen, Medizinern, Juristinnen und Ingenieuren besteht und ein großes Potenzial für die Entwicklung des Landes darstellt. Die Hoffnung ist daher, dass sich das Land mit einer gewissen Anschubfinanzierung von außen und den entsprechenden Rahmenbedingungen im Inneren – Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Stabilität – mittelfristig aus eigener Kraft regenerieren und entwickeln kann.
Gerechtigkeit
Die wohl größte Herausforderung für die Zukunft Syriens ist die Aufarbeitung der Vergangenheit. Über Jahrzehnte erlittenes Unrecht, systematische Verbrechen des Assad-Regimes und 14 Jahre Krieg müssen dokumentiert, aufgeklärt, untersucht und vor Gericht verhandelt werden. Die Hauptverantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, damit die vielen Millionen Opfer und Betroffenen den vielen kleinen Rädchen im Getriebe des Unrechtsstaates verzeihen können. Ohne ein Gefühl von Gerechtigkeit wird es keine gesellschaftliche Aussöhnung geben.
Ahmed al-Scharaa hat deshalb versprochen, hochrangige Vertreter des alten Regimes zu verhaften und anzuklagen. Nur so kann er Fälle von Selbstjustiz und außergerichtlicher Gewalt in den Griff bekommen und innerstaatliche Konflikte dauerhaft verhindern. Gleichzeitig müssten auch die Verbrechen nichtstaatlicher Milizen aufgearbeitet werden – eine Forderung, die angesichts der Verantwortung von HTS nicht im Interesse der neuen Führung liegt.
Erste Vertreter des alten Regimes wurden bereits verhaftet, doch nach Schätzungen des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte ist die große Mehrheit der Geheimdienstoffiziere und Militärs des alten Regimes noch im Land und auf freiem Fuß. Viele scheinen kein Unrechtsbewusstsein zu haben, niemand hat sich bislang entschuldigt oder Fehler eingeräumt. Zusammenstöße und Racheakte sind deshalb vorprogrammiert. Das Thema Übergangsjustiz ist insofern grundlegend für die innere Sicherheit, die politische Erneuerung, den gesellschaftlichen Frieden und die wirtschaftliche Stabilisierung Syriens.
Fazit
Die Lage in Syrien ist und bleibt fragil. Ob der Übergang gelingt, ist trotz guten Willens und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf vielen Seiten noch nicht absehbar. Übergangspräsident al-Scharaa wandelt auf einem schmalen Grat: Er soll Macht, die er noch nicht vollständig hat, an die Provinzen abgeben. Er soll Milizen und Kämpfer disziplinieren und diejenigen ausschließen, die sich seinen Befehlen widersetzen, obwohl er nicht genügend Polizisten hat und Assad-Loyalisten sowie ausländische Akteure seine Herrschaft offen herausfordern. Er soll zivilgesellschaftliche Gruppen und Vertreterinnen der Diaspora einbinden und mit Kurden, Christen, Alawiten und Drusen einen neuen Staat aufbauen, während seine islamistische Basis von einem sunnitischen Gottesstaat träumt. Er soll die Strom- und Wasserversorgung in Gang bringen, das Land wieder aufbauen und Arbeitsplätze schaffen, während die USA und die EU ihre Sanktionen nicht aufheben, sondern nur aussetzen und damit potenzielle Investoren abschrecken. Und er soll die Verantwortlichen des alten Regimes verhaften und vor Gericht stellen lassen, während Tausende von Assad-Schergen frei herumlaufen und mit jedem entdeckten Massengrab der Wunsch nach Rache wächst.
Al-Scharaa verdient deshalb durchaus Unterstützung, aber nicht, um seine eigene Macht auszubauen, sondern um – wie er selbst sagt – dem syrischen Volk zu dienen. Am Ende müssen die Syrerinnen und Syrer selbst entscheiden, ob das neue Syrien ihren Vorstellungen und Ambitionen entspricht. Wenn nicht, werden sie hoffentlich nicht kämpfen müssen, sondern wählen dürfen.
Hinweis: Dieser Text ist eine Vorabveröffentlichung aus der in Kürze erscheinenden