Aktuelle Konfliktsituation
Lange galt Niger in westlichen Hauptstädten als Stabilitätsanker im Sahel. Das positive Image litt erst, als im Juli 2023 Militärs putschten und unter beträchtlicher Zustimmung der Bevölkerung auf Distanz zum Westen gingen, insbesondere zu Frankreich (vgl. Ehrich 2024). Mit Blick auf die bereits 2020 in Mali und 2022 in Burkina Faso erfolgten Putsche wurde endgültig deutlich, dass sich im Sahel eine Zeitenwende vollzieht – wenn auch mit unklarer Stoßrichtung. Während manche von „Dekolonisierung“ im Sinne eines langfristigen Prozesses sprechen (Bernau 2023), heben andere die Beschränkung politischer fFreiheitsrechte hervor. Sie konstatieren einen Schwenk Nigers ins autokratische Lager, hin zu Mächten wie Russland, China oder der Türkei (Tschörner 2024a; Idrissa 2024). Heftig kritisiert wird zudem, dass Niger aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS ausgetreten ist und mit Mali und Burkina Faso die Allianz der Sahelstaaten gegründet hat.
Unstrittig ist hingegen, dass der Putsch eng mit einer zunehmenden Verschärfung der Sicherheitslage im gesamten Sahel zusammenhing, auch wenn in Niger die Opferzahlen 2022 mit 988 Toten rund 80 % unter denen von Mali und Burkina Faso lagen – trotz größerer Bevölkerungszahl.
Im Juni 2024 registrierte der UNHCR in Tillabéri 153.400 Binnenvertriebene, zudem waren 721 Schulen, 19 Märkte und 6 Gesundheitszentren geschlossen.
Ursachen und Hintergründe
Die strukturellen Konfliktursachen in Niger sind komplex – genau wie in den übrigen Sahelländern. Wichtige Schlüsselbegriffe lauten: schwache Ökonomie, unzureichende Infrastruktur, prekäre Lebensverhältnisse, korrupte Justiz, mangelhafte Sicherheitsarchitektur, radikal-islamistische Prediger und eskalierende Klimakrise. Gleichzeitig plädieren insbesondere Akteure aus dem Sahel seit vielen Jahren für ein stärker lokal ausgerichtetes Verständnis der Krise. Die Gewalt – so ihre Einschätzung – ist nur zu verstehen, wenn lokale Konfliktdynamiken und ihre jeweilige Geschichte in den Blick genommen werden (Benjaminsen/Ba: 2018 und 2024).
Dies lässt sich stellvertretend anhand der Region Tillabéri aufzeigen. Die Region liegt im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Burkina Faso und Mali und ist eine Hochburg islamistischer Terrorgruppen:
(1) Als die wichtigste Einzelursache für die Gewalteskalation gilt dort die Benachteiligung von pastoralistischen Viehhirten
(2) Fatal ist unterdessen, dass sich dabei der ISSP exzessiver Gewalt bedient: Erstens gegen Sicherheitskräfte und Funktionäre des Staates, zweitens gegen Angehörige der Gemeinschaften, die als Konkurrenten oder Gegner der Fulbe bzw. anderer vom ISSP geschützter Gruppen gelten (etwa bäuerliche Angehörige der hauptsächlich im Westen Nigers lebenden Zarma), drittens gegen Dorfchefs und traditionelle Führer, die mit dem Staat zusammenarbeiten oder für Dialog und Verständigung mit verfeindeten Gemeinschaften eintreten und auf diese Weise versuchen, die manipulativen Spaltungsstrategien des ISSP zu unterlaufen, sowie viertens gegen all jene Dörfer und Gemeinschaften, die sich nicht den rigiden religiösen und sozialen Vorschriften des ISSP unterwerfen wollen.
(3) Mit seiner Strategie der Gewalt hat der ISSP ganz bewusst Konflikte zwischen den Gemeinschaften geschürt – vor allem, indem davon betroffene Gemeinschaften Selbstverteidigungsmilizen aufgestellt haben, die ihrerseits begannen, den ISSP oder die von ihm beschützten (Fulbe-)Gemeinschaften zu vertreiben oder anzugreifen (ICG 2021). Der ISSP hat aber auch staatliche Sicherheitskräfte zu Überreaktionen provoziert, wobei die seit kolonialer Zeit nicht nur in Niger weit verbreitete Erfahrung staatlicher Gewalt für terroristische Gruppen wie ein Rekrutierungsprogramm (UNDP 2017) wirkt. Gleichzeitig ist so in Tillabéri eine dramatische – häufig von Traumatisierungen begleitete – Situation entstanden: Verweigern sich Dörfer und Gemeinschaften dem ISSP, drohen Angriffe von diesem. Kooperieren sie, müssen sie mit Angriffen durch staatliche Sicherheitskräfte wegen vermeintlicher Kollaboration mit Terroristen rechnen, so ein immer wieder erhobener Vorwurf.
(4) Auch die „Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime“ (JNIM) hat sich in den südwestlichen Gebieten Tillabéris als Schutz- und Ordnungsmacht angedient und so in gewissen Teilen der Bevölkerung Legitimität erlangt. Ausgangspunkt war ihre Fähigkeit, kriminelle Banden, die die lokale Bevölkerung terrorisierten, unter Kontrolle zu bringen. Dabei machte sie sich oft erste Erfolge regierungsnaher Milizen zunutze. Anders als der ISSP wendet die JNIM jedoch weniger nackte Gewalt gegen Zivilpersonen an. Vielmehr konzentriert sie sich in den von ihr kontrollierten Gebieten auf eine islamistische Reformagenda, inklusive restriktiver sozialer und religiöser Regelwerke (Tschörner 2023b).
Bei aller Unterschiedlichkeit ist JNIM und ISSP gemeinsam, dass sie sich als Sprachrohr für eine marginalisierte Bevölkerung präsentieren und auf diese Weise eine Alternative zu einer Ordnung anbieten, die in den Augen vieler Menschen – es dürfte eine starke Minderheit sein – einzig den Interessen reicher (Hauptstadt-)Eliten und prowestlicher orientierter Politiker/-innen dient.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Der Putsch von 2023 ist bis heute äußerst umstritten, seine jeweilige Bewertung prägt auch die Debatte zur Lösung der Sicherheitskrise: Diejenigen, die den Putsch kritisch sehen – und das sind im westlichen Ausland deutlich mehr als in Niger selbst – fordern eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung (Tschörner 2024a). Damit ist auch eine vollständige Wiederherstellung aller Grundrechte, eine Rückkehr zur Zusammenarbeit mit westlichen Akteuren (bei gleichzeitiger Distanzierung gegenüber Russland) sowie eine Annäherung der Allianz der Sahelstaaten (AES) an die ECOWAS gemeint.
Demgegenüber stehen größere Teile der Bevölkerung – ob aus Überzeugung, Angst oder Opportunismus – der Militärregierung wohlwollend oder zumindest neutral gegenüber. Sie nehmen die Einschränkung politischer Freiheiten als (temporär) notwendiges Übel in Kauf – so der Tenor zahlreicher Alltagsgespräche, wie Beobachter/-innen im Land berichten. Vor allem glauben sie, dass der von den Militärs eingeleitete Politikwechsel – beispielsweise im Uran- und Ölsektor – erste Antworten auf jene Probleme darstellt, die die Konflikte überhaupt erst hervorgebracht haben.
Jenseits dieser zum Teil sehr kontrovers diskutierten Vorgehensweisen (Idrissa 2021, 2025; Mbembe 2023) besteht unter staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren immerhin Einvernehmen darüber, was lokal und national getan werden sollte, um die lokalen Konfliktdynamiken einzudämmen:
(1) Als zentraler Schlüssel gilt die Erneuerung staatlicher Institutionen und somit der Kampf gegen Korruption, Vetternwirtschaft, Wahlfälschung, Menschenrechtsverletzungen usw. Wichtig ist auch, dass der Staat mit seinen grundlegenden Dienstleistungen in den ländlichen Regionen zukünftig (wieder) präsent ist, bei gleichzeitiger Stärkung demokratischer Strukturen auf kommunaler Ebene.
(2) Für den Erfolg im Anti-Terrorkampf wird zudem die strikte Einhaltung der Menschenrechte sowie der Schutz der Zivilbevölkerung durch staatliche Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen als unverzichtbar bewertet (einschließlich Rechenschaftspflicht der Verantwortlichen und Unterbindung jeder Form von Straflosigkeit).
(3) Auch die Eindämmung der von terroristischen Gruppen gezielt geschürten Konflikte zwischen Gemeinschaften gilt als unverzichtbar. Ein wichtiger Ansatz dafür kann die Stärkung der in Niger seit Jahrzehnten fest etablierten Kultur von Dialog und Versöhnung sein. Gleichzeitig sollten Demobilisierungs- und Integrationsprogramme für Angehörige terroristischer Gruppen implementiert werden, wie sie bereits der 2023 gestürzte Präsident Mohamed Bazoum erprobt hat (Tschörner 2024), und wie sie mittlerweile auch von der aktuellen Militärregierung angegangen werden.
(4) Von übergreifender Bedeutung ist schließlich die wirtschaftliche Entwicklung. Dabei sind nicht zuletzt die Belange pastoralistischer Viehhirten-Gemeinschaften zu berücksichtigen – etwa die gerechte Zuteilung von Landnutzungsrechten, der Bau von Viehbrunnen oder die Eröffnung von Viehmärkten mit Straßenanschluss. Darüber hinaus sind Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Klimakrise zu ergreifen. Hierzu zählen nicht nur Aufforstung oder die Förderung agrarökologischer Landwirtschaft, sondern auch Maßnahmen zum Katastrophenschutz.
Geschichte des Konflikts
Niger hat 1960 seine Unabhängigkeit erlangt. Der erste Präsident Hamani Diori regierte zwar im Rahmen eines sozialistisch ausgerichteten Einparteien-Regimes, setzte aber politisch, ökonomisch und militärisch auf eine enge Partnerschaft mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich – auch bei der Uranförderung, die lange das wichtigste Exportprodukt Nigers war. 1974 putschte Seyni Kountché, Auslöser war Dioris katastrophales Krisenmanagement der Jahrhundertdürre 1968 bis 1974. Kountché regierte mit harter Hand. Zugleich erklärte er Lebensmittelsicherheit zur obersten Priorität. Beides ist dafür verantwortlich, dass sich bis heute viele Menschen positiv auf ihn beziehen.
1993 wurde nach Massenprotesten unter anderem von Studierenden und Gewerkschaften eine Mehrparteiendemokratie eingeführt. Gleichwohl kam es in den folgenden 18 Jahren zu drei Putschen, zwei davon mit prodemokratischer Ausrichtung. 2011 wurde Mahamadou Issoufou zum Präsidenten gewählt, die Wahl seines Nachfolgers Mohamed Bazoum gilt international als erster demokratisch legitimierter Machtwechsel seit Nigers Unabhängigkeit. Doch viele Menschen sehen das anders. Denn auch unter Issoufou ist es zu Korruption, zur Verfolgung politischer Gegner und zur Monopolisierung der gesamten Staatsmacht in den Händen von Issoufous und Bazoums Partei PNDS (Nigrische Partei für Demokratie und Sozialismus) gekommen (Ehrich 2024).
Die wechselhafte Entwicklung zeigt, dass sich Niger schon seit Jahren in einer Vielfachkrise befindet. Die sozioökonomische Krise geht auf die Strukturanpassungsprogramme (SAP)