Aktuelle Situation
Seit den umstrittenen Parlamentswahlen vom 26. Oktober 2024 befindet sich Georgien im Krisenmodus. Opposition und Zivilgesellschaft warfen der Regierung Wahlfälschung vor. Zu Massenprotesten kam es aber erst als am 28. November 2024 von der Regierung die Aussetzung der EU-Integration bis Ende 2028 verkündet wurde. Die monatelangen Demonstrationen wurden teils von gewaltsamen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften begleitet. Die von der Partei „Georgischer Traum“ geführte Regierung verschärft unter dem Vorwand der Verteidigung gegen „zersetzende Kräfte aus dem Ausland“ ihre repressiven Maßnahmen gegen Oppositionsparteien, NGOs, unabhängige Medien und Jugendorganisationen (ausführlich Smolnik/Tadumadze 2025; Bogishvili et al. 2025).
NGOs müssen bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland restriktive Auflagen erfüllen und sich als „Auslandsagenten“ registrieren lassen. Des Weiteren wird mit strafrechtlichen Verfahren der Druck auf Oppositionsakteure erhöht. Gleichzeitig wird versucht, Oppositionsführer sowie kritische Journalisten und zivilgesellschaftliche Aktivisten durch massive Polizeipräsenz bei Demonstrationen, gezielten Verleumdungskampagnen über staatsnahe Medien sowie überproportional harten Urteilen regierungstreuer Gerichte einzuschüchtern. Inzwischen befinden sich die meisten prominenten Oppositionsvertreter und mehr als 60 Protestteilnehmer in Haft.
Gleichzeitig bleibt die Zustimmung zu einer stärkeren Westorientierung des Landes hoch. In der jährlichen Umfrage des International Republican Institute (IRI) und des National Democratic Institute (NDI) erklärten im Herbst 2023 73 % der Befragten, einen EU-Beitritt voll und 13 % „etwas“ zu unterstützen. Volle Ablehnung äußerten lediglich 6 %. Dagegen war die Befürwortung eines weiteren Dialogs mit Russland auf einen Tiefpunkt gesunken (54 %).
Durch die Zuspitzung des politischen Konflikts innerhalb der georgischen Mehrheitsgesellschaft rücken die ethnopolitischen Konflikte mit den nationalen Minderheiten in den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien in den Hintergrund. Die Unsicherheit in den Grenzregionen – etwa durch eingeschränkte Bewegungsfreiheit der georgischen Bevölkerung im Bezirk Gali (Abchasien) – bleibt bestehen.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die strategische Lage im Südkaukasus massiv verschärft. Moskau hat seitdem seine Stellung in den separatistischen Gebieten Abchasien und Südossetien weiter gefestigt. Direkte Verbindungen werden gezielt gefördert – etwa durch die Wiederaufnahme regulärer Flüge nach Suchumi und umfangreiche Stromlieferungen nach Abchasien. In Südossetien stammen rund 90 % des Staatshaushalts aus russischen Subventionen. Die Bevölkerung schrumpft dramatisch – von knapp 100.000 (1989) auf nur noch 30.000 bis 40.000. Abchasien verzeichnet ähnliche Einbußen: von über 500.000 Einwohnern 1989 auf etwa 240.000. In beiden Regionen ist die Zahl ethnischer Georgier infolge von Flucht und Vertreibung stark zurückgegangen; Südossetien ist heute nahezu monoethnisch (Reisner 2025).
Während des Wahlkampfes im Herbst 2024 verkündeten hochrangige Vertreter der Partei „Georgischer Traum“ ihre Absicht, auf der Grundlage von „Versöhnung und gegenseitigem Vertrauen“ die territoriale Integrität Georgiens wiederherstellen zu wollen (Hauer 2024). Daran anknüpfend hat die russische Delegation während der Genfer Gespräche
Ursachen und Hintergründe
Die georgische Gesellschaft wird von zwei großen Konfliktlinien durchzogen. Der derzeit dominierende Konflikt wird innerhalb der georgischen Mehrheitsgesellschaft ausgetragen. In ihm stehen sich drei große Gruppen gegenüber: (1) das prowestlich und demokratisch orientierte Bündnis aus Intellektuellen, Studierenden und zivilgesellschaftlichen Akteuren, (2) das regierungsnahe und teils prorussische Lager, das hauptsächlich aus Sicherheitskräften, vom Regierungskurs profitierenden wirtschaftlichen Eliten und vom Staat abhängigen Milieus besteht, sowie (3) weitgehend passive und desillusionierte Bevölkerungsteile, die sich vom politischen Prozess abgewandt haben.
Gegenstand des Konflikts ist die soziopolitische, wirtschaftliche und geopolitische Ausrichtung Georgiens. Die Anhänger der Demokratisierungsbewegung engagieren sich für die Fortsetzung des mit der „Rosenrevolution“ begonnenen proeuropäischen Reformkurses. Das autoritäre Lager um die Partei „Georgischer Traum“ sucht stattdessen einen Mittelweg zwischen dem Westen, Russland, China, der Türkei und dem Iran. Die Regierung möchte jegliche „Irritation“ Moskaus vermeiden.
Der zweite große Konflikt spielt sich zwischen dem georgischen Kernland auf der einen Seite und den separatistischen Gebieten Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite ab. Die Spannungen wurzeln tief in der Geschichte des multiethnischen Landes. Bereits in der Zarenzeit waren die Beziehungen infolge einer imperialen „Teile und Herrsche“-Politik zwischen den Volksgruppen von Ungleichheit und Abhängigkeit geprägt. Heute ist der Konflikt durch die provisorische Grenzziehung und die De-facto-Annexion der Gebiete durch Russland eingefroren. Moskau hat keinerlei Interesse an einer konstruktiven Bearbeitung.
Beide Konflikte haben ihre Wurzeln in der ungleichen Entwicklung zwischen Zentrum und Peripherie, in regionalen Disparitäten sowie in der unvollständigen Transformation der post-sowjetischen Verwaltungsstrukturen. Es herrscht großes Misstrauen zwischen der zentralstaatlichen Autorität in Tbilisi und den regionalen Bevölkerungen. Die Schwäche staatlicher Institutionen und der autoritäre Kurs der Regierungspartei „Georgischer Traum“ haben mögliche Annäherungs- und Reformprozesse zusätzlich untergraben (Turashvili 2025).
Regionale und globale Mächte prägen die Konfliktdynamik erheblich. Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins als Präsident im Jahr 2000 verfolgt Russland eine Politik zur Sicherung seiner Macht- und Einflusssphäre in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.
Die Hinwendung der georgischen Regierung zu EU und zu NATO nach der „Rosenrevolution“
Wie Moskau seine Präsenz in den abtrünnigen Gebieten nutzt, zeigt die Praxis der schleichenden Grenzverschiebung. Über Nacht werden von russischen Soldaten Grenzbefestigungen willkürlich auf das georgische Territorium verschoben. Landwirtschaftliche Flächen liegen plötzlich jenseits der provisorischen Grenze. Dorfbewohner, die zu ihren Feldern oder auf den nahegelegenen Friedhof wollen, werden wegen angeblich „illegaler Grenzübertritte“ festgenommen. Von der Abspaltung besonders stark betroffen ist der Bezirk Gali in Abchasien, wo etwa noch 50.000 Georgier leben.
Gleichzeitig übt Russland über Infrastruktur- und Energieverbindungen Druck auf Georgien aus und stärkt jene politischen Kräfte und Narrative, die vorgeben, die georgische „Souveränität“ gegenüber der Einflussnahme von EU, USA und NATO sowie „traditionelle Werte“ zu verteidigen. Beobachter sehen auffällige Parallelen zwischen den autoritären Umbau von Politik, Medien, Justizwesen und Gesellschaft, wie er in Russland und Belarus erfolgt ist, und den aktuellen Entwicklungen in Georgien.
Nationale und internationale Beobachter geben den westlichen Staaten, konkret EU und NATO, eine Mitverantwortung für die aktuelle Situation. Zum einen wird die unzureichende Unterstützung für die demokratischen Reformkräfte kritisiert (vgl. z.B. Schiffers 2025). Zum anderen wird die Befürchtung geäußert, dass die aktuelle Regierung durch Sanktionen, Kontaktabbruch und wirtschaftlichen Druck eher weiter in Richtung eines autoritären Kurses und in die Abhängigkeit von Russland gedrängt wird (vgl. z.B. Smolnik/Tadumadze 2025; Rondeli Foundation 2025).
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Auch im medialen Bereich wird das „russische Textbuch“ schrittweise umgesetzt: Oppositionellen Zeitungen und Verlagen wird die wirtschaftliche Basis entzogen. Zugleich stellen staatsnahe Medien und regierungsfreundliche Akteure die Opposition, kritische Intellektuelle und unabhängige NGOs als „ausländische Agenten“ oder „Störer des Friedens“ dar. Diese Propaganda erzeugt ein Klima der Angst und dient der Legitimation repressiver Maßnahmen. Unter dem Vorwand, für Georgien Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu gewährleisten, wird die Kaperung des Staates durch die Partei „Georgischer Traum“ und der Regierung nahestehende Wirtschafts-, Sicherheits- und Funktionseliten systematisch vorangetrieben
Die zersplitterte und von Verbot bedrohte Opposition, die nur noch mit einer von drei qualifizierten Parteien im Parlament vertreten ist
Trotz Restriktionen und Repression bleiben georgische und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen zentrale Akteure. Forschungseinrichtungen – darunter das Caucasus Institute for Peace, Democracy and Development (CIPDD), die Rondeli Foundation sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und die Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) – fördern die Aufarbeitung der Konflikte und unterstützen Studien zu Erinnerungspolitik, Versöhnung und De-facto-Staatlichkeit (z.B. Javakhishvili/Kvarchelia 2013; Karpenko/Javakhishvili 2013).
Erwähnenswert sind auch Projekte auf lokaler Ebene. So unterstützt die Berghof Foundation (Berlin) seit Jahren einen Dialogprozess zwischen Georgiern und Abchasen, der auf persönlichen Erinnerungen, Oral-History-Interviews und gemeinsamer Reflexion über Kriegserfahrungen basiert. Ziel ist es, durch geteilte Narrative und individuelle Begegnungen Vertrauen wiederherzustellen und langfristig die Basis für Verständigung zu schaffen.
Die OSZE entsendet Wahlbeobachter
Die EU hält an ihrer Politik der Nichtanerkennung bei gleichzeitiger Einbindung (NREP)
Die NATO, die ein Verbindungsbüro in Tbilisi unterhält, setzt auf sicherheitspolitische Kooperation mit Georgien. Ihre Unterstützung konzentriert sich auf Ausbildung, Cyberabwehr und institutionelle Reformen des Verteidigungssektors, verbunden mit der Erwartung, dass Georgien Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kontrolle stärkt.