Alterssicherungssysteme im empirischen Vergleich
Zwar dominieren in allen EU-Ländern die Ausgaben für die Alterssicherung die Sozialsysteme. Aber die Spannweite ist groß. Das zeigt sich auch daran, dass das Risiko der Altersarmut unterschiedlich hoch ausfällt.Ausgaben für Alterssicherung
In allen Ländern der Europäischen Union stellt die Alterssicherung den Kern des Wohlfahrtsstaates und des Systems der sozialen Sicherung dar. Das wird deutlich, wenn man die finanziellen Dimensionen betrachtet (vgl. Abbildung "Sozialleistungen nach Funktionen in ausgewählten EU-Ländern 2015"):- Die Ausgaben für die Bereiche Alterssicherung und Absicherung der Hinterbliebenen machen nahezu durchgängig das Schwergewicht der Sozialausgaben insgesamt aus. Die Anteile schwanken 2015 in den meisten Ländern der EU zwischen 40 und 60 Prozent.
- Deutschland liegt 2015 trotz der im internationalen Vergleich starken Alterung der Bevölkerung mit einem Anteil von 39,1 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt der 28 EU-Staaten (44,1 %).




Entscheidend für die Einkommens- und Versorgungslage der älteren Generation sind aber nicht allein die institutionellen Ausgestaltungsvarianten der Alterssicherung und die Höhe der getätigten Ausgaben. Es kommt darauf an, ob und inwieweit die jeweiligen nationalen Systeme im Zusammenwirken ihrer Komponenten die Ziele der Alterssicherung erreichen. Dabei sollen drei grundlegende Zieldimensionen unterschieden werden:
- Vermeidung von Altersarmut.
- Sicherung des Lebensstandards in der nachberuflichen Lebensphase.
- Verringerung von intragenerationalen Einkommensdisparitäten.
Vermeidung von Altersarmut


Auch im Grad der Lebensstandardsicherung lassen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern erkennen. Die Tabelle "Nettoersatzquoten nach Verdienstniveau" erlaubt dies zumindest in einer Annäherung.
Nettoersatzquoten nach Verdienstniveau
Individuelles Arbeitsentgelt, Vielfaches des Durchschnittsverdiensts für Männer
(Frauen falls abweichend)
OECD-Länder | Renteneintritts- alter | 0.5 | 1 | 1.5 |
---|---|---|---|---|
Australien | 67 | 95.0 (91.8) | 42.6 (38.8) | 45.4 (41.4) |
Österreich | 65 | 92.2 | 91.8 | 90.9 |
Belgien | 65 | 62.6 | 66.1 | 50.1 |
Kanada | 65 | 62.2 | 53.4 | 38.5 |
Chile | 65 | 48.3 (45.6) | 40.1 (36.3) | 40.6 (36.7) |
Tschechische Republik | 65 | 88.3 | 60.0 | 48.7 |
Dänemark | 74 | 110.3 | 80.2 | 76.2 |
Estland | 65 | 73.7 | 57.4 | 51.1 |
Finnland | 68 | 66.9 | 65.0 | 65.1 |
Frankreich | 64 | 70.4 | 74.5 | 70.3 |
Deutschland | 65 | 54.7 | 50.5 | 49.8 |
Griechenland | 62 | 60.7 | 53.7 | 54.1 |
Ungarn | 65 | 89.6 | 89.6 | 89.6 |
Island | 67 | 85.5 | 75.7 | 77.8 |
Irland | 68 | 70.0 | 42.3 | 32.4 |
Israel | 67 (64) | 100.4 (91.9) | 75.1 (67.4) | 54.9 (49.3) |
Italien | 71 | 93.0 | 93.2 | 93.8 |
Japan | 65 | 52.6 | 40.0 | 35.3 |
Korea | 65 | 63.8 | 45.1 | 33.7 |
Lettland | 65 | 55.7 | 59.5 | 59.0 |
Luxemburg | 60 | 98.3 | 88.4 | 83.6 |
Mexiko | 65 | 35.1 | 29.6 (27.7) | 29.3 (27.5) |
Niederlande | 71 | 105.1 | 100.6 (27.7) | 100.2 (27.5) |
Neuseeland | 65 | 80.7 | 43.2 | 30.5 |
Norwegen | 67 | 64.8 | 48.8 | 41.3 |
Polen | 65 (60) | 37.2 (35.3) | 38.6 (34.1) | 37.9 (33.8) |
Portugal | 68 | 92.9 | 94.9 | 93.1 |
Slowakische Republik | 68 | 85.0 | 83.8 | 83.5 |
Slowenien | 60 | 57.3 (60.3) | 56.7 (59.2) | 54.1 (56.6) |
Spanien | 65 | 79.3 | 81.8 | 81.7 |
Schweden | 65 | 62.4 | 54.9 | 67.6 |
Schweiz | 65 (64) | 57.4 (56.8) | 44.9 (44.5) | 31.5 (31.2) |
Türkei | 61 (59) | 99.1 (95.9) | 102.1 (97.0) | 105.8 (101.4) |
Vereinigtes Königreich | 68 | 52.1 | 29.0 | 20.7 |
Vereinigte Staaten von Amerika | 67 | 59.9 | 49.1 | 42.4 |
OECD | 65.8 (65.5) | 73.2 (72.7) | 62.9 (62.2) | 58.9 (58.2) |
Weitere Länder | ||||
Argentinien | 65 (60) | 98.9 (90.3) | 91.0 (83.1) | 89.3 (81.3) |
Brasilien | 55 (50) | 92.4 | 76.4 (58.1) | 76.4 (58.1) |
China | 60 (55) | 104.4 (89.7) | 83.0 (71.3) | 77.0 (66.3) |
Indien | 58 | 99.3 (94.4) | 99.3 (94.4) | 99.3 (94.4) |
Indonesien | 65 | 65.4 (60.8) | 65.5 (60.9) | 66.1 (61.6) |
Russische Föderation | 60 (55) | 53.0 (47.2) | 38.8 (32.9) | 33.5 (27.7) |
Saudi-Arabien | 45 | 65.4 | 65.4 | 65.4 |
Südafrika | 60 | 32.1 | 17.1 | 11.9 |
EU 28 | 65.9 (65.5) | 79.7 (79.6) | 70.6 (70.4) | 66.8 (66.6) |
Quelle: OECD (2018), S. 107.
Allerdings "stehen und fallen" diese vergleichenden Berechnungen mit ihren Annahmen: Welche Alterssicherungsleistungen werden in den Vergleich einbezogen: Nur die gesetzliche Altersrente oder auch die Hinterbliebenenrente oder auch obligatorische bzw. sehr weit verbreitete (wo setzt man da die Grenze?) betriebliche und private Altersvorsorge. Auch kommt es zu Ergebnisunterschieden (z. B. bei den Lohnersatzraten; vgl. Kasten), wenn man mit Daten aus verschiedenen Erhebungen arbeitet – und nicht nur mit synthetischen Modellberechnungen für verschiedene Versicherungsverläufe (Die Verdienstangaben in konkurrierenden Erhebungen variieren zum Teil).
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Bruttolohnersatzrate und Nettolohnersatzrate
Bei der Bruttolohnersatzrate wird die Rente vor Steuern inklusive der Sozialversicherungsbeiträge bei Rentenbeginn für einen idealtypischen Standardrentner in Bezug gesetzt zu dessen rechnerischem letzten Lohneinkommen vor Steuern und inklusive der Sozialbeiträge, plus eventuellen Aufwendungen für die betriebliche Altersvorsorge. Bei der Nettolohnersatzrate wird nach gleichem Muster die Nettorente (nach Steuern und Sozialbeiträgen) zum letzten Nettolohn in Bezug gesetzt.
Man kann über die Aussagekraft dieser Indikatoren und die Berechnungsweisen der EU-Kommission zweifellos trefflich streiten. Als Belege gegen die verbreitete Meinung, in Deutschland seien die Renten besonders opulent und der soziale Ausgleich durch die und innerhalb der Sozialsysteme besonders ausgeprägt, sind die vorstehenden Ergebnisse jedoch hilfreich und tragfähig.
Einkommensdifferenzen innerhalb der Gruppe der Alten
Diese Differenzierungen leiten über zur dritten Zieldimension, der Frage nach den Einkommensdifferenzen innerhalb der Gruppe der Älteren. Die Antwort auf diese Frage hängt sehr von der Konstruktion des jeweiligen Alterssicherungssystems ab. Grundsicherungselemente oder im Umfang meist kleinere und meist mit hohen Zuführungen aus Steuermitteln versehene staatliche Basisrentensysteme haben eher Rentenzahlungen mit geringen Unterschieden in ihrer Höhe zur Folge (so z. B. in der Schweiz und in den Niederlanden). Daneben existierende betriebliche und private Alterssicherungssysteme als 2. bzw. 3. Säule (bzw. äquivalenzbasierte Versicherungssysteme überhaupt) kehren das Ergebnis teilweise geradezu um. Die Einkommensverteilung im Rentenalter hängt – neben den Einkommensdifferenzen im Erwerbsalter – also stark von der jeweiligen Mischung dieser Strukturelemente ab. Als Grundregel ist festzuhalten, dass die Ungleichverteilung unter den Älteren umso höher ausfällt, je gewichtiger die privaten bzw. äquivalenzbasierten Elemente sind.Weitere Indikatoren für die Leistungsfähigkeit von Alterssicherungssystemen sind aber z. B. auch der Rechtsstatus der RentnerInnen (der bei bedürftigkeitsgeprüften Leistungen niedrig ist), die Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit der Systeme (die z.B. auch in einer Anpassungsdynamik zum Ausdruck kommt), die Anfälligkeit der Renten bzw. ihrer Armutsfestigkeit bei Wirtschaftskrisen, Akzeptanz und Finanzierungsgerechtigkeit.
Dass es in Deutschland keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit gibt, zeigt ein Blick auf den Gender Pension Gap (vgl. Ausbau der Alterssicherung von Frauen) im europäischen Vergleich. Deutschland weist danach mit einer Lücke von 42,1 Prozent den fünfschlechtesten Wert unter den Ländern der EU im Jahr 2016 auf.

