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Ursprünge, Merkmale und Ziele des russischen Neo-Imperialismus | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Ursprünge, Merkmale und Ziele des russischen Neo-Imperialismus

Regina Heller

/ 11 Minuten zu lesen

Die Wurzeln der neo-imperialistischen Politik Russlands unter Wladimir Putin reichen weit in die zaristische Vergangenheit zurück. Verschiedene Elemente erinnern aber auch an die Ära Stalins.

Panzer in einer russischen Militärbasis in Zchinwali, Südossetien. (© picture-alliance/dpa, Tass/Matytsin Valery)

Die imperiale Tradition Russlands reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Die „Sammlung russischer Erde“ begann mit der Einverleibung zahlreicher Fürstentümer unter dem Großfürsten von Moskau Iwan III. (1440-1505). Die Expansion wurde dadurch begünstigt, dass die benachbarten Territorien kaum natürliche Grenzen aufwiesen und die Eroberer, insbesondere im Osten, auf eine nur dünne Besiedelung stießen. Innerhalb eines Jahrhunderts, nachdem der erste russische Zar, Iwan IV., der Schreckliche genannt (1530-1584), die Eroberung Sibiriens begonnen hatte, erreichten die Russen 1649 den Pazifik.

Durch weitere Eroberungen Richtung Süden, Norden und Westen wurde nach und nach eine Vielzahl von Völkern mit unterschiedlichsten kulturellen und ethnischen Prägungen in den russischen Machtbereich gewaltsam eingegliedert. Die russische Expansion wurde vor allem mit der vorgeblich überlegenen russischen Sprache und Kultur gerechtfertigt. Dafür war der Anspruch Russlands zentral, nach der Besetzung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1443 und dem Untergang Ostroms der einzige Vertreter des byzantinischen und christlich-orthodoxen Erbes und damit des wahren Glaubens zu sein. Hier hat die Idee von Russland als „Drittes Rom“ seinen Ursprung. Im Innern Russlands bildete sich nach und nach ein autokratisches und absolutistisches Herrschaftssystem heraus.

Die menschlichen und finanziellen Ressourcen für den imperialen Expansionsdrang der Zaren wurden insbesondere durch ein landesweites Aushebungsverfahren für Rekruten und steigende Steuern aufgebracht. Beides belastete hauptsächlich Dörfer und Bauern. Die unprofitable Leibeigenen-Wirtschaft, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand, verstärkte den Eroberungsdrang. Der finanzschwache Staat entlohnte Staatsdiener häufig mit neu erworbenen Ländereien (Van Herpen 2024: 15). Bauern erhofften sich von der Teilnahme an den Feldzügen die Befreiung aus der Leibeigenschaft. Um 1895 verzeichnete das russische Zarenreich mit rund 22,8 Mio. Quadratkilometern seine größte Ausdehnung. Sein Territorium reichte von Finnland bis Alaska und vom Nordpolarmeer bis nach Persien.

Imperialismus und ethnische Vielfalt im Zarenreich

Für das zentralistisch organisierte Zarenreich spielte die ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt in seinem Machtbereich keine Rolle, solange die Eliten in den Peripherien die Herrschaft des Zaren akzeptierten. Allerdings war die Akzeptanz sehr unterschiedlich: Dort, wo die ethnische, religiöse oder kulturelle Heterogenität groß war, kein gemeinsamer Geschichtsraum und kaum Traditionen eigener Staatlichkeit bestanden, konnte sich die russische Macht relativ schnell durchsetzen, entweder aufgrund deutlicher militärischer Überlegenheit oder als vermeintliche „Schutzmacht“ gegenüber anderen Mächten. So waren etwa die Ukraine und Bessarabien über Jahrhunderte hinweg von der wechselnden Herrschaft ganz unterschiedlicher und miteinander konkurrierender Fürstentümer, Königreiche und Imperien, wie Russland, Polen, Habsburg oder das Osmanische Reich, geprägt.

Dort, wo eine ausgeprägte kulturelle und religiöse Homogenität und gemeinsame Identität herrschte, kämpften Völker mit einem starken Selbstbehauptungswillen mit großer Entschlossenheit und langem Atem gegen ihre Eingliederung in das Zarenreich. Ein Beispiel dafür ist der Kampf der Dagestaner, Tschetschenen, Osseten und Tscherkessen im Kaukasus gegen die russischen Eroberer. Ihr Widerstand wurde auch durch die nur schwer zu kontrollierende Geografie des Hochgebirges und die autonome Lebensweise in kleinen, abgelegenen Dörfern begünstigt. Die Eroberung gelang erst nach der Niederlage der vom Imam Schamil geführten kaukasischen Verbände im Jahr 1859.

Mit dem Aufkommen des Nationalismus als Idee und Bewegung „gegen Aristokratie und feudale Privilegienordnung“ im 19. Jahrhundert erwachte auch im Inneren des russischen Imperiums das nationale Selbstbewusstsein der Völker und der Wunsch nach eigener Staatlichkeit (Kruse 2012). Der Nationalstaat als neues, revolutionäres Ordnungsprinzip der innergesellschaftlichen Organisation und der internationalen Beziehungen stellte eine direkte Kampfansage an alle Imperien dar, in deren Herrschaftsbereich zahlreiche Völker in politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit existierten (vgl. z.B. Souleimanov/Horák 2007).

Die Reaktion der russischen Zaren folgte einem strikt machtpolitischen Kalkül. Während sie im Innern jegliche nationale Regung, etwa der Polen und Litauer, konsequent unterdrückten, wurden in der Nachbarschaft Nationalbewegungen aktiv unterstützt. Russland versprach sich von der Förderung des Freiheitskampfes der Griechen, Serben und Bulgaren gegen das Osmanische Reich neue territoriale Eroberungen und den Aufstieg zur Regionalmacht im Schwarzmeerraum und in Südosteuropa. Doch spätestens ab 1848 entwickelten sich Ethno-Nationalismus und Sezessionismus für das russische Imperium landesweit zu einem Problem und schließlich zum Brandbeschleuniger seines eigenen Zerfalls während der Revolutionen von 1917.

Die Gründung der Sowjetunion und das Ziel der Weltrevolution

Die Bolschewiki proklamierten in der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ vom November 1917 die Souveränität der Völker des ehemaligen zaristischen Reiches und deren Recht auf die Bildung eines selbstständigen Staates. Dies war der Wunsch der nationalen Bewegungen vieler nicht-russischer Nationalitäten. In der Folge entstand eine Vielzahl selbstständiger politischer Einheiten (Kopeček 2019: 29). So erklärten sich Moldau 1917 und Georgien 1918 für unabhängig und gründeten souveräne Republiken. Die Demokratische Republik Armenien wurde ebenfalls 1918 ausgerufen. Auf dem Territorium der heutigen Ukraine entstanden die Ukrainische Volksrepublik und die Westukrainische Volksrepublik, die sich 1919 zusammenschlossen.

Doch faktisch blieb die imperiale Logik bestimmend. Denn die staatliche Eigenständigkeit der nicht-russischen Völker entsprach nicht dem Weltbild und den Interessen der Bolschewiken. Um den Erfolg der russischen Revolution zu sichern, sollte diese auf ein möglichst großes Territorium und viele Länder ausgeweitet werden. Es herrschte die Überzeugung vor, dass die Revolution langfristig nur im weltweiten Maßstab siegreich sein könne. Als Kompromiss wurde den nicht-russischen Nationalitäten angeboten, ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung im Rahmen eines freiwilligen und föderativ organisierten sozialistischen Bundesstaats zu verwirklichen. Mit dieser Begründung wurde im Laufe der Bürgerkriege den Unabhängigkeitsbestrebungen schrittweise ein Ende gesetzt.

In Georgien übernahmen nach dem von Bolschewiken angezettelten georgisch-südossetischen Krieg (1918-1920) die Sowjets die Kontrolle und zwangen das Land zusammen mit Armenien und Aserbaidschan in die Transkaukasische Sowjetrepublik. Die Ukraine zerfiel nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit Polen auf der einen und der Roten Armee auf der anderen Seite wieder. Der westliche Teil wurde nun von Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei kontrolliert. Die Mitte, der Osten und Süden wurden 1922 als Ukrainische Sozialistischen Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion. Die daraus resultierenden Opfer und Traumata prägen bis heute das kollektive Gedächtnis der betroffenen Völker.

Veränderungen des imperialen Projektes unter Stalin

Der von den Bolschewiken geförderte Ethnoföderalismus sollte die Sowjetunion als Vielvölkerstaat zusammenhalten und gleichzeitig das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf nationale Selbstbestimmung in geordnete Bahnen lenken. Kultur und Sprache wurden gezielt gefördert, um nationale Kader herauszubilden und die kommunistische Ideologie in den Regionen zu stärken (Simon 2013: 107). Langfristig sollten alle nationalen und ethnischen Unterschiede überwunden werden und ein „Sowjetvolk“ entstehen. Bei der Umsetzung brachen jedoch immer wieder Widersprüche und Konflikte auf. Ein Grund war, dass von den 125 offiziell gezählten Völkern (von etwa 800 identifizierbaren ethnischen Gruppen) lediglich 53 im Rahmen von Sowjetrepubliken, autonomen Republiken und Gebieten den Status als Titularnation erhielten.

In der Geschichte der Sowjetunion wechselten Phasen der gezielten Förderung nicht-russischer Völker und Gemeinschaften und der z.T. massiven Unterdrückung nationaler Selbstbestimmungsansprüche durch die Moskauer Zentralmacht einander ab. Ein Tiefpunkt war die Stalinzeit in den 1930er und 1940er Jahren. Unter dem Druck der Kriegsdrohung und des Angriffskrieges Nazideutschlands wurden Bildung und Kultur zunehmend „russifiziert“. Zudem wurden gezielt Russen in die Peripherien entsandt, sodass sich ihre Zahl außerhalb der RSFSR innerhalb von 10 Jahren etwa verdoppelte (ebd.: 113). Die schlimmsten Auswüchse dieser Politik waren Umsiedelungen und „ethnische Säuberungen“, wie etwa die Ermordung und Deportation der deutschen Minderheit auf Grundlage des Befehls Nummer 00439 vom 25. Juli 1937.

Unter dem Einfluss des stalinistischen Terrors und der Kriegswirtschaft entwickelte sich die Sowjetunion zunehmend zu einem zentralistisch gelenkten Bundesstaat, der von dem landesweiten Machtnetzwerk der Kommunistischen Partei kontrolliert und von der kommunistischen Ideologie zusammengehalten wurde. Gleichzeitig nutzte Stalin jede sich bietende Gelegenheit für die Eroberung neuer Gebiete. So wurden im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts Westpolen, Estland, Lettland, Litauen sowie Finnland und Rumänien besetzt. Im Verlauf des Krieges weitete die Sowjetunion ihren imperialen Einflussbereich auf fast ganz Mittelost- und Südosteuropa aus. Dadurch wurden wichtige geostrategische Ziele erreicht, die bereits vom zaristischen Russland verfolgt worden waren.

Reformansätze und Zusammenbruch der Sowjetunion

Nach dem Tod Stalins scheiterten oder versandeten mehrere Reformanläufe. Als schließlich Michail Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre antrat, die tiefe Krise des Sowjetsystems durch Umbau und Transparenz („perestroika“ und „glasnost“) zu überwinden, wurde die Brüchigkeit des Gesellschafts- und Nationenvertrags offenkundig. Da pluralistische und zivilgesellschaftliche Strukturen fehlten, die die entstehenden Konflikte hätten auffangen können, vollzog sich die gesellschaftliche Mobilisierung primär über ethno-nationalistische Ideologien (Offe 1991:284). Das Machtvakuum, das durch die Auflösung der KPdSU entstanden war, ließ Unabhängigkeitsbewegungen in den Unionsrepubliken entstehen, die sich auf ihr in der sowjetischen Verfassung verbrieftes Recht auf Abspaltung und Eigenstaatlichkeit beriefen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 und die Entstehung von 15 neuen Staaten führten zu zahlreichen territorialen Auseinandersetzungen zwischen den Titularnationen der ehemaligen Sowjetrepubliken und den auf ihrem Territorium lebenden nationalen Minderheiten. Denn nur die Unionsrepubliken hatten das Recht auf staatliche Eigenständigkeit, nicht aber die Autonomen Republiken und Gebiete. Die ehemals inneren Grenzen der Unionsrepubliken wurden zu Außengrenzen, nicht aber jene zwischen den neuen Staaten und ihren autonomen Gebieten. Außerdem fanden sich rd. 17 Mio. Russen in den neuen Staaten als nationale Minderheit wieder. Die Forderungen der Minderheiten nach Autonomie oder Sezession wurden zum Kristallisationspunkt für bewaffnete Konflikte in mehreren neu gegründeten Staaten.

Ein Beispiel ist der Konflikt in der ehemaligen Interner Link: Moldauischen Sowjetrepublik, wo sich das überwiegend von ethnischen Russen und Ukrainern bevölkerte Transnistrien gegen die Pläne der nationalistischen „Demokratischen Bewegung“ (später Volksfront) wandte, Russisch als offizielle Landessprache abzuschaffen und die ehemalige Sowjetrepublik mit Rumänien zu vereinen. In Interner Link: Georgien heizte der 1991 zum Präsidenten gewählte ehemalige Dissident Swiad Gamsachurdia mit seiner national-radikalen Politik den Konflikt mit den Südosseten an, die bis dahin in einem Autonomen Gebiet im Norden Georgiens gelebt hatten. In Russland selbst, wo in vielen Teilgebieten neben Russisch auch andere Staatssprachen verwendet wurden, befeuerte die Sorge um den Zusammenhalt der Föderation. Gewaltkonflikte im Interner Link: Nordkaukasus führten schließlich 1994 zum ersten Tschetschenienkrieg.

Dort, wo die Konflikte nicht politisch oder militärisch entschieden werden konnten, wurden sie „eingefroren“. Das heißt, die zwischen Mutterstaaten und abgespaltenen Territorien – durchweg unter russischer Vermittlung – vereinbarten Waffenstillstände wurden nicht in Friedensverträge mit der einvernehmlichen Klärung ihres Status‘ überführt. Eine wichtige Rolle spielte hierbei das postsowjetische Russland, das seine Präsenz in den abtrünnigen Gebieten als Mittel zur regionalen Einflusssicherung nutzte. Moskaus unterstützte die Abspaltung von den Mutterstaaten und den schrittweisen Aufbau von „De-facto-Staaten“.

Wiedererstarkende Großmachtidentität, imperiale Gängelung und zunehmende Geschichtsverdrehung durch Russland

Seit der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten im Dezember 1999 nahm die russische Politik zunehmend neoimperiale und autokratische Züge an (vgl. z.B. Eltschaninoff 2022). Ein starker Treiber war angesichts der wiederaufflammenden Kämpfe in Tschetschenien und Dagestan die Angst vor der Zunahme separatistischer Bewegungen innerhalb der Russischen Föderation. Ein weiterer Grund waren die „Farbigen Revolutionen“ in mehreren postsowjetischen Nachbarländern Russlands in den 2010er Jahren. In den von der Zivilgesellschaft getragenen Demokratisierungsbewegungen sah die russische Führung eine Bedrohung für ihre eigene Herrschaft und ihren regionalen Einfluss. Zum neuen Kurs beigetragen hat nicht zuletzt auch das Gefühl der politischen Eliten, vom Westen mit Geringschätzung behandelt und nicht mehr als Großmacht respektiert zu werden (Forsberg et al. 2014; Heller 2020).

Der Wandel hin zu einer autoritären Herrschaft vollzog sich in mehreren Stufen. Schon 2001 schuf sich Putin mit der Partei „Einiges Russland“ ein Instrument der Kontrolle bis hinunter auf die regionale und lokale Ebene (Chepikova 2011). Nach den bislang größten Protesten in der Geschichte des postsowjetischen Russlands gegen mutmaßliche Fälschungen bei den Wahlen zur Staatsduma von 2011 wurden mit dem „Agentengesetz“ von 2012 die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft stark eingeschränkt (vgl. z.B. Reeve 2018). Die Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit wurde faktisch abgeschafft und die Rede- und Versammlungsfreiheit massiv beschnitten. 2013 folgte eine „konservative Wende“, die die zentrale Rolle der orthodoxen Kirche, konservativer kultureller und familiärer Werte sowie eine betont anti-westliche Haltung propagiert.

Der autokratische Staat im Innern bildet die Machtgrundlage für die imperiale Expansion nach außen. Putin hat 2005 die Auflösung der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. In dem Bestreben, das Imperium wieder herzustellen, kommt den eingefrorenen Konflikten in den Nachbarstaaten eine zentrale Rolle zu. Moskau instrumentiert die Konflikte mit dem Ziel, die Mutterstaaten schwach zu halten und in seinem Sinne zu beeinflussen. Als die Ukraine, Georgien und Moldau, angestoßen durch die „farbigen Revolutionen“ Anfang der 2000er Jahre, versuchten, Entwicklungsblockaden durch innere Reformen und Westorientierung zu überwinden, verstärkte Russland seine hybride Kriegsführung und unterstützte die separatistischen Akteure politisch, finanziell und militärisch. Den ethnischen Russen, die in den separatistischen Gebieten lebten, wurde die Einbürgerung angeboten („Passportisierung“).

Nach dem 5-Tage-Krieg mit Georgien im August 2008 unterstützte Russland die aktive Abspaltung Südossetiens und Abchasiens von Georgien, indem es offizielle politische und diplomatische Beziehungen mit beiden De-Facto-Staaten aufnahm. Zudem wurde ein umfangreiches Programm zur Modernisierung des russischen Militärs gestartet. Die Bestrebungen der Ukraine nach Autonomie von russischer Vorherrschaft beantwortete Moskau 2014 mit der Annexion der Krim und der Besetzung großer Teile der Ostukraine. Dazu wurde von russischen Geheimdiensten ein bewaffneter „Unabhängigkeitskampf“ bezahlter Separatisten organisiert und mit eigenen Einheiten unterstützt. In der Folge wurden die vielfältigen ethnischen und kulturellen Identitäten, die bis dahin in der Ukraine friedlich zusammenlebten, gegeneinander aufgestachelt.

Mit seinem Angriffskrieg gegen die gesamte Interner Link: Ukraine versucht Russland seit Februar 2022 offen, die nationalen Emanzipationsbestrebungen des Landes vollends zu ersticken. Dabei beruft es sich in imperialer Manier auf die angebliche Zugehörigkeit der Ukraine zur „russischen Welt“ und instrumentalisiert die russische Minderheit für seine Ziele. Zudem werden die Souveränität und das Existenzrecht weiterer Nachbarstaaten, wie etwa der Republik Moldau, massiv bedroht. Putin sieht sich dabei in der Tradition und Erbfolge imperialer Herrscher, wie Iwan dem Schrecklichen, Peter dem Großen und Josef Stalin.

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Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Sie studierte Politikwissenschaft, Ostslawistik und osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, am Middlebury College, Vt./USA und an der Universität Hamburg. Von Oktober 2014 bis September 2015 vertrat sie die Professur für Internationale Politik, insbesondere auswärtige und internationale Politik osteuropäischer Staaten, an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.