Nahost
Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg gibt es keine Anzeichen für die Beilegung des Konflikts. Gewaltakte jüdischer Siedler, Angriffe meist junger Palästinenser sowie die humanitäre Krise im Gazastreifen kennzeichnen die Lage. Neu sind erste Schritte der Wiederannäherung zwischen den Palästinenserorganisationen Fatah und Hamas.
Aktuelle Konfliktsituation
Attacken von Palästinensern auf Israelis, Streit über Besuchs- und Gebetsrechte auf dem Jerusalemer Tempelberg/Haram Ash-Sharif und Gewalt durch israelische Sicherheitskräfte forderten in den besetzten Gebieten zahlreiche Todesopfer. Es ist jedoch nicht zu erkennen, dass sich aus den spontanen Gewalttaten ein planvoller Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung entwickeln wird.Die israelische Regierung treibt den Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten, die Zerstörung palästinensischer Häuser und Infrastruktur sowie die Vertreibung von Beduinen aus ihren Dörfern und Weidegründen voran.[1] Die Aufforderung des UN-Sicherheitsrates vom 23. Dezember 2016, den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau zu stoppen, weil er die Zwei-Staaten-Lösung untergrabe, blieb wirkungslos. Mit dem erklärten Ziel, eine jüdische Mehrheit in Jerusalem zu erhalten, haben Abgeordnete aus dem Regierungslager Pläne vorgelegt, wonach vier Gebiete in der besetzten Westbank mit rd. 130.000 israelischen Siedlern de facto annektiert und zwei palästinensische Ortschaften mit rd. 100.000 Einwohnern, die sich jenseits der israelischen Sperranlagen befinden, ausgegliedert werden sollen.[2] Der Regierungschef unterstützt die Pläne, zögert allerdings wegen etwaiger Einwände der US-Regierung, sie dem Kabinett zur Abstimmung vorzulegen.[3]


Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) reagiert auf die ergebnislosen Verhandlungen um die Beilegung des Konflikts mit der Fortsetzung ihrer Bemühungen um internationale Aufwertung. Seit 2012 hat Palästina in der UNO einen Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedsstaat inne. 136 der 193 UN-Mitglieder haben es bilateral als unabhängigen Staat anerkannt. Aufgrund seines Beitritts zu mittlerweile 49 multilateralen Institutionen (z.B. Menschenrechte, Humanitäres Völkerrecht, Abrüstung, Strafjustiz, Umwelt, Interpol u.a.) und seiner Mitgliedschaft in der UNESCO agiert Palästina mittlerweile in immer mehr Bereichen der internationalen Beziehungen als De-facto-Staat.
Die israelische Regierung wertet die diplomatische Offensive der PA als einseitigen Akt, der mit Verhandlungen unvereinbar sei. Sie nimmt insbesondere Anstoß am Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Die Ermittlungen des IStGH wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit laufen allerdings in beide Richtungen: Wird der IStGH tätig, müssen sich sowohl Israel als auch die Palästinenser wegen etwaiger Kriegsverbrechen verantworten. Abwenden können sie ein Verfahren vor dem IStGH nur, wenn sie willens und in der Lage sind, selbst einschlägige Verbrechen zu verfolgen. Während Israel und die PA sich hierzu grundsätzlich bereit erklärt haben, verweigert die im Gazastreifen herrschende Hamas die Kooperation mit dem IStGH.
Die Rivalität zwischen Hamas und Fatah schwächt nicht nur die palästinensische Position gegenüber Israel, sondern auch die Legitimität der palästinensischen Institutionen. Aufgrund der Spaltung ist das Parlament seit 2007 funktionsunfähig, das Mandat des Präsidenten und seiner Regierung seit 2009 abgelaufen. In ihrer großen Mehrheit wünschen die Palästinenser die Überwindung der Spaltung zwischen der West Bank und dem Gazastreifen. Die Vereinbarung zwischen Hamas und Fatah vom 12. Oktober 2017, wonach die PA die Regierung im Gazastreifen übernimmt und nachfolgend die rund 40.000 Hamas-Angestellten in die Verwaltung eingliedert, haben erneut Hoffnungen auf ein Ende der Rivalität geweckt.
Als ersten Schritt übergab Hamas am 1. November 2017 die Kontrolle über die Grenzübergänge an die PA.[4] Weitergehende Vereinbarungen, wie die Bildung einer Einheitsregierung, die Durchführung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und der Beitritt der Hamas zu einer reformierten PLO, wurden zunächst aufgeschoben. Die Zusammenführung der parallelen Verwaltungen, Rechtssysteme und Sicherheitsapparate stellt hohe Anforderungen an die Kompromissbereitschaft beider Seiten. Ob Fatah bereit sein wird, einen möglichen Wahlsieg der Hamas im Gazastreifen und in der West Bank zu akzeptieren, ist zweifelhaft, solange Hamas nicht ihren militärischen Flügel auflöst. Israel hat zwar erklärt, den Versöhnungsprozess nicht zu behindern, will aber mit einer von der Hamas unterstützten palästinensischen Regierung nicht verhandeln, solange Hamas Israel nicht anerkennt.
Ursachen und Hintergründe


Erschwert wird die Beilegung des Konflikts durch seine religiöse Aufladung. Auf israelischer Seite reklamieren insbesondere national-religiöse Siedler das gesamte Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer als heiliges, von Gott versprochenes Land. Sie fühlen sich legitimiert, zur Durchsetzung dieses Anspruchs palästinensische Einwohner zu drangsalieren und ihr Eigentum zu zerstören. Die israelische Regierung lässt sie unter Verzicht auf rechtsstaatliche Prinzipien weitgehend gewähren. Auf palästinensischer Seite lehnen radikale Islamisten unter Berufung auf den Koran Verhandlungen mit Israel ab und rufen zum Dschihad gegen die Unterdrückung und für die Wiederaneignung vormals palästinensischen Landes auf. Eine offene Auseinandersetzung mit dieser Position ist in dem von Hamas kontrollierten Gazastreifen nicht möglich, stößt aber auch in der von der Fatah dominierten West Bank an Grenzen. Kritiker sehen sich unter Verweis auf die Besatzung mit dem Vorwurf der Illoyalität konfrontiert. Generell befördert die innerpalästinensische Spaltung antidemokratische und autoritäre Tendenzen in den besetzten Gebieten.


Der Konflikt hat auch eine soziale Dimension. Das ökonomische Potenzial des dichtbevölkerten Gazastreifens liegt seit 2007 brach. Dort sind 55% der knapp zwei Millionen Einwohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund 40% eine der höchsten der Welt – bei den 20- bis 24-Jährigen liegt sie sogar bei 60%. Die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Seit die Autonomiebehörde die israelischen Stromlieferungen nicht mehr vollständig bezahlt, gibt es nur noch durchschnittlich vier Stunden Strom am Tag.
Der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. Hauptgrund ist die restriktive Genehmigungspraxis Israels für Einfuhren, z.B. von Baumaterialien und anderen Wirtschaftsgütern.[6] Die im Zuge der Wiederannäherung von Ägypten und der Hamas seit Jahresbeginn 2017 erfolgten Einfuhren aus Ägypten waren bisher zu geringfügig, um die weitgehende israelische Blockade zu kompensieren.[7]
Von den internationalen Hilfszusagen nach dem Gaza-Krieg 2014 wurde bisher nur die Hälfte ausgezahlt. Von den 11.000 zerstörten Wohnhäusern sind noch immer über 60% nicht bewohnbar. Die Not überfordert die Ressourcen des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), das fast ausschließlich auf Spenden angewiesen ist und mit zahlreichen anderen in der Region aktiven Hilfsorganisationen konkurriert.
Von einer selbsttragenden Wirtschaft kann auch in der West Bank keine Rede sein. Hier sind ebenfalls mehrere Hunderttausend Flüchtlinge auf Nothilfe der UNRWA angewiesen. Die PA hängt seit Beginn der Autonomie im Jahr 1994 am Tropf externer Geldgeber.[8] Trotz Budgethilfe ist sie außerstande, den Angestellten des öffentlichen Dienstes ihr Gehalt in voller Höhe auszuzahlen. Von den Einkommen ist ein Großteil der Bevölkerung abhängig.
In der desolaten wirtschaftlichen Lage der palästinensischen Gebiete liegt erheblicher Konfliktstoff. Eine nachhaltige Entwicklung ist nur möglich, wenn Israel die Blockade der Verkehrswege in der West Bank und die weitgehende Sperrung der Grenzübergänge zum Gazastreifen aufhebt.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze


Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon, der 2001 sein Amt antrat, leitete eine radikale Wende hin zu einer einseitigen "Lösung" des Nahost-Konflikts ein. Nach der Abriegelung des Gaza-Streifens wurde 2002 mit dem Bau einer rd. 700 km langen Sperranlage zur West Bank begonnen, die überwiegend auf palästinensischem Gebiet verläuft. 2005 ließ Scharon dann alle 22 israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen und vier kleine Siedlungen im nördlichen Westjordanland sowie die Militäreinrichtungen im Gaza-Streifen räumen. Israel entledigte sich so der Verantwortung für eineinhalb Millionen Palästinenser.


Der israelische Kurswechsel bestärkte die Palästinenser in ihrer Skepsis gegenüber der Bereitschaft Israels, eine einvernehmliche Konfliktlösung zu erreichen. Dennoch hielt die PA unter dem Druck ihrer externen Geldgeber an Verhandlungen fest. Doch nachdem die Hamas die Macht im Gaza-Streifen im Jahr 2007 gewaltsam übernommen hatte, konnte die PA nicht mehr beanspruchen, für alle Palästinenser zu sprechen. Sie kompensiert ihre (Verhandlungs-)Schwäche mit ihrem auf die internationale Stärkung palästinensischer Staatlichkeit gerichteten Kurs.
Die Hamas ging ihrerseits zu einer Taktik ständiger Nadelstiche gegen das israelische Kernland über. Die Waffen dafür, u.a. Mörsergranaten und Kleinraketen, wurden selbst gebaut oder durch ein Tunnelsystem über die ägyptische Grenze in den Gaza-Streifen geschmuggelt. Inzwischen hat Ägypten die meisten Tunnel zerstört. Damit wurden aber auch überlebenswichtige Versorgungsadern für die Menschen im Gaza-Streifen gekappt.
Die Konfrontation mit der Hamas führte mehrfach zu großangelegten israelischen Militäroperationen. Der letzte Gaza-Krieg im Sommer 2014 übertraf hinsichtlich Dauer, Intensität, Opferzahlen und Zerstörungen alle militärischen Auseinandersetzungen seit 1967. Die seit 26. August 2014 geltende unbefristete Waffenruhe ist instabil. Mit der Hamas konkurrierende Milizen sind in gelegentliche Scharmützel mit israelischen Einheiten verwickelt. Die Hamas-Regierung brandmarkt inzwischen den Beschuss israelischen Territoriums als "gegen die Interessen des palästinensischen Volkes gerichtet" und geht mit Gewalt dagegen vor. Ziel ist auch, sich als potenzieller Partner Israels aufzuwerten.
Der Beschlusslage in den Vereinten Nationen folgend hält die internationale Gemeinschaft an der Zwei-Staaten-Lösung zur Befriedung des israelisch-palästinensischen Konflikts fest, auch wenn US-Präsident Donald Trump einen einzigen Staat vom Jordan bis zum Mittelmer nicht ausschließen will.[9] Die Bemühungen konzentrieren sich weiterhin auf die Umsetzung des 2003 ausgearbeiteten Stufenplans, der eine Zwei-Staaten-Lösung vorsieht. Die "Road Map" des Nahost-Quartetts (USA, Russland, EU, UNO) verlangt von den Palästinensern vor allem politische Reformen sowie die Entwaffnung und Auflösung der Milizen. Dies ist durch die PA in der West Bank geschehen, im Gaza-Streifen nicht. Israel sollte vor allem den Siedlungsbau einstellen und die seit März 2001 errichteten Siedlungen auflösen. Diese Verpflichtungen wurden nicht erfüllt.
Geschichte des Konflikts
Die von der UNO am 29. November 1947 verabschiedete Resolution 181 sah die Teilung des vormaligen britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie die Internationalisierung Jerusalems vor. Die arabischen Staaten lehnten dies ab. Die jüdische Selbstverwaltung (Jischuv) nahm den Plan an und proklamierte am 14. Mai 1948 den unabhängigen Staat Israel. Am folgenden Tag begann der Angriff arabischer Staaten. Israel wehrte ihn ab und eroberte Gebiete über das ihm zugesprochene Territorium hinaus, darunter West-Jerusalem. Der Gaza-Streifen kam unter ägyptische Verwaltung, die West Bank mit Ost-Jerusalem ging an Jordanien. 726.000 Palästinenser flohen vor den Kämpfen in die Nachbarstaaten.
Israel und palästinensische Gebiete 1948 bis 1967

Im Dezember 1987 begann eine mehrjährige Rebellion der Palästinenser gegen die Besatzungsmacht ("1. Intifada"). Während der Intifada entstand der PLO mit der Hamas, einem Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft, eine islamistische, national-religiöse Konkurrenz. Am 15. November 1988 proklamierte die PLO im Exil den Staat Palästina. In einem Zusatzdokument erkannte sie die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates von 1967 und damit indirekt das Existenzrecht Israels an. Am 13. Dezember 1988 akzeptierte Arafat vor der UN-Vollversammlung eine Zwei-Staaten-Lösung.
Auf der Nahost-Konferenz 1991 in Madrid wurde der Konflikt erstmals zum Gegenstand direkter Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern. Die in Oslo ausgehandelte und 1993 in Washington unterzeichnete Prinzipienerklärung schuf den Rahmen für die Errichtung der palästinensischen Autonomie. Besonders schwierige Streitfragen (Grenzen, Jerusalem, Siedlungen, Sicherheit, Flüchtlinge) blieben jedoch ungelöst.
Der Friedensprozess wurde insbesondere durch den andauernden israelischen Siedlungsbau und die Anschläge palästinensischer Selbstmordattentäter untergraben. Die Spannungen gipfelten im Herbst 2000 in der "2. Intifada", was zum Abbruch der Verhandlungen führte.
Literatur
Johannsen, Margret (2017): Der Nahost-Konflikt, 4., aktualisierte Auflage, Wiesbaden: Springer/VS Verlag für Sozialwissenschaften.Johannsen, Margret (2017): Zwischen Jordan und Mittelmeer: Alternativen zu Besatzung und Krieg ohne Ende, in: Schoch, Bruno/ Heinemann-Grüder, Andreas / Hauswedell, Corinna/ Hippler, Jochen/ Johannsen, Margret (Hrsg.): Friedensgutachten 2017, Berlin: Lit, S. 179-192.
Asseburg, Muriel/ Busse, Jan (2016): Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven. München: Beck Verlag.
Niehoff, Mirko (2016): Nahostkonflikt kontrovers: Perspektiven für die politische Bildung, Schwalbach i.T.: Wochenschau-Verlag.
Johannsen, Margret (2015): Im Schatten Israels: Staatsbildung in Palästina jenseits von Oslo, in: Kursawe, Janet/ Johannsen, Margret/ Baumgart-Ochse, Claudia/ von Boemcken, Marc/ Werkner, Ines-Jacqueline (Hrsg.): Friedensgutachten 2015, Berlin: Lit, S. 200-214.
Böhme, Jörn/ Sterzing, Christian (2014): Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts, 7. aktualisierte und erweiterte Auflage, Schwalbach a.T.: Wochenschau Verlag.
Baumgarten, Helga (2013): Kampf um Palästina. Was wollen Hamas und Fatah, Freiburg: Verlag Herder.
Rowert, Mechthild/ Sterzing, Christian/ Vogler, Kathrin (Hrsg.) (2011): Nach Gaza. Zivilgesellschaft und internationale Politik, Berlin: Aphorisma Verlag.
Flores, Alexander (2009): Der Palästinakonflikt, Freiburg: Verlag Herder.
Links
Themenheft zu Israel und Deutschland (2015): Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 6/2015)Deutsch-Israelische Beziehungen (2015): Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 27/2015.
Asseburg, Muriel (2015): 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen, SWP-Aktuell 2015/A 40, April 2015.
Artikel Israel, in: Fischer Weltalmanach
Artikel Palästinensische Gebiete, in: Fischer Weltalmanach
Krell, Gert (2011): Frieden für Israel und Palästina. Deutsche Nahost-Politik im Schatten der "Vergangenheit", HSFK-Standpunkt Nr. 6/2011.
Themenheft zum Nahost-Konflikt (2010): Aus Politik und Zeitschichte (ApuZ 9/2010)
Ausführlichere Darstellungen zur Geschichte des Nahost-Konflikts
Geschichte des Nahostkonflikts, in: Dossier Israel
Chronologien zum Nahost-Konflikt
Chronologie (Englisch)
Zur Geschichte des Nahostkonflikts
Dokumente (Englisch)
Dokumente (Deutsch)
Neuere Entwicklungen und Teilaspekte
Menschenrechte (Englisch)
Besatzung und Sperranlage / Völkerrecht
UN (Englisch)
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Europäische Nahost-Politik (Englisch)