Kunst als Schule der Mehrsinnigkeit
Ich misstraue gewissermaßen jedem Erfolgsrezept zur Bildung. Das geht vielleicht als Gebrauchsanweisung für kognitives Lernen, aber ich erinnere mich zu gut daran, dass ich von den Lehrern, die als schlecht galten, am meisten gelernt habe und dass diejenigen, die als gut galten, auch meine Widerstände mobilisiert haben. Die Art, auf die wir lernen, ist also nicht voraussehbar.
Die Griechen bzw. die Athener haben sich offenbar von allen Zeitgenossen damals dadurch unterschieden, dass sowohl das Theater – auf der einen Seite die Tragödie mit der Erfahrung der Aporie, der Unwegsamkeit – als auch auf der anderen Seite, der dialogischen Seite – die Diskurskultur, das Streiten, der Streit um das gemeinsamen Wesen – einzigartig waren in der damaligen Kultur, und sie sind es geblieben. Für mich ist die Akropolis das Modell dafür, was Kulturpolitik sein muss: Ein Widerspruch, der mit sich nicht ins Reine, aber weiterkommen muss und der das Gemeinwesen, die Fantasie, das Vorstellungsvermögen des Gemeinwesens für sich selbst anregt, inspiriert. Ich glaube das ist die Funktion der Kunst: Sie ist eine Schule der Mehrsinnigkeit, Mehrdeutigkeit, des Umgangs mit Zwiespalt, mit Konflikten, auch mit unlösbaren Konflikten. Dafür gibt es keinen Ersatz. All dies erfährt man sinnlich, nicht in Form eines abstrakten Exempels. Ich glaube die Kunst ist eine ganz große evolutionäre List, durch die der Mensch gelernt hat, mit allem was ihm fehlt, was ihm zu einem vollendeten Geschöpf fehlt aber auch mit allem, was ihm zum Tier fehlt, umzugehen. Er hat gelernt etwas zu machen, das in gewissem Sinne größer oder wichtiger ist als er selbst.
Redaktion: Tatjana Brode
Kamera: Eileen Kühne
Schnitt: Oliver Plata
Das Interview entstand auf dem europäischen Kongress "Lernen aus der Praxis" vom 22.-24. September 2005.