Wer war der Täter? Erfahrungen mit einem Kinoseminar zu "Das weiße Band"
/ 4 Minuten zu lesen
Referenten in Kinoseminaren haben es nicht immer leicht, denn nicht jeder Film stößt beim jungen Publikum gleich auf Begeisterung. Ein Erfahrungsbericht.
Machen wir uns nichts vor: Wenn ein Kinobesuch zu einer schulischen Bildungsveranstaltung wird, dann wird damit auch ein typischer Freizeit- und Unterhaltungsort von Jugendlichen zweckentfremdet. Ein Kinoseminar bricht mit den Gewohnheiten eines normalen Kinobesuchs. Nicht nur durch die Auswahl der Filme, sondern auch, weil im Anschluss auch noch über den Film geredet oder diskutiert werden soll. Manchen Filmen gelingt es dennoch, diese Diskrepanz spielerisch zu überwinden. "Ben X"
Dreidimensionale Effekte wird man in dem Film von Michael Haneke nicht finden. Der Kritikererfolg wurde in Schwarzweiß gedreht, läuft im Kino mit Mono-Tonspur und besteht aus unendlich lang und spröde wirkenden statischen Kameraeinstellungen. Filmmusik gibt es nur in zwei Szenen, nur dann, wenn auch in der Filmhandlung musiziert wird. Und schließlich dauert der Film 150 Minuten und erzählt eine Geschichte über mysteriöse Vorfälle in einem protestantischen Dorf in Norddeutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Auf eine Auflösung im klassischen Sinne wartet man jedoch vergebens. Es sind ungünstige Voraussetzungen für eine Schulvorstellung.
Das Kinoseminar soll nun eine Brücke bauen zum Verständnis des Films, vielleicht sogar zu einer Wertschätzung, und dabei nicht bevormunden. Eine kurze Einführung in den historischen Kontext der Filmhandlung erleichtert den Einstieg. Aber wenn die Jugendlichen sich auf den Film einlassen sollen, den wahrscheinlich ihre Lehrkräfte für sie ausgesucht haben, dann darf man als Referent kein "großes Kino" oder ein "cineastisches Meisterwerk" versprechen, sondern man muss die formale Sperrigkeit des Films auch offen benennen und die Erwartungshaltung an einen normalen Kinobesuch brechen. Die Schülerinnen und Schüler sind offensichtlich nicht gerade begeistert – und es ist verständlich. Trotzdem gibt es bei diesem Kinoseminar keine Gruppen, die während dem Film den Saal verlassen.
Die Stimmung nach der Filmvorführung ist geprägt von Ratlosigkeit. Wirklich gefallen hat "Das weiße Band" den Jugendlichen nicht. Am Anfang des Gesprächs im Kinosaal stehen daher Klärungsversuche: Wer war der Täter? Wer ist verantwortlich für die Verbrechen? Es sind berechtigte Fragen, mit denen die differenzierte, uneindeutige Darstellung des Films auf eine eindeutige Aussage reduziert werden soll. Der Film legt eine Antwort nahe, aber letztlich ist ihm die Schilderung der Zeitumstände und die Beobachtung der Verhaltensweisen im Dorf, der autoritäre Erziehungsstil, der geprägt ist von Demütigung und Einschüchterung, und seine Folgen für die Kinder wichtiger als die Suche nach dem Schuldigen.
Als Referent habe ich die Aufgabe des Moderators, der Stichworte der Schülerinnen und Schüler aufgreift und Rückfragen stellt. Und je mehr Eindrücke und Beobachtungen sie formulieren, desto vielschichtiger wird auch die Wahrnehmung der Handlung und des Subtexts. Von den offensichtlichen Fragen und Szenen, die provoziert haben oder besonders im Gedächtnis geblieben sind wie etwa jene, in denen schonungslos der demütigende und einschüchternde Umgang der Erwachsenen mit den Kindern gezeigt wird, werden die Themen zunehmend abstrakter und weisen – ausgehend von der Handlung – auch über den engen Kontext des Films hinaus. Die Rolle des Protestantismus für die Wertevorstellungen der Figuren im Film kommt ebenso zur Sprache wie das gesellschaftliche Klima in dem Dorf, die Interpretation der Gewalt als Wegbereiter für den späteren Faschismus wird hinterfragt.
Ungewohnt ist für die Schülerinnen und Schüler in Kinoseminaren meist, dass der Film nicht nur als Anlass für ein Gespräch dient, sondern dass sich dieses eng an der Filmhandlung orientiert und auch auf die filmischen Mittel und ihre Wirkung eingeht. Filmsprachliche Fachbegriffe sind dabei nicht unbedingt notwendig, vielmehr eine genaue Beobachtung und Beschreibung. Gerade diese Aspekte, die bei "Das weiße Band" von der Wirkung der harten Kontraste über die Inszenierung der Gewaltszenen bis hin zu der Funktion von Türen und Rahmen reichen, vermitteln eine andere Sichtweise.
Zu einem Bestandteil der politischen Bildung werden Kinoseminare deshalb auch dann, wenn Bilder und die Haltungen der Macher hinterfragt werden können und als Angebote zur Auseinandersetzung – inhaltlich wie ästhetisch – verstanden und angenommen werden. Kinoseminare können den Blick der Jugendlichen lenken, durch Fragen zum Nachdenken anregen oder durch Hintergrundinformationen auf Kontexte verweisen. Im Mittelpunkt aber sollte die Einladung zum gleichberechtigten Gespräch zwischen Schülerinnen, Schülern und Referent stehen, durch die ein Kino auch zum Ort des Austausches wird. Um vorgefertigte "richtige" Antworten geht es dabei nicht, sondern um persönliche Zugänge, Sichtweisen und Meinungen. Und selbstverständlich ist auch ein Nicht-Gefallen legitim.
Am Ende des Kinoseminars steht daher die Frage: Wer von ihnen würde "Das weiße Band" Freundinnen und Freunden empfehlen? Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler meldet sich. Ein größeres Lob für diesen Film gibt es nicht.
Stefan Stiletto, geboren 1976. Studierte Pädagogik (Diplom) mit Schwerpunkt Medienpädagogik in Trier und Bielefeld und beschäftigte sich insbesondere mit dem Thema Filmkompetenz. Volontariat bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Arbeitet seit 2002 frei als Autor filmpädagogischer Texte sowie als Referent.