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Kamerun | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Kamerun

Miriam Glund

/ 8 Minuten zu lesen

Die „anglophone Krise“ zwischen dem frankophonen Zentralstaat und den kleineren anglophonen Landesteilen schwelt seit der Abschaffung des Föderalismus in den 1970er Jahren und eskalierte 2017 in bewaffnete Auseinandersetzungen. Der festgefahrene Konflikt hat seit 2017 über 6.000 Menschen das Leben gekostet.

Unterstützer von Präsident Paul Biya feiern seine Wiederwahl am 22.10.2018 in Jaunde, der Hauptstadt Kameruns. (© picture-alliance/AP, Rodrigue Mbock)

Aktuelle Konfliktsituation

Die politische Landschaft in Kamerun wird nach wie vor von der Regierungspartei „Demokratische Sammlungsbewegung des kamerunischen Volkes“ (RDPC) dominiert, die ihre 40-jährige Vorherrschaft bei den Senatswahlen im März 2023 weiter festigte. Seit den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018, die der seit 1982 regierende 91-jährige Amtsinhaber Paul Biya mit 71,28 % gewann, verstärkten sich die politischen Spannungen zwischen dem Lager des Präsidenten und der Opposition. Aus Protest gegen die Inhaftierung von Oppositionsführer, Maurice Kamto, boykottiere dessen Partei die Parlaments- und Kommunalwahlen im Jahr 2020, die die RDPC bei historisch geringer Wahlbeteiligung mit großer Mehrheit gewann.

Im Vorfeld der für 2025 anstehenden Präsidentschaftswahlen wächst die Besorgnis, dass die kamerunische Regierung die Wahlen zu ihren Gunsten manipuliert. Hinweise hierfür sind Unregelmäßigkeiten im Wahlregistrierungsprozess in Oppositionshochburgen sowie das geplante Verbot eines Bündnisses der Oppositionsparteien. Neben der Oppositionsfreiheit, wird auch die Pressefreiheit in Kamerun deutlich eingeschränkt. In den letzten Jahren wurden mehrere Investigativjournalisten in Haft gefoltert und ermordet.

In der nördlichsten Region des Landes, im Tschadsee-Becken, kommt es seit mehreren Jahren zu Angriffen der radikal-islamistischen Terrorgruppe Boko Haram, die von Nigeria und dem Tschad aus operiert. Zudem ist im Jahr 2021 der Konflikt zwischen zwei ethnischen Gruppierungen, den Musgum und den Schua-Arabern, über die Nutzung von Wasserressourcen wieder aufgeflammt. In der nördlichsten Region ist die Zahl der Binnenvertriebenen zwischen August 2022 und August 2023 um fast 20 % auf 454.000 Menschen gestiegen.

Der wichtigste und folgenschwerste Konflikt wird seit 2016 in den beiden anglophonen Regionen im Nordwesten und Südwesten Kameruns ausgetragen. Die „anglophone Krise“, die im Oktober 2016 mit Streiks von Anwältinnen, Anwälten und Lehrkräften begann, hat sich seit Ende 2017 in einen separatistischen Bürgerkrieg verwandelt. Die Forderungen der militanten anglophonen Gruppen, reichen von der Rückkehr zum Föderalismus bis hin zur Abspaltung der beiden anglophonen Regionen (vgl. International Crisis Group 2017). Die kamerunische Regierung unter Präsident Paul Biya hat lange versucht, den Konflikt kleinzuhalten, um die Protestbewegung zu zermürben und mögliche Interventionen von Drittparteien zu verhindern. Seit 2018 wird die anglophone Krise als festgefahrener Konflikt mit niedriger Intensität bezeichnet, in dem weder die Separatistengruppen die kamerunische Armee verdrängen können, noch die Armee die Separatisten in den abgelegenen ländlichen Gebieten militärisch besiegen kann. Die Spannungen zwischen Separatisten und der Regierung eskalierten im Mai 2024 erneut und führten zum Tod von mindestens sechzehn Menschen, darunter Polizisten, Soldaten, Separatisten sowie Zivilpersonen. Auch der Bürgermeister der Stadt Bello im Nordwesten, Ngong Innocent Ankiambom, wurde am Tag der nationalen Einheit, dem 20. Mai 2024, von Separatisten getötet.

Die anglophone Bevölkerung leidet bis heute sowohl unter den von anglophonen Gruppen erzwungenen Schulschließungen, Entführungen und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit als auch unter den massiven Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der staatlichen Armee – u.a. Ermordung von Zivilpersonen, Massenverhaftungen, Folter und sexuelle Übergriffe. Über 6.000 Menschen haben ihr Leben seit 2017 verloren, 583.000 sind Binnenvertriebene, 65.000 sind nach Nigeria geflohen, und rund 600.000 Kinder können nicht zur Schule gehen. Zurzeit sind von den rund. 5,5 Mio. Menschen in den anglophonen Regionen rund 1,8 Mio. dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Ursachen und Hintergründe

Die Bevölkerung der anglophonen Landesteile beklagt seit Jahrzehnten ihre politische, wirtschaftliche und soziale Marginalisierung, die scharf mit dem offiziellen Diskurs des „vivre ensemble“ („zusammen leben“) kontrastiert. So haben über 80 % der Menschen in den anglophonen Regionen kein Vertrauen in staatliche Strukturen und nur 20 % identifizieren sich überwiegend mit Kamerun (Razafindrakoto/Roubaud 2018: 16 ff.). Auch in Parlament und Regierung, in Universitäten und der Verwaltung ist die anglophone Bevölkerung chronisch unterrepräsentiert.

Der Konflikt begann mit dem Schulanfang 2016, als französischsprachige Richter/-innen und Lehrkräfte, die oft kein Englisch beherrschen, in die anglophonen Regionen entsandt wurden. Diese verdrängen nicht nur die englische Sprache aus dem öffentlichen Raum, sondern importieren das französisch geprägte Rechts- und Bildungssystem in die anglophonen Landesteile. Während das frankophone Kamerun ein durchgehend kodifiziertes Rechtssystem aufweist, basiert das Rechtssystem im anglophonen Teil auf dem britischen common law, dessen Integration in den Gesamtstaat eine große Herausforderung darstellt.

Demonstrationen der anglophonen Lehrer- und Juristenverbände, welche die Gleichberechtigung der englischen Sprache in Verwaltung, Justiz, Bildungs- und Gesundheitswesen und das Ende der systematischen Benachteiligung der anglophonen Regionen forderten, wurden von Armee und Polizei brutal niedergeschlagen. Daraufhin rief das Cameroon Anglophone Civil Society Consortium seit Januar 2016 Generalstreiks aus, durch die das öffentliche Leben bis heute immer wieder lahmgelegt wird (vgl. International Crisis Group 2017). Die Beteiligung an der Kampagne „Geisterstadt“ wurde zunehmend von radikal-separatistischen Gruppen kontrolliert.

Seitdem Separatistenführer Ayuk Tabe im Oktober 2017 die Unabhängigkeit der Republik Ambazonien ausrief - Teile der separatistischen Bewegung bezeichnen die anglophonen Regionen als Ambazonia oder als British Southern Cameroons - standen zeitweise mehrere Gebiete unter der Kontrolle bewaffneter Separatistengruppen. Die wichtigsten der rund 30 militanten Separatistengruppen, die insgesamt rund zwei- bis viertausend Mitglieder zählen, sind der Ambazonia Governing Council, der Ambazonia Self-Defence Council und das African People’s Liberation Movement. Sie werden von der anglo-kamerunischen Diaspora im Ausland finanziell unterstützt.

Obwohl viele anglophone Gruppen eine friedliche Verständigung und Lösung anstrebten, reagierte Präsident Biya nach anfänglichem Zögern mit Repression und trug somit zur Eskalation des Konflikts bei. Die Regierung sperrte zwischen Januar und April 2017 in den anglophonen Zonen den Zugang zum Internet, verbot anglophone Organisationen, verhaftete Oppositionelle und intervenierte schließlich auch militärisch. Bis heute, sechs Jahre nach Beginn des Konflikts, ist es der staatlichen Armee weder gelungen, Attacken der separatistischen Gruppen auf die Städte zu verhindern, noch die Kontrolle über die ländlichen Zonen vollständig zurückzuerlangen. Selbst den Zugang zum von aufständischen Gruppen blockierten Bildung- und Gesundheitssystem kann sie bislang nicht durchgängig gewährleisten.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Vom 30. September zum 4. Oktober 2019 lud Präsident Biya zum „grand dialogue national“ ein, der zur Lösung der anglophonen Krise beitragen sollte. Ein Großteil der Oppositionsparteien hingegen forderte einen neutralen Dialogprozess mit internationaler Vermittlung und verweigerte die Teilnahme. Auch viele anglophone Separatistenbewegungen stellten sich gegen den Dialog, weil wichtige Separatistenführer im Gefängnis oder im Exil waren und die Rückkehr zum Föderalismus, Sezession oder Unabhängigkeit von Anfang an nicht zur Debatte standen. Letztendlich nahmen Vertreter der Sicherheitskräfte, mancher bewaffneter Gruppierungen, der Regierung und der Opposition, der Zivilgesellschaft sowie religiöse und traditionelle Autoritäten am Dialog teil.

Die wichtigsten Empfehlungen des Dialogs sind eine beschleunigte Dezentralisierung, ein Sonderstatus für die beiden anglophonen Regionen, die Förderung von Zweisprachigkeit und Multikulturalität sowie die Anerkennung der Spezifik des Justiz- und Bildungssystems der anglophonen Regionen. Im Dezember 2019 unterzeichnete Biya mehrere Gesetze, die Empfehlungen des Dialogs aufnehmen. Ebenfalls wurde ein Entwicklungsprogramm für die anglophonen Regionen beschlossen, das aber im Jahr 2023 nur 15 % der geplanten Finanzierung erhielt. Bisher ist auch der Sonderstatus, der potenziell signifikante politische und rechtliche Fortschritt hätte bewirken können, durch die mangelnde Einbindung der anglophonen Bewegungen, die Unterfinanzierung der Regionalversammlungen sowie der Abwesenheit tatsächlicher Veränderungen zu einer Fassadenreform verkommen. Die beiden anglophonen Regionalversammlungen erhielten zwar mehr Einfluss als ihre frankophonen Pendants, stehen aber unter der Kontrolle der von der Regierung ernannten Gouverneure. Die Separatisten lehnen den Sonderstatus klar ab, da sie diesen als Instrument der Regierung sehen, den Anschein einer zunehmenden Autonomie der anglophonen Regionen zu erwecken. Als Reaktion intensivierten sie die Kämpfe mit der kamerunischen Armee und entführten (anglophone) Regierungsbeamte.

Seit der Eskalation des Konfliktes hat Präsident Biya mehrere Dialogangebote von internationaler Seite zurückgewiesen. Der letzte Vorstoß, eine kanadische Initiative für Friedensverhandlungen von Januar 2023, scheiterte am kurzfristigen Rückzug der kamerunischen Regierung. Von Kanada vermittelte geheime Vorgespräche trugen jedoch dazu bei, Konsens zwischen den zuvor stark zerstrittenen separatistischen Bewegungen zu bilden. Infolge des Dementis der kamerunischen Regierung reagierten die Separatisten mit einer erneuten Gewaltkampagne in den anglophonen Regionen, der Errichtung von Straßensperren und Attacken gegen Armeekonvois. Die kamerunische Armee griff daraufhin Stellungen der Separatisten an, verstärkte Patrouillen und das Verteidigungsministerium startete eine Kampagne, um knapp 9.500 neue Soldaten zu rekrutieren.

Geschichte des Konflikts

Die anglophone Krise hat ihren Ursprung in der postkolonialen Entstehungsgeschichte Kameruns. Von 1884 bis 1916 war Kamerun deutsche Kolonie. Nach dem Ersten Weltkrieg übergab der Völkerbund Großbritannien und Frankreich das Mandat, Kamerun in die Unabhängigkeit zu begleiten. Während Großbritannien eine Politik der indirekten Herrschaft (indirect rule) in Kooperation mit traditionellen Eliten verfolgte, errichtete Frankreich ein zentralisiertes, der Metropole wohlgesonnenes, klientelistisches Regime.

Das frankophone Kamerun wurde 1960 unabhängig, das britische Kamerun musste sich 1961 in einem Referendum zwischen der Angliederung an Kamerun oder an Nigeria entscheiden – die Option der Unabhängigkeit bestand nicht. Das nördliche britische Kamerun wählte Nigeria, das südliche den Anschluss an Kamerun. Von da an bestand Kamerun aus dem frankophonen Föderalstaat Ostkamerun und dem anglophonen Föderalstaat Westkamerun. Im Laufe der Zeit bildete sich daraus ein zentralisiertes, größtenteils frankophon dominiertes Regime, das die britische Kolonialgeschichte und ihre kulturellen, rechtlichen und politischen Prägungen negierte.

Der erste Präsident von Kamerun, Ahmadou Ahidjo, leitete Mitte der 1960er Jahre den Übergang zu einem von einer Einheitspartei straff geführten Zentralstaat ein. Alle Parteien mussten der 1966 gegründeten Nationalen Kamerunischen Union beitreten. Alle anderen Parteien wurden 1976 verboten. Ein 1972 durchgeführtes Referendum besiegelte das Ende des Föderalismus und begründete den Einheitsstaat der Vereinten Republik Kamerun. Die Verfassungsreform von 1984, die von Ahidjos Nachfolger im Präsidentenamt, Paul Biya (seit 1982), initiiert wurde, beseitigte die letzten Reste des bilingualen Föderalismus und verstärkte die Tendenzen zur Zentralisierung und Angleichung.

Die anglophone Krise ist somit eine Spätfolge der (De-)Kolonialisierung Kameruns: Die Grundsteine für die unterschiedlichen wirtschaftlichen, territorialen und politischen Systeme im englisch- und französischsprachigen Teil wurden in der Zeit der britischen und französischen Kolonialverwaltung gelegt. Verstärkt wurden und werden diese institutionalisierten Unterschiede durch die Dominanz des frankophonen Zentralstaates und den Abbau föderaler Institutionen. Die Folge ist eine seit 1960 stetig wachsende Marginalisierung der anglophonen Regionen.

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Miriam Glund arbeitet momentan zu EU-Afrika Beziehungen in der EU-Kommission in Brüssel. Sie hat Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, an Sciences Po Aix und am College of Europe in Brügge studiert. Während ihres Studiums war sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Arnold-Bergstraesser-Institut tätig und hat dort zur anglophonen Krise in Kamerun und Dialogprozessen in Subsaharaafrika geforscht.