Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Was ist eigentlich unter "politischem Islam" zu verstehen? | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

Radikalisierungsprävention Islamismus Nach Berufsgruppen Schule & pädagogische Praxis Politische Bildung Jugendarbeit & Soziale Arbeit Wissenschaft & Forschung Sicherheitsbehörden & Justiz Verwaltung & Politik Beratung & Ausstieg Kinder- & Jugendhilfe Journalismus & Medien Hintergrund-Beiträge Grundlagen: Begriffe & Konzepte Islamismus, Salafismus, Dschihadismus Salafismus – was ist das überhaupt? "Politischer Islam" Die Begriffe Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus Zum Konzept der Prävention Was ist antimuslimischer Rassismus? Debatte: Politische Bildung & Primärprävention Islamismus: Gruppierungen, Ideologie & Propaganda Zahlen zur islamistischen Szene in Deutschland Die salafistische Szene in Deutschland "Legalistischer Islamismus" als Herausforderung für die Prävention Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland Die Furkan-Gemeinschaft Mädchen und Frauen im Salafismus Antisemitische Narrative in deutsch-islamistischen Milieus Antimuslimischer Rassismus als islamistisches Mobilisierungsthema Monitoring von islamistischen YouTube-Kanälen Salafistische Online-Propaganda Das Virus als Mittel zum Zweck Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod Gewalt als Gegenwehr? Ausdifferenzierung der islamistischen Szene in Deutschland LGBTIQ*-Feindlichkeit in islamistischen Social-Media-Beiträgen Gaming und islamisch begründeter Extremismus Radikalisierung: Gründe & Verlauf Radikalisierung – eine kritische Bestandsaufnahme Islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen erkennen Psychosoziale Aspekte von Radikalität und Extremismus Interview mit Ex-Salafist Dominic Musa Schmitz Wie sich zwei Teenager radikalisierten Welche Rolle spielt Religion? Diskriminierung und Radikalisierung Erfahrungen von Rassismus als Radikalisierungsfaktor? Radikalisierung bei Geflüchteten Faktoren für die Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus Wer sind die "IS"-Unterstützer? Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim: Geschichte einer Radikalisierung Anzeichen von Radikalisierung Prävention & Politische Bildung Ansätze der Prävention mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen 20 Thesen zu guter Präventionspraxis Religion – eine Ressource in der Radikalisierungsprävention? Emotionen in der Präventionsarbeit Counter Narratives Gender-reflektierte Präventionsarbeit Die Bedeutung innermuslimischer Salafismuskritik für die Radikalisierungsprävention Rechtsextremismus und Islamismus - Was ist übertragbar? Phänomenübergreifende Jugendkulturarbeit Museen & Extremismusprävention Paradies – Hier, Jetzt, Später? Muslimische Jugendarbeit Muslimische Institutionen & Prävention Politische Bildung im Jugendstrafvollzug Politische Bildung in der Untersuchungshaft Prävention in Gefängnissen Jugendquartiersmanagement Interview: Polizei und Extremismusprävention in Mannheim Videos und soziale Medien: Prävention im Internet Online-Streetwork gegen Extremismus Aufsuchende Sozialarbeit in Social Media Online-Projekt: Fragen zum Glauben Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention Polizei NRW: Kontaktbeamte für muslimische Institutionen Beratung & Fallmanagement Interview: Die Rolle der Angehörigen in der Radikalisierungsprävention Der rechtliche Rahmen für die Präventionspraxis Datenschutz in der Präventionsarbeit Religionsfreiheit vs. Kindeswohlgefährdung Psychische Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierung Beratung in Zeiten von Corona Risk Assessment im Phänomenbereich gewaltbereiter Extremismus BAMF: Prävention im Flüchtlingsbereich Mit Kommunaler Fachberatung zu einer nachhaltigen, lokal verankerten Radikalisierungsprävention Deradikalisierung & "IS"-Rückkehrende „Rückkehrer:innen radikalisierten sich meist in Gruppen" Pädagogische Ansätze zur Deradikalisierung Zur Rolle von Psychotherapie in der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung Ausstiegsarbeit und Psychotherapie Distanzierung vom Salafismus Wie "ZiVI-Extremismus" Beratungsstellen für Deradikalisierung unterstützen kann Praxisbericht: Deradikalisierung im Strafvollzug Wie das BAMF den Umgang mit Rückkehrenden koordiniert Interview: Zurück aus dem "Kalifat" Rehabilitation von "IS"-Rückkehrerinnen und ihren Kindern Rückkehrende und Strafjustiz Rückkehrer und "Homegrown Terrorists" Pädagogische Ansätze zur Deradikalisierung Islamismus & Prävention in Schule & Jugendarbeit Diskutieren mit radikalisierten Schülerinnen und Schülern Globale Konflikte im Klassenzimmer Umgehen mit Kindern aus salafistisch geprägten Familien Kinder in salafistisch geprägten Familien Radikalisierung an Schulen früh erkennen FAQs zum Sprechen über Anschläge Mohammed-Karikaturen im Unterricht Schweigeminuten: Möglichkeiten & Fallstricke Salafismus als Herausforderung für die Offene Kinder- und Jugendarbeit Radikalisierungsprävention in der Schule Interview: Wie können Schulen reagieren? „Die Kids sind auf TikTok und wir dürfen sie dort nicht allein lassen" Akteure, Netzwerke & Internationales Serie: Islamismusprävention in Deutschland BAG religiös begründeter Extremismus Das KN:IX stellt sich vor Radicalisation Awareness Network RAN aus Praxis-Sicht Hass im Netz bekämpfen Bundesprogramm gegen Islamismus Soziale Arbeit und Sicherheitsbehörden Zusammenarbeit Beratungsstellen & Jugendhilfe Kommunale Radikalisierungsprävention Netzwerkarbeit vor Ort: Augsburg "Prevent", die Anti-Terrorismus-Strategie Großbritanniens Interview: Vilvoorde – vom "belgischen Aleppo" zum Vorbild Frankreich: Was hilft gegen Dschihadismus? Forschung & Evaluation Übersicht: Forschung zu Islamismus Übersicht: Evaluation von Präventionsprojekten modus|zad: Zwischen Forschung und Praxis Umfrage: Phänomenübergreifende Perspektiven gefordert, Islamismus weiterhin relevant Partizipative Evaluationen Evidenzbasierte Prävention (Neue) Evaluationskultur? Evaluation neu denken Das "Erwartungsdreieck Evaluation" Evaluation von Präventionspraxis Angemessene Evaluationsforschung Weitere Themen Das Sprechen über den Islam Gesetze und Plattformregeln gegen Online-Radikalisierung MasterClass: Präventionsfeld Islamismus Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz Türkischer Ultranationalismus als pädagogisches Arbeitsfeld Hintergrund-Beiträge chronologisch Schwerpunkt-Themen: Serien "Legalistischer" Islamismus Psychologie & Psychotherapie Antimuslimischer Rassismus Rechtlicher Rahmen Kooperation von Präventionsakteuren Umgang mit Anschlägen in der Schule Evaluationen Materialsammlungen Wie umgehen mit dem Nahostkonflikt? – Eine Übersicht für Schulen und Bildungseinrichtungen Handreichung: Schule und religiös begründeter Extremismus Handreichung: Umgang mit Anschlägen Pädagogische Materialien Sekundarstufe Grundschule Medien für den Unterricht Publikationen für die Schule Jugendbücher & Unterrichtsmaterialien von dtv Fachbeiträge für Schule und Pädagogik im Kontext Islamismus und Prävention Video & Audio Video: Dokumentationen, Filme & Erklärvideos Podcast-Serien und Radiobeiträge Veranstaltungen: Vorträge, Podiumsdiskussionen & Fachgespräche Islam & muslimisches Leben Bücher & Zeitschriften Fachbücher Sachbücher Biografien & Autobiografien Romane Fachzeitschriften Broschüren, Handreichungen & Online-Portale Service Newsletter: Abo & Archiv Newsletter-Archiv Datenbank: Beratung & Angebote vor Ort finden FAQ Infodienst-Publikationen Infodienst-Journal Aktuelle Termine Termin-Rückblick 2023 Termin-Rückblick 2022 Termin-Rückblick 2021 Termin-Rückblick 2020 Stellenangebote Über den Infodienst & Kontakt Verlinkung mit dem Infodienst

Was ist eigentlich unter "politischem Islam" zu verstehen? Allah und die Ordnung der Welt

Christian Meier

/ 7 Minuten zu lesen

Mit dem Begriff "politischer Islam" werden sehr unterschiedliche Aktivitäten bezeichnet. Häufig wird der Begriff mit "(legalistischem) Islamismus" gleichgesetzt – und ist zum Kampfbegriff geworden; zur Projektionsfläche für Feindbilder und muslimfeindliche Ängste. Dabei könnte "politischer Islam" ebenso als Sammelbezeichnung für politische Aktivitäten von Muslimen dienen und so dem "Islamismus"-Begriff entgegenstehen. Christian Meier diskutiert Bedeutungsnuancen und Verwendungsmöglichkeiten des umstrittenen Begriffs.

Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren

Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail.

Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement


Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "'Legalistischer' Islamismus".

Es ist etwa zwei Jahrzehnte her, dass der Begriff des "Dschihadismus" in Deutschland erstmals breitere Verwendung fand. Zuvor hatte man von "Mudschahedin" gesprochen. Während diese als archaisch-noble Widerstandskämpfer galten, verkörperte der Dschihadist nach den Anschlägen vom 11. September 2001 das antiwestliche, terroristische Gewaltpotential des Islams; Al-Qaida-Führer Usama Bin Ladin gab ihm sein Antlitz.

Einige Jahre später trat der "Salafismus" als weitere Bedrohung für Demokratie und westlichen Lebensstil ins Licht der Öffentlichkeit. Die Gefahr erschien umso größer, als offenbar wurde, dass Anhänger dieser fundamentalistischen Strömung auch im Westen leben – und dass sie hier systematisch Mission betreiben. Und dass es mitunter ein Zusammenspiel mit dschihadistischen Bewegungen wie dem "Islamischen Staat" gibt. Jahrelang war die Zahl der Salafisten ein großes Thema in den Verfassungsschutzberichten und in der Berichterstattung. Heute ist das Interesse deutlich abgeflaut. Das liegt nicht etwa daran, dass es keine Dschihadisten und Salafisten mehr gäbe – sondern womöglich daran, dass die lautesten Warnrufe seit einiger Zeit einem anderen Feld gelten: dem "politischen Islam".

"Politischer Islam" sei eine "Herrschaftsideologie", schrieb etwa der liberale Münsteraner Islamtheologe Mouhanad Khorchide. Der Publizist Hamed Abdel-Samad verkündete im November gar seinen Ausstieg aus der Deutschen Islam-Konferenz aus Protest gegen die dortige "Hofierung" des "politischen Islams". Dieser arbeite mit einer "Salamitaktik", um eine religiöse Diktatur wie in der Türkei zu schaffen. Er benutze die politische Teilhabe als "Deckmantel", um "Gegengesellschaften" aufzubauen, schrieb Abdel-Samad, der Medien und Kirchen vorwarf, sie würden den Begriff "verharmlosen".

Sicher ist auf jeden Fall, dass die Wortverbindung "politischer Islam" zu einem Kampfbegriff geworden ist. Dazu eignet er sich möglicherweise gerade aufgrund seiner Vagheit und Offenheit als Sammelbezeichnung für politische Aktivitäten von Muslimen. Das macht ihn jedoch zugleich zu einer Projektionsfläche für Feindbilder und muslimfeindliche Ängste – also potentiell zu einem Instrument des Populismus. Fraglich bleibt, ob dies all denjenigen bewusst ist, die den Begriff verwenden. Was ist überhaupt "politischer Islam"? Was unterscheidet ihn vom "Islamismus", der lange Zeit der gängigste Begriff war, um islamische Machtansprüche in politischen Gemeinwesen zu bezeichnen?

"Politischer Islam ist zu einem Kunstbegriff für Islamhasser geworden"

Neu ist der Begriff nicht. Schon im vergangenen Jahrhundert wurde er im deutschen Sprachraum verwendet – wie auch im Englischen und im Arabischen, wo "al Islam al siyasi" seit mehreren Jahrzehnten geläufig ist. Allerdings wurde der Ausdruck hierzulande besonders popularisiert, sowohl in der Literatur als auch im Journalismus. Eine Auswertung der vier überregionalen Tageszeitungen F.A.Z., "Süddeutsche Zeitung", "Tageszeitung" und "Welt" ergibt, dass die Wortverbindung "politischer Islam" im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts immer häufiger gebraucht wurde. Und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Vergleich zu der Häufigkeit, mit der der Begriff "Islamismus" verwendet wird (der aber immer noch deutlich gängiger ist).

Aufschlussreich ist, welche Entwicklung der Begriff inhaltlich genommen hat. Während er früher weitgehend synonym mit "Islamismus" eingesetzt wurde, hat – mutmaßlich seit etwa einem halben Jahrzehnt und vielleicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise – eine Bedeutungsverschiebung eingesetzt. "Politischer Islam" wird inzwischen meist deutlich fokussierter verwendet: als Phänomen, das maßgeblich Deutschland und Europa betrifft. Und das oft mit den Aktivitäten institutionell organisierter Muslime in diesen Ländern zusammenhängt – der sogenannten Islamverbände. Die Stoßrichtung ist dabei – wenig überraschend angesichts der Polarisierung jeder Art von Debatte über den Islam – stark kritisch bis alarmistisch. Diese Linie lässt sich mindestens bis in den November 2016 zurückverfolgen, als die CSU auf ihrem Parteitag den Leitantrag "Politischer Islam" verabschiedete, der mit dem Satz begann: "Der Politische Islam ist die größte Herausforderung unserer Zeit."

Kritik an der Verwendung des Begriffs ist nicht ausgeblieben. Sie zielt vor allem auf die mangelnde oder mangelhafte Definition dessen, was "politischer Islam" sein soll. Stattdessen würden Muslime unter einen "Generalverdacht" gestellt, heißt es etwa. Politiker würden sich den unklaren Begriff und seine Nähe zu "Islam" an sich zunutze machen und auf diese Weise "im rechten Wähler-Teich fischen". Diesen Vorwurf erhob der österreichische Politik- und Islamwissenschaftler Rami Ali gegenüber der Regierungspartei ÖVP, die im Sommer 2020 eine "Dokumentationsstelle Politischer Islam" gegründet hatte. Im Herbst, nach dem Terroranschlag in Wien, verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz die Einführung eines Straftatbestands "politischer Islam". Im Gesetzestext, der im Dezember vorgelegt wurde, war aber neutral von "religiös-motivierten extremistischen Verbindungen" die Rede. Die ÖVP hat freilich klargemacht, dass sie weiter gegen "politischen Islam" vorgehen will.

In Deutschland gab unterdessen der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, zu Protokoll, dass er den Begriff kritisch sieht: "Er hat Verhetzungspotential, weil damit Politik mit Gewalt verwechselt wird." Sogar der Islamtheologe Abdel-Hakim Ourghi, dem man keine Milde gegenüber konservativen Muslimen vorwerfen kann, schrieb kürzlich, "politischer Islam" sei zu einem "Kunstbegriff für Islamhasser" geworden.

Islamische Positionen in politische Debatten einzubringen, kann eine Ausprägung des "politischen Islams" sein

Nun wird die Bedeutung von Begriffen oft durch die Zeitumstände bestimmt und kann sich wandeln. "Antisemitismus" etwa erfasst dem ursprünglichen Wortsinn nach nicht alle heutigen Formen von Judenfeindschaft; Ähnliches gilt für das umstrittene Wort "Islamophobie". Dennoch würde kaum jemand bestreiten, dass es die Phänomene gibt, die damit jeweils landläufig bezeichnet werden. Oder doch nicht? Soll das Konzept der Islamophobie überhaupt nur legitime Kritik am Islam verstummen lassen, wie manche meinen? Und werden Kritiker der israelischen Politik mittels eines Antisemitismusvorwurfs mundtot gemacht? Präzision bei der Definition solcher Begriffe ist unerlässlich, damit ihre Aussagekraft beurteilt werden kann.

Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer hält den Begriff "politischer Islam" grundsätzlich für "hilfreich und berechtigt". Nämlich dann, wenn man deutlich machen wolle, dass nicht vom "Islam an sich" im Sinn einer religiös-kulturellen Orientierung die Rede ist, sondern "der Islam als politische Kraft verstanden wird und in die Politik eingebracht werden soll". Zugleich fordert sie eine genaue Unterscheidung der Phänomene an. "Radikal" etwa werde mit Blick auf islamische Organisationen häufig unsauber verwendet, sagt Krämer der F.A.Z. Ebenso wendet sie sich gegen die Gleichsetzung der Begriffe "islamischer Fundamentalismus", "Islamismus" und "politischer Islam". Den Unterschied bringt die Berliner Professorin auf die Formel: "Fundamentalismus – wie lese ich den Koran? Islamismus – wie gestalte ich mein Leben? Politischer Islam – wie verhalte ich mich politisch?" Dass das zu kompliziert sein könnte, lässt Krämer nicht gelten: "Wenn wir die deutsche Politik beschreiben, bemühen wir uns ja auch um Präzision und Differenzierung. Wir bezeichnen beispielsweise nicht jeden Grünen-Politiker als radikal."

Geht man von Krämers Definition aus, ergibt sich ein Verständnis von "politischem Islam", das weitreichend ist – aber keineswegs notwendigerweise so problematisch, wie viele es nahelegen. Beispielsweise wäre das Einbringen islamischer Positionen in Debatten über Umweltschutz oder Abtreibungsrecht eine Ausprägung "politischen Islams". Das ist schwerlich eine "Herrschaftsideologie" – aber durchaus Ausdruck dessen, dass nach Ansicht vieler Muslime der Islam eine von Gott gegebene Ordnung der Welt darstellt, was die Politik einschließt. Ein solches Verständnis des Begriffs wäre auch insofern hilfreich, als es Analogien zu Phänomenen in anderen Religionen aufzeigen würde. Beispielsweise zum "politischen Katholizismus", aus dem sich auch CDU und CSU entwickelt haben.

Viele Autoren bestimmen "politischen Islam" indessen, wenn überhaupt, ausschließlich auf der Grundlage der problematischsten Aspekte islamischer politischer Betätigung. So schrieb die Ethnologin Susanne Schröter 2019 in ihrem Buch "Politischer Islam. Stresstest für Deutschland", der Begriff ziele auf die "totalitäre Umgestaltung des Politischen" und die "Unterwerfung von Gesellschaft, Kultur, Politik und Recht unter islamistische Normen". Die Unionspolitiker Winfried Bausback und Carsten Linnemann definierten in dem im selben Jahr erschienenen Sammelband "Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland. Wie wir unsere freie Gesellschaft verteidigen", der "politische Islam" umfasse "die radikalen Ausprägungen, die den westlichen Lebensstil zum Feindbild erheben und unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu unterlaufen suchen". Im Grunde geht es also um verfassungsfeindliche Bestrebungen, wofür die Wahl des Ausdrucks "politischer Islam" irritierend harmlos erscheint. Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, lehnt den Begriff ab.

"Politischen Islam" als Pauschalbezeichnung für demokratiefeindliche Handlungen zu verwenden, unterstützt ein gefährliches Narrativ

Nicht zufällig werden in den Erläuterungen Wörter wie "umgestalten" oder "unterlaufen" benutzt. Das verweist auf ein weiteres Schlagwort, das oft im selben Kontext oder sogar synonym für "politischer Islam" gebraucht wird: "legalistischer Islamismus". Gemeint sind die - legalen - Aktivitäten von Organisationen mit islamistischer Stoßrichtung. Auch hier schwingt der Vorwurf des angestrebten Systemumsturzes mit. Er werde, so die Mutmaßung, hinter gesetzeskonformem Auftreten verborgen – daher "legalistisch". Der Vorwurf lautet, manche Islamverbände errichteten eine "Fassade"; man müsse sie "enttarnen".

Die Islamwissenschaftlerin Krämer sagt, man könne eine missbräuchliche Ausnutzung des Rechtsrahmens natürlich nicht in jedem Fall ausschließen. Sie beharrt aber darauf, es sei prinzipiell "nichts Illegitimes dabei, den Islam auch in politische Themen einzubringen" – solange nicht Gewalt eingesetzt wird oder Gesetze verletzt werden. Die deutsche Gesellschaft sei stark genug, dagegenzuhalten, wenn Muslime konservative Vorstellungen durchsetzen wollten, beispielsweise beim Schulunterricht für Mädchen.

Der italienische Islamismusforscher Lorenzo Vidino, der dem Beirat der österreichischen "Dokumentationsstelle" angehört, sagt dagegen, er halte den "legalistischen Islamismus" sogar für gefährlicher als Dschihadismus oder Salafismus – "weil er ein Projekt der langfristigen gesellschaftlichen Umgestaltung verfolgt". Die betreffenden islamistischen Gruppen seien "hochgradig organisiert und sehr gut finanziert", sagt Vidino der F.A.Z., und sie sendeten eine "spaltende" Botschaft an die Muslime: "Wir sind anders, wir gehören nicht wirklich in diese Gesellschaft, wir haben andere Werte." Dadurch und durch ein ebenfalls bedientes "Opfernarrativ" bereiteten sie der Rekrutierung durch militante Gruppen den Boden.

An den gegensätzlichen Einschätzungen dessen, was unter "politischem Islam" zu verstehen ist, wird deutlich, welche Gefahr in seiner Verwendung als pauschale Bezeichnung für demokratiefeindliche Bestrebungen auf islamischer Grundlage steckt. Der Begriff kann ein sehr breites Spektrum von Phänomenen von einem gewalttätigen Extremismus bis zu legalem politischem Engagement im Rahmen der Demokratie bezeichnen, die nichts als den Bezug auf den Islam gemeinsam haben. Wird seine Bedeutung eingeengt auf staatsgefährdende Aktivitäten, wird damit – womöglich unbeabsichtigt – ein Narrativ bedient, das mindestens fragwürdig, wenn nicht bewusst spaltend ist.

Dieser Beitrag wurde zuerst in der F.A.Z. vom 16.1.2021 im Ressort Zeitgeschehen (Politik) veröffentlicht. Autor ist Christian Meier. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "'Legalistischer' Islamismus".

Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus

Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.

Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite

Weitere Inhalte

Radikalisierungsprävention Islamismus

"Legalistischer" Islamismus

Was ist "legalistischer" Islamismus? Was zeichnet Gruppierungen wie Millî Görüş, die Muslimbruderschaft, die Furkan-Gesellschaft oder Hizb ut-Tahrir aus? Wie kann die Präventionsarbeit ihnen begegnen?

Infodienst Radikalisierungsprävention

Radikalisierungsprävention

Der "Infodienst Radikalisierungsprävention – Herausforderung Islamismus" behandelt die Themen Islamismus, Prävention und (De-)Radikalisierung: mit Hintergrundinfos, Materialien, Terminen & Newsletter

Infodienst Radikalisierungsprävention

Hizb ut-Tahrir in Deutschland

Die islamistische Hizb ut-Tahrir ist keine besonders große Gruppierung, aber ihre Initiativen erreichen gerade im Internet junge Zielgruppen. Hanna Baron betrachtet Ideologie und Ziele der HuT.

Infodienst Radikalisierungsprävention

Islamismus: Gruppierungen, Ideologie & Propaganda

Welche islamistischen Gruppierungen sind in Deutschland aktiv? Wie viele Mitglieder haben sie und was zeichnet ihre Ideologie aus? Welche Themen beherrschen die islamistische Propaganda?

Infodienst Radikalisierungsprävention

Newsletter Radikalisierung & Prävention

Newsletter des Infodienst Radikalisierungsprävention: Alle sechs Wochen Hintergrundinfos, aktuelle News, Termine, Stellenangebote & Materialien

Infodienst Radikalisierungsprävention

Dokus, Erklärvideos & Podcasts

Videos & Audios, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Islamismus, Salafismus, Radikalisierung und Möglichkeiten der Prävention beschäftigen

studierte Islamwissenschaft und Geschichte in München, Hamburg, Kairo und Tunis; er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration" der Universität Konstanz. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er unter anderem bei der "Süddeutschen Zeitung", dpa und ARD-aktuell. 1999 war er einer der Gründer des Nahost-Magazins "zenith", dessen Redaktion er zuletzt leitete. 2016 trat er in die politische Redaktion der F.A.Z ein., wo er vor allem den Nahen Osten betreut.