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Zum Konzept der Prävention Ein Plädoyer für engere Grenzen

Dr. Frank Greuel

/ 7 Minuten zu lesen

Unter dem Label "Radikalisierungsprävention" wird eine Vielzahl von pädagogischen Angeboten gefördert. Dabei wird in unterschiedlichsten Formen und mit verschiedensten Zielgruppen gearbeitet, der präventive Gehalt lässt sich zum Teil jedoch kaum erkennen. Aus fachlicher Sicht wäre es ratsam, in diesen Fällen nicht von Prävention zu sprechen, argumentiert Frank Greuel. Denn eine Überdehnung des Präventionskonzepts vervielfacht unnötigerweise die darin angelegten Pathologisierungs- und Stigmatisierungsproblematiken

Symbolbild (© Pixabay, ivanaco)

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Bereits eine kurze Recherche unter dem Stichwort "Radikalisierungsprävention" genügt, um zu verdeutlichen, dass seit geraumer Zeit eine große Anzahl von pädagogischen Maßnahmen unter diesem Label gefördert wird. Auffällig ist dabei, dass sich unter dieser Kategorie höchst unterschiedliche Angebote verbergen. Nicht nur, dass verschiedenen Phänomenen wie Rechtsextremismus und islamistischem Extremismus vorgebeugt werden soll. Darüber hinaus findet sich eine enorme Vielgestalt an Zielgruppen und Arbeitsweisen. Die Bandbreite reicht dabei von wissensvermittelnden Projekten, die mit Schulklassen arbeiten, bis hin zu Angeboten der Ausstiegsbegleitung für Angehörige rechtsextremer oder islamistisch-extremistischer Szenen. Die wesentliche Gemeinsamkeit dieser höchst unterschiedlichen Formate besteht darin, dass sie als Prävention bezeichnet werden beziehungsweise mit präventiven Ansprüchen gefördert werden.

Förderlogik öffentlicher Geldgeber

Die Weite dieser "präventiven" Maßnahmen und die damit verbundene Überdehnung des Präventionskonzepts wird nicht zuletzt auch durch die Tatsache erzeugt, dass Präventionsprogramme immer auch reichhaltige Förderquellen darstellen. Für Praxisakteure ist es daher grundsätzlich attraktiv, die präventiven Anteile der eigenen Arbeit zu betonen und damit die Chancen auf eine Förderung der Angebote durch öffentliche Mittel zu steigern. Zum Teil ist diese Strategie für Träger von Jugend(sozial-)arbeit und von Bildungsangeboten gerade in Zeiten unterfinanzierter Angebotsstrukturen sogar überlebenswichtig. Für politische Akteure wiederum ist die Initiierung entsprechender Präventionsprogramme attraktiv, da sie damit Handlungsmacht und -kompetenz demonstrieren und der eigenen politischen Position Nachdruck verleihen können ("Wir tun etwas gegen …").

Verstärkend kommt noch eine Eigentümlichkeit von Prävention hinzu: Sobald präventive Handlungen möglich sind oder auch nur möglich scheinen, steigt auch der Handlungsdruck, weil negative Ereignisse zu vermeidbaren Ereignissen werden. Politische Verantwortungsträger müssen beim tatsächlichen Eintreten der unerwünschten Ereignisse oder Zustände damit rechnen, dass sie sich dafür rechtfertigen müssen, dass sie nichts getan haben, obwohl sie etwas hätten tun können. Nichts oder zu wenig getan zu haben, wird damit zum politischen Risiko. Eine Überdehnung des Präventionskonzepts ist aus den angeführten Gründen und aus unterschiedlichsten Interessenlagen heraus naheliegend und auch tatsächlich beobachtbar. Aus fachlicher Sicht ist trotz dessen oder gerade deswegen kritisch zu prüfen, ob die Bezeichnung "Prävention" in allen Fällen zutreffend ist.

Begrifflichkeiten

Zu klären ist natürlich zunächst, was überhaupt unter Prävention verstanden wird. Allgemein gesprochen ist Prävention die gezielte Vorbeugung von unerwünschten und zukünftigen Ereignissen oder Zuständen. Wie weit im Vorfeld präventiv gehandelt wird, ist klassischerweise ein wesentliches Kriterium, um verschiedene Konzepte präventiven Agierens voneinander zu unterscheiden und genauer zu bestimmen.

Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention

Gerald Caplan (1964) unterschied zwischen Formen von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Primäre Prävention setzt bereits im Vorfeld des Auftretens unerwünschter Zustände an und will deren Herausbildung grundsätzlich unterbinden. Im Unterschied hierzu findet sekundäre Prävention statt, wenn bereits erste Ausprägungen des Unerwünschten vorliegen und eine (weitere) Verfestigung verhindert werden soll. In Fällen tertiärer Prävention ist das eigentlich zu verhindernde Problem schon vollständig ausgeprägt. Das präventive Streben richtet sich hier vor allem darauf, ein erneutes Auftreten zu verhindern.

Im Feld der Radikalisierungsprävention ist die gesamte Bandbreite an Möglichkeiten von Prävention vertreten. Im Bereich primärer Prävention liegen beispielsweise Angebote der politischen Bildung zu Rechtsextremismus oder islamistischem Extremismus, in denen über die jeweiligen Ideologien aufgeklärt wird. In den Bereich sekundärer Prävention lassen sich Maßnahmen einordnen, in denen zum Beispiel mit den Mitteln der Sozialen Arbeit präventiv mit Jugendlichen gearbeitet wird, die bereits deutliche Affinitäten zu rechtsextremen oder islamistisch-extremistischen Ideologien und/oder Gruppen haben. Maßnahmen tertiärer Prävention sind beispielsweise Angebote der Ausstiegsbegleitung, in denen ausstiegswillige Mitglieder von rechtsextremen oder islamistisch-extremistischen Szenen bei ihrer Distanzierung und Deradikalisierung unterstützt werden. Aber kann hier wirklich von Prävention gesprochen werden?

Oder anders: Wo genau hört Prävention denn auf? Wenn jemand bereits in rechtsextreme oder islamistisch-extremistische Szenen involviert ist, dann ist es faktisch bereits zu spät für ein "vorbeugendes" Eingreifen. Der Verweis auf den präventiven Charakter, der darin liegt, dass die Gefahr des erneuten Auftretens verringert werden soll, trägt hier nur zum Teil. Schließlich ist das Hauptanliegen für Ausstiegsbegleitungen, den Prozess des Ausstiegs zu forcieren und zu unterstützen. Erst wenn dieser Prozess weit vorangeschritten ist, kann es überhaupt darum gehen, den Ausstieg zu stabilisieren und Rückfallgefahren zu minimieren. Ein erneutes Auftreten zu verhindern setzt nämlich voraus, dass das problematische Phänomen weitestgehend überwunden ist und keinen Dauerzustand darstellt. Insofern sollten Angebote der Ausstiegsbegleitung konsequenterweise nicht über die präventiven Gehalte definiert werden, die sie zweifellos haben, die aber nicht ihren Kern ausmachen. Dieser Kern liegt vielmehr in der Auseinandersetzung und Bearbeitung eines akut vorliegenden unerwünschten Zustands, nämlich einer Zugehörigkeit zu einer einschlägigen Szene und/oder einer Radikalisierung auf ideologischer Ebene.

Universelle, selektive und indizierte Prävention

Bereits Robert S. Gordon (1983) kritisierte an der Einteilung in primäre/sekundäre/tertiäre Prävention vor allem die darin angelegte Überdehnung des Konzepts "Prävention". Alternativ entwickelte er eine Kategorisierung, die zwischen universellen, selektiven und indizierten Präventionsansätzen unterscheidet und dabei einen engeren Präventionsbegriff verwendet.

Universelle Prävention setzt bereits vor Auftreten eines bestimmten Problems bei Zielgruppen an, die keine Auffälligkeiten oder ein erhöhtes Risiko aufweisen. Demgegenüber greifen Maßnahmen gezielter Prävention, wenn bereits Risikofaktoren erkennbar sind (selektive Prävention) beziehungsweise wenn sich erste Problemausprägungen zeigen (indizierte Prävention). Als Prävention gilt hier also nur etwas, an dem es auch noch etwas zu verhindern gibt, nämlich die vollständige Ausprägung des unerwünschten Phänomens. Ausstiegsbegleitung gilt in Gordons Systematik entsprechend nicht als Form der Prävention, sondern als Bearbeitung eines akuten Zustandes.

Grenzen des Konzepts "Prävention"

Angesichts der grundsätzlich unterschiedlichen konzeptionellen Gehalte von "Prävention" bei Caplan und Gordon ist bedauerlich, dass im fachlichen Diskurs zur Radikalisierungsprävention nicht selten die bestehenden Differenzen ignoriert werden, indem primäre und universelle, sekundäre und selektive sowie tertiäre und indizierte Prävention als Synonympaare begriffen werden.

Die Frage nach den Grenzen des Konzepts Prävention beschränkt sich aber nicht nur auf eine Art "Obergrenze" und die Frage, ab wann etwas nicht mehr als Prävention gelten kann. Mindestens ebenso strittig ist, wo die "Untergrenze" liegt beziehungsweise ab wann etwas überhaupt schon als Prävention gelten kann. Ein enger Präventionsbegriff könnte auch hier zur kritischen Reflektion über präventive Gehalte beitragen. Die Schwierigkeit liegt nämlich vor allem darin, dass präventive Maßnahmen, die weit im Vorfeld liegen (also universeller oder auch primärer Prävention entsprechen) mitunter relativ unspezifisch sind und große Bevölkerungsteile präventiv "behandeln". Im Feld der Radikalisierungsprävention wird im weiten Vorfeld vor allem mit den Mitteln von Aufklärung und Sensibilisierung gearbeitet, ebenso finden sich Maßnahmen der Demokratieförderung oder auch persönlichkeits- beziehungsweise identitätsstärkende Angebote.

Schnell einsichtig ist, dass solche Maßnahmen positive Effekte haben, die weit über die Radikalisierungsprävention hinausgehen. Im besten Fall wirken sie also auch, aber eben nicht nur, gegen Radikalisierung. So handelt es sich zumindest bei einem Teil dieser Maßnahmen zum Beispiel eher um Maßnahmen allgemeiner Demokratiepädagogik oder zur Stärkung sozialer Kompetenz, die ohnehin Bestandteil einer gelingenden Sozialisation sind (oder sein sollten).

Probleme bei mangelnder Eingrenzung

Entsprechende Maßnahmen unter präventiven Vorzeichen zu fördern, ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen liegt hier die Gefahr einer Pathologisierung breiter Bevölkerungskreise, denn eine solche "Behandlung" macht nur dann Sinn, wenn es hinreichend wahrscheinlich ist, dass sich diese Bevölkerungskreise radikalisieren.

Zum anderen werden die umgesetzten Angebote zu Mitteln degradiert, um einen präventiven Zweck zu erfüllen. Zugespitzt formuliert könnte eines Tages außerschulische Jugendarbeit im Allgemeinen nicht mehr als selbstverständliches und wertvolles Förderinstrument gelten, sondern nur noch förderwürdig erscheinen, wenn ihre präventiven Gehalte betont werden ("Offene Jugendhäuser gegen Rechtsextremismus").

Schon heute finden sich Angebote allgemeiner Integrationsarbeit mit Geflüchteten, die gefördert werden, um islamistische Radikalisierungen zu verhindern. Die geleistete Unterstützung erfolgt hier nicht mehr als Selbstzweck oder Selbstverständlichkeit, sondern aus Furcht vor Radikalisierungen. Abgesehen davon bestehen hier Stigmatisierungsgefahren, denn es werden Bilder transportiert, die Geflüchtete und islamistische Terroristen allzu leicht in eins setzen.

Auch angesichts der hier aufscheinenden Stigmatisierungsproblematik ist es geboten, Präventionsrhetoriken zu hinterfragen und von Prävention nur dann zu sprechen, wenn entsprechende Maßnahmen einen präventiven Kern haben. Und dies gilt für Ausstiegsbegleitungen ebenso wenig wie für integrationsunterstützende Maßnahmen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte Version einer früheren Veröffentlichung: "Das (zu) weite Feld der Prävention oder wo Prävention beginnen und enden sollte. Ein Plädoyer für einen engen Präventionsbegriff". Erschienen in: Drachenfels, Magdalena von/Offermann, Philipp/Wunderlich, Carmen (Hrsg.) (2018): Radikalisierung und De-Radikalisierung in Deutschland. Eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, Frankfurt (Main), S. 133-137

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Quellen / Literatur

Caplan, Gerald (1964): Principles of Preventive Psychiatry, 5. Aufl., New York, NY.

Gordon, Robert S. (1983): An operational classification of disease prevention. Public Health Reports, Jg. 83, Heft 98 (3), S. 107–109.

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Dr. Frank Greuel für bpb.de

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Frank Greuel, Dr. rer. soc., ist Erziehungswissenschaftler und wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut in Halle (Saale). Er ist seit vielen Jahren in der wissenschaftlichen Begleitforschung zur pädagogischen Prävention von Rechtsextremismus tätig. Sein Forschungsinteresse gilt der politischen Sozialisation von jungen Menschen und Fragen von Normativität und Ethik in der Pädagogik.