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Frankreich: Welche Konzepte helfen gegen den Dschihadismus? Interview mit Asiem El Diafraoui

Asiem El Diafraoui

/ 8 Minuten zu lesen

Mehrere Terroranschläge haben innerhalb kurzer Zeit Frankreich erschüttert. Welche konkreten Maßnahmen - und Pläne - gibt es bei der Prävention gegen den Dschihadismus? Wie diskutiert die Öffentlichkeit darüber, und wie ist der Stand der Fachdiskussion? Gibt es Unterschiede zur Situation in Deutschland? Ein Interview mit dem in Frankreich lebenden ägyptisch-deutschen Politologen Asiem El Diafraoui.

Französische Fahnen wehen auf Halbmast an der Promenade des Anglais in Nizza am Tag nach dem Terroranschlag vom 14.07.2016. (© picture-alliance/dpa)

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Frankreich ist von einer Serie von Anschlägen mit dschihadistischem Hintergrund betroffen. In der Berichterstattung der deutschen Medien darüber dominiert der Sicherheitsaspekt. Wie wird in Frankreich über Prävention diskutiert? Wie will man langfristig Radikalisierung und damit solche Anschläge verhindern?

Asiem El Diafraoui: Ich beginne mal mit einer Rückschau. Frankreich wurde bereits Ziel dschihadistischer Anschläge, als man das noch gar nicht so nannte. Zum Beispiel 1994, da wurde ein Airbus von Algier nach Marseille entführt. Dann kam die Anschlagsserie 1995 in Paris. Fachleute, die sich mit Radikalisierungsmechanismen und Dschihadismus befassen, sagen schon länger: Wir haben erwartet, dass bei uns erneut Anschläge passieren, früher oder später. Trotzdem wurde die Republik von den Anschlägen in der jüngeren Zeit, ab 2013 bis 2015, überrascht.

Immer mehr junge Franzosen radikalisierten sich. Denn Frankreich hat dem Terror immer nur klassische Sicherheitsmaßnahmen entgegengesetzt, keine Prävention. Das ging auch lange gut. Frankreich wurde lange Zeit verschont von so folgenschweren Anschlägen wie die in London 2005 oder Madrid 2004.

Die aktuelle Lage ist ein Resultat von jahrelanger Vernachlässigung, obwohl es im Bereich der Prävention viele engagierte Kollegen gibt. Ein Beispiel: Trotz Warnungen von Fachleuten wurden viele Menschen, die des Dschihadismus verdächtigt werden, im Gefängnis und nach ihrer Entlassung kaum betreut. Einige Forscher haben schon früh darauf hingewiesen, dass die individuelle langfristige Betreuung sehr wichtig ist. Bisher wurden diese Erkenntnisse zu langsam umgesetzt.

Das Resultat ist: Alle Attentäter der jüngeren Zeit waren von den Behörden bereits erfasst, mit Ausnahme des Nizza-Falles. Der Priester-Mörder von Saint-Etienne-du Rouvray hatte sogar eine Fußfessel und musste sich bei der Polizei melden. Trotzdem konnte er ein Attentat verüben.

Wie konnte es zu dieser Vernachlässigung kommen?

Asiem El Diafraoui: Es fehlt am politischen Willen. Das ganze Phänomen wird nicht offen genug diskutiert. Das Land befindet sich im Wahlkampf, in dem sich sämtliche Parteien und Kandidaten mit populistischen Vorschlägen überbieten, ob das jetzt Herr Juppé ist, Herr Sarkozy, ob das die Sozialistische Partei von Hollande ist.

Die Regierung verfolgt keine klare Linie. Der Premierminister Manuell Valls sprach nach der Anschlagsserie 2015 davon, dass man gegen die "Apartheid" in den Vorstädten angehen müsse. Mittlerweile pflegt er eine "Krieg gegen den Terrorismus"-Rhetorik.

Und der Laizismus des Staates stellt bei der Präventionsarbeit eine spezielle Herausforderung dar. Der französische Staat ist religionsneutral. Das wird von islamischen Verbänden zum Teil als islamfeindlich ausgelegt, was aber nicht stimmt. Es bedeutet aber auch zum Beispiel, dass staatliche Behörden kein Informationsmaterial – etwa Broschüren – zum Thema Islam herausgeben können.

Eine weitere Herausforderung ist der Zentralismus in Frankreich. Der Zentralstaat soll alles richten. Aber da fehlen aufgrund des Sparkurses Mittel. Gleichzeitig ist die Regierung etwas zögerlich, die Zivilgesellschaft einzubinden.

Gibt es kein systematisches Präventionskonzept?

Asiem El Diafraoui: Das ist sehr, sehr vage. Das Thema wurde vor einiger Zeit an einen Präfekten delegiert, einen hohen Regierungsbeamten. Es existiert so etwas wie ein Präventions- und Deradikalisierungsrat, aber das alles steckt in den Kinderschuhen. Wichtigster Ansprechpartner ist eine interministerielle Kommission. Die Leitung dieser Kommission war zeitweise nur interim besetzt. Meiner Meinung nach müsste man diese Funktion politisch besetzen. [Anm. der Red.: Im August wurde der Präfekt Pierre N’Gahane als Leiter des interministeriellen Komitees für Prävention abgelöst, seitdem ist die Diplomatin Muriel Domenach neue Generalsekretärin. ]

Hinzu kommt: Die Polizeikräfte sind überlastet. Die hatten nach den schlimmen Anschlägen vom Januar 2015 und vom November 2015 im Sommer 2016 die Fußball-EM. Aber auch das wird nicht offen diskutiert, weil eben der Präsidentschaftswahlkampf ansteht.

Frankreich hat herausragende Akademiker, die sich mit dem Thema befassen. Das Problem ist: Sie streiten sich um Radikalisierungsursachen, statt gemeinsam zu arbeiten. Zumindest sind sich jedoch alle einig, dass es so, wie es aktuell ist, nicht weitergehen kann. Hochmotivierte Gefängnispsychologen müssen teilweise Dutzende von radikalisierten Menschen betreuen – die schaffen dies kaum.

Dennoch gibt es ja ein Konzept auf nationaler Ebene. Wie ist hier der Stand? Wie beurteilen Sie das?

Asiem El Diafraoui: Es gibt einen nationalen Präventionsplan. Der wurde aber kaum umgesetzt und listet vor allem Probleme auf: Die Schulen und die Lehrer sind überfordert, genauso wie Gefängnispsychologen.

Der Präventionsplan sieht unter anderem vor, die Zivilgesellschaft einzubinden. Jedoch kann man hier Deutschland und Frankreich nicht vergleichen, denn die französische Zivilgesellschaft ist meiner Meinung nach in diesem Bereich noch sehr schwach. Das liegt zum Teil auch daran, dass es eben in Frankreich einen starken Zentralstaat gibt, auf den die Menschen zu sehr gesetzt haben.

Gibt es denn konkrete, praktische Präventionsprojekte? Gibt es überhaupt Akteure, die sich mit Prävention im weitesten Sinne befassen?

Asiem El Diafraoui: Es entstehen immer mehr Präventionsprojekte. So werden in Gefängnissen verstärkt sogenannte Binome eingesetzt, das sind Tandem-Teams aus Sozialarbeitern und Psychologen, die selbst Ansätze der Deradikalisierung entwickeln und ausprobieren sollen. Oder es gibt eine Weiterbildung für Betreuer gefährdeter Häftlinge über dschihadistische Propaganda. Es wird also experimentiert, es gibt aber noch keine klare Linie.

In Bordeaux gibt es Ansätze der Kooperation zwischen muslimischen Vereinen, Psychologen und Sozialarbeitern, die gemeinsam Konzepte erarbeiten. Aber das steckt noch in den Kinderschuhen.

Das heißt, es gibt Ansätze von Netzwerken mit verschiedenen Akteuren?

Asiem El Diafraoui: Es gibt Ansätze von Netzwerkarbeit, ja, allerdings ebenfalls noch sehr rudimentär. Es gibt auch einzelne Akteure, die bei europäischen Netzwerken wie RAN partizipieren. Problematisch ist hier allerdings die ökonomische Seite, da es lange an Transparenz in diesem Bereich mangelte. Der Markt wurde lange Zeit von nur einer Deradikalisierungsakteurin dominiert, die einige staatliche Gelder erhalten hat. Doch die Arbeit wurde nicht evaluiert, die Ergebnisse wurden nicht überprüft. Genaue Zahlen sind nicht offengelegt.

Die Regierung machte es sich lange Zeit etwas bequem bei der Deradikalisierung von jungen Menschen.

Was meinen Sie damit?

Asiem El Diafraoui: Die Radikalisierung junger Menschen wurde lange als psychologisches Problem der Betroffenen angesehen, obwohl natürlich noch ganz andere Faktoren mitspielen. Bei dieser Sichtweise werden die sozioökonomischen Ursachen nicht betrachtet, das Gefühl der Ausgeschlossenheit ganzer Bevölkerungsteile. Auch religiöse und politische Motive wurden ausgeblendet. Wenn man davon ausgeht, dass es sich um ein individuelles psychologisches Problem handelt, wird dem Staat sehr viel Verantwortung genommen. Aber das ändert sich langsam.

Trotzdem: In Frankreich läuft viel zu viel über den Staat und die Sicherheitsdienste.

Was ist das Problem dabei, und was genau wird staatlich organisiert?

Asiem El Diafraoui: Beispielsweise wurde, ähnlich wie in Deutschland, eine Telefon-Hotline eingerichtet. Dorthin kann sich wenden, wer Fragen zur Radikalisierung hat oder eventuell radikalisierte Personen melden will. Diese Nummer stellt aber auch eine sofortige Verbindung zu Sicherheitsdiensten her. Dabei misstrauen zum Beispiel viele Bewohner der Vorstädte wie in Marseille oder Paris der Polizei.

Ein weiteres Beispiel sind Deradikalisierungsstellen oder -beauftragte, die über die Polizeipräfekturen organisiert werden. Jeder Verwaltungsbezirk hat eine Meldestelle und einen Beauftragten. Das bedeutet: Um etwas aus seinem lokalen Umfeld zu melden, wendet sich der Bürger an zentrale Stellen. Auch das läuft über polizeiliche Strukturen. Ist das eine gute Idee? Ich glaube nicht.

In deutschen Medien war zu lesen, dass in Frankreich eine Art Internierungslager zur Deradikalisierung eingerichtet werden sollen. Was hat es damit auf sich?

Asiem El Diafraoui: Ja, das soll realisiert werden. Das ist aus meiner Sicht sehr problematisch. Deradikalisierung sollte nicht kollektiv erfolgen. Wenn Deradikalisierung erfolgreich sein soll, muss man bei jedem Betroffenen individuell ansetzen. Eine Zusammenlegung in Gruppen wie in den geplanten Lagern ist kontraproduktiv. Eine einzelne Person reicht, um die anderen weiter zu radikalisieren. Das ist eigentlich aus Gefängnissen bereits bekannt.

Es sollen verschiedene Arten von Lagern entstehen. Eins sollen die Betroffenen auf freiwilliger Basis aufsuchen und eines auf Anordnung. Zwang ist nicht gut. Dort soll Uniform getragen werden und die französische Flagge soll gehisst werden.

Beeinflusst die öffentliche Debatte die Entwicklung von Deradikalisierungs- und Präventionsmaßnahmen?

Asiem El Diafraoui: Es gibt leider keine wirkliche öffentliche Debatte. Stattdessen gibt es aktuell eine beunruhigende Verschärfung der Gesetzgebung. Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo hat die New York Times zum Beispiel geschrieben: Frankreich macht dieselben Fehler wie die Bush-Regierung, es wird polarisiert.

In Fachkreisen gibt es allerdings eine Debatte zu den größeren Zusammenhängen, in der die Situation ganzheitlicher betrachtet wird. Dazu gehört auch die Diskussion über die französische Außen- und Flüchtlingspolitik. Doch ohne die Politik wird man damit nicht weit kommen.

Gerade nach den Anschlägen herrscht eher das Gefühl einer Schockstarre vor. Die Regierung steht unter enormem Druck. Ich sehe zu wenig kreative Ideen. Wie gesagt, Frankreich hat keine so aktive Zivilgesellschaft wie Deutschland. Und der zentralisierte Staatsapparat sendet vor allem das Signal: "Wir machen Sicherheit". Hier gibt es Parallelen zu Deutschland: Die Bürger verlangen nach Sicherheit.

Eigentlich müssten Themen auf die Agenda gebracht werden wie: Wie ist die Situation in französischen Vorstädten? Brauchen wir Reformen? Was bringt eigentlich die laizistische Natur des französischen Staates mit sich? Und was ist der Platz des Islam darin? Auch solch brisante Themen müssten ganz offen diskutiert werden. Dazu zählt auch das französische Engagement in Syrien. Dort werden Stellungen von DAESH bombardiert, aber gegen das Assad-Regime hat die Regierung nichts unternommen.

Wie reagieren die Medien in der aktuellen Situation?

Asiem El Diafraoui: Mittlerweile zeigen französische Medien keine Bilder von Terroristen mehr, auch auf Anraten von Fachleuten. Das gilt auch für die privaten Nachrichtensender. Es werden jetzt auch keine Klarnamen der Täter mehr genannt. Der Hintergrund ist, dass keine Vorbilder geschaffen werden sollen. In den Medien heißt es nun: Wir zeigen keine Hochglanzbilder von pathologischen Terroristen, die sich das IS-Label anheften und dadurch berühmt werden wollen. Also: Hier bewegt sich etwas, aber insgesamt ist es extrem langwierig.

Wie ist ihre Prognose zur weiteren Entwicklung in Frankreich?

Asiem El Diafraoui: Es passiert etwas, allerdings zu zögerlich und zu langsam. Es werden zum Beispiel Stellen geschaffen, sowohl in der Praxis als auch in der Forschung.

Das Positive ist, dass Frankreich so hochqualifizierte Akademiker hat, dass früher oder später mit mehr Bewegung zu rechnen ist. Es wächst gerade eine neue Generation von Fachleuten heran, die in diesem Bereich arbeiten werden.

Und es gibt in Frankreich ein besonderes Verhältnis zur arabischen Welt, es gibt wesentlich mehr arabische Muttersprachler. Die bringen auch die entsprechenden Kenntnisse der sozialen, kulturellen und religiösen Hintergründe mit. Wenn hier wie angekündigt eine kompetente Förderung stattfindet, ist auch mit entsprechenden Resultaten zu rechnen.

Das Gespräch führte Sebastian Kauer.

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Asiem El Diafraoui ist ein ägyptisch-deutscher Politologe, Volkswirt, Dokumentarfilm- und Buchautor.