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Infodienst Radikalisierungsprävention: Warum ist es sinnvoll, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in die Ausstiegsarbeit einzubeziehen? Welche Fähigkeiten und Kenntnisse haben sie, die für diesen Kontext wichtig sind?
Heiner Vogel: Sicherheitsbehörden und Fachkräfte in der Präventionsarbeit haben in den letzten Jahren beobachtet, dass der Anteil von radikalisierten Personen mit psychischen Problemen zugenommen hat. Über die Gründe lässt sich derzeit nur spekulieren. Vielleicht wurden psychologische Aspekte in den letzten zehn Jahren auch zu wenig berücksichtigt. Es mangelte zudem aufgrund des schweren Zugangs zur Zielgruppe auch an empirischen Studien zu dieser Problematik. Mittlerweile wissen wir, dass psychische Probleme oder Störungen bei Menschen in der islamistischen Szene durchaus vorkommen können.
Dazu zählen beispielsweise temporäre oder chronische Depressionen und erlittene Traumata in der Kindheit oder in Kriegsgebieten. Auch Formen der Schizophrenie sowie Persönlichkeitsstörungen wurden immer wieder bei Klientinnen und Klienten diagnostiziert. Das Problem ist, dass psychische Probleme in der islamistischen Szene – ähnlich wie in der Gesamtgesellschaft – tabuisiert werden und stattdessen mit einer spirituellen Schwäche oder mit "Verzauberung" in Verbindung gebracht werden.
Um solche Problemlagen zu erkennen, zu diagnostizieren und gegebenenfalls auch adäquat zu behandeln, bedarf es entsprechender Expertise. Diese bringen meistens nur psychotherapeutisch ausgebildete Psychologen und Psychologinnen sowie Ärzte und Ärztinnen durch ihre jahrelange Ausbildung mit.
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können darüber hinaus die Fachkräfte in der Ausstiegsarbeit über Super- und Intervisionen oder Beratung unterstützen, um Überlastung oder Überforderung vorzubeugen. Die Arbeit mit verhaltensauffälligen oder erkennbar vorbelasteten Menschen kann die Fachkräfte der Ausstiegsarbeit emotional und auch zeitlich erheblich fordern. Insofern tragen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten durch die Beratungsangebote für diese Fachkräfte zur Stärkung ihrer Psychohygiene und Resilienz bei.
Welche Schwierigkeiten können bei der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften aus der "klassischen" Ausstiegsarbeit – beispielsweise durch Fachkräfte aus Sozialpädagogik oder Islamwissenschaften – und der Psychotherapie entstehen?
Die Zusammenarbeit kann durch unterschiedliche Faktoren beeinträchtigt werden. Dazu gehört, dass Fachkräfte in der Ausstiegsarbeit manchmal psychotherapeutisch relevante Problemlagen nicht sofort erkennen und fachgerechte Behandlungsschritte dadurch ausbleiben können.
Daneben können Probleme beim Finden geeigneter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auftreten. Zum einen stehen sie regional in unterschiedlicher Zahl zur Verfügung. In den Städten ist die Auswahl von psychotherapeutischen Praxen und Kliniken natürlich größer als auf dem Land. Auch die Wartezeiten, um einen Therapieplatz zu bekommen, sind auf dem Land entsprechend länger, als sie ohnehin allgemein sind. Zum anderen haben Klientinnen und Klienten häufig selbst Vorbehalte gegenüber nichtmuslimischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Die Fachkräfte in der Ausstiegsarbeit müssen daher einen größeren Aufwand bei der Suche nach geeigneten Stellen in Kauf nehmen.
Und auch wenn psychotherapeutische Ansprechpersonen regional vorhanden sind, ist das noch keine Garantie dafür, dass eine Behandlung stattfinden kann. Es kommt immer wieder vor, dass radikalisierte Menschen bei Fachkräften der Gesundheits- und Heilberufe entsprechende Assoziationen und Ängste wecken. Auch zu Distanzlosigkeit in Form von unangebrachten religiösen Diskussionen und Ressentiments seitens unerfahrener oder voreingenommener Therapeutinnen und Therapeuten kann es kommen.
Und schließlich ist auch die Schweigepflicht ein Aspekt, der bei der Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Professionen Probleme bereiten kann. Es kann aufgrund von Sprachbarrieren oder fehlenden religiösen Kenntnissen zu Missverständnissen oder falschen Schlussfolgerungen in Bezug auf das Verhalten von Klientinnen und Klienten kommen. Dadurch können Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in ein Dilemma geraten, bei dem sie zwischen der Aufhebung ihrer Schweigepflicht und der Geheimhaltung von Gesprächsinhalten entscheiden müssen. Ihnen fehlen in solchen Fällen manchmal geeignete Ansprechpersonen aus der Ausstiegsarbeit, die bei der Einordnung und Bewertung von Aussagen von Klientinnen und Klienten helfen könnten – ohne dass die Therapeutinnen und Therapeuten eine Verletzung ihrer Schweigepflicht riskieren müssen.
Können Sie anhand konkreter Beispiele schildern, wie das für TRIAS Berlin tätige Team aus Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Fälle der Beratungsstelle Berlin involviert wird?
TRIAS Berlin war seit 2020 in etwa ein Dutzend Fälle involviert, die meisten davon in Kooperation mit der Beratungsstelle Berlin von Violence Prevention Network. Im Zentrum stand hier zunächst die kollegiale Beratung mit den Fachkräften der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung. TRIAS Berlin hat seine Erfahrungen und sein Wissen den Fachkräften zur Verfügung gestellt, ohne dass es in jedem Fall zu einem direkten Klient:innen-Kontakt kommen musste. Das psychotherapeutische Team hat die Fachkräfte der Ausstiegsarbeit dazu beraten, welche Auswirkungen psychische Belastungen auf die Interaktionen mit Klientinnen und Klienten haben. So wurden die Fachkräfte dabei unterstützt, die Verhaltensweisen der Klientinnen und Klienten zu interpretieren und Handlungsstrategien zum Vertrauens- und Beziehungsaufbau zu entwickeln.
Darüber hinaus arbeiten die Kolleg:innen von TRIAS Berlin auch direkt mit Klientinnen und Klienten, die von der Beratungsstelle Berlin an das psychotherapeutische Team weitervermittelt werden. Das können beispielsweise junge Menschen sein, die in radikal-salafistischen Gruppen involviert sind und gefährdet sind, Straftaten zu begehen. Oder es können Personen sein, die sich zwar bereits deutlich von extremistischen Gruppen gelöst haben, aber aus psychischen Gründen Schwierigkeiten haben, in ihrem Leben einen Neuanfang zu finden.
Mit diesen Personen arbeiten die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten an den jeweils zentralen Themen und unterstützen die für eine Veränderung notwendigen Ressourcen. Die konkrete psychotherapeutische Arbeit ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Gerade bei jungen Menschen geht es oft um Adoleszenzkrisen, in denen es auch zu Inszenierungen oder einem "Liebäugeln" mit salafistischen Angeboten kommt. Hier kann deutlich werden, wie schwer es ist, mit den Spannungen und Konflikten in der männlichen oder weiblichen Entwicklung umzugehen.
In anderen Fällen kann es sein, dass Personen traumatisch so belastet sind, dass ein Neubeginn abseits von Hass und paranoider Angst schwerfällt. Zum Beispiel, weil ein Mensch durch das Sympathisieren mit und das Unterstützen von der salafistischen Szene zu einem Mittäter oder einer Mittäterin geworden. Oder etwa, weil er oder sie selbst Gewalt erlebt hat (etwa in Gruppenkonflikten). In anderen Fällen hat sich ein junger Mensch vielleicht schon länger von der Sogwirkung salafistischer Gruppen abgewandt, aber die Depression, die mit der Mitgliedschaft in der Gruppe gelindert werden sollte, taucht nun wieder auf und verursacht einen Leidensdruck.
Und schließlich beraten die Mitarbeitenden von TRIAS Berlin Hilfsnetzwerke, in denen beispielsweise Jugendämter, Familienhilfen und Fachkräfte der Tertiärprävention zusammenarbeiten. Wir kooperieren hierbei auch mit der Berliner Rückkehrkoordination, wenn Frauen mit Kindern aus den ehemaligen sogenannten "IS"-Gebieten zurückkehren, um eine Brücke ins Gesundheitssystem herzustellen. Das kann eine Vermittlung der Rückkehrenden in psychotherapeutische Behandlung beinhalten, wenn diese einen entsprechenden Bedarf bei sich wahrnehmen. Es kann aber auch darum gehen, für Kinder und Jugendliche geeignete therapeutische Angebote ausfindig zu machen.
Welche Gesundheits- und Heilberufe können in der Fall- und Ausstiegsarbeit eine Rolle spielen?
Im Rahmen des Teilprojekts TRIAS Community haben wir Anfang 2021 in einer Untersuchung ermittelt, welche Gesundheits- und Heilberufe in der Fall- und Ausstiegsarbeit relevant sind. Dafür haben wir Gespräche mit bundesweit tätigen Fachkräften in der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Ausstiegsarbeit geführt. Das Ergebnis war, dass vor allem psychologisch beziehungsweise psychiatrisch tätigen Berufsgruppen eine große Bedeutung beigemessen wird.
Nur in Einzelfällen – zum Beispiel bei Rückkehrerinnen und Rückkehrern oder auch bei Geflüchteten – spielen auch andere Gesundheitsberufe wie Fachärztinnen und Fachärzte eine Rolle. Gründe dafür sind beispielsweise Verwundungen oder Mangelerkrankungen, die sich die Klientinnen und Klienten in Kriegsgebieten oder auf der Flucht zugezogen haben.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Fachkräfte dieser Gesundheits- und Heilberufe, wenn sie bei ihren Klientinnen und Klienten mit dem Thema Radikalisierung konfrontiert werden? Von welchen Schwierigkeiten berichten sie Ihnen?
Die meisten Fachkräfte aus diesen Berufsgruppen sind darauf nicht ideal vorbereitet. Gegebenenfalls werden sie über Fallkonferenzen durch Ermittlungsbehörden oder zivilgesellschaftliche Träger zum Verhalten ihrer Klientinnen und Klienten sowie zu deren biografischen Hintergründen informiert.
Fachkräfte aus Gesundheits- und Heilberufen stehen bei der Begegnung mit radikalisierten Menschen vor einigen Herausforderungen. Häufig ist eine Verständigung schwierig, weil die Fachkräfte und die Klientinnen und Klienten nicht die gleiche Sprache sprechen. Die Fachkräfte müssen sich außerdem auf andere Kultur- und Sozialisationskontexte einlassen. Dazu gehören auch religiöse und spirituelle Deutungsmuster, die sie vielleicht nicht verstehen oder falsch einordnen. Zugleich müssen sie sich mit eigenen Meinungen und Weltanschauungen zurückhalten, um Konflikte mit den Klientinnen und Klienten zu vermeiden. Und auch eigene Ängste, beispielsweise aufgrund der medialen Berichterstattung über Terroranschläge und islamistische Gruppen, spielen immer wieder eine Rolle.
Welches Wissen und welche Kompetenzen brauchen die Fachkräfte der Gesundheits- und Heilberufe, um mit Radikalisierung umgehen zu können und ihre Klientinnen und Klienten bei der Distanzierung zu unterstützen?
Prinzipiell kann es nicht schaden, wenn sich Fachkräfte der Gesundheits- und Heilberufe mit islamistischer Radikalisierung auseinandersetzen und hierzu auch Informationsveranstaltungen und Austauschformate der Tertiärprävention/Ausstiegsarbeit besuchen. Allerdings ist dies keine zwingende Voraussetzung, um radikalisierte Klientinnen und Klienten adäquat behandeln zu können. Die Psychotherapie orientiert sich beispielsweise an den durch die Fachgesellschaften herausgegebenen Leitlinien zu Gesprächs-, Diagnostik- und Therapieverfahren, die prinzipiell auch zur Behandlung von Klientinnen und Klienten der Ausstiegsarbeit geeignet sind.
Oftmals mangelt es aber auch an der Zeit und den Kapazitäten von Fachkräften in den Gesundheits- und Heilberufen, sich neben der eigenen anspruchsvollen Arbeit auch mit Aspekten von Radikalisierung intensiv beschäftigen zu können. Es kann daher sinnvoll sein, dass Fachkräfte der Ausstiegsarbeit ihre Ansprechpersonen aus den Gesundheits- und Heilberufen im Bedarfsfall mit ihrem Fachwissen unterstützen, beispielsweise zu religiösen Deutungsmustern.
Mit welchen Maßnahmen vermitteln Sie den Fachkräften dieses Wissen?
Mit unserem Teilprojekt TRIAS Community haben wir uns die Vernetzung mit Gesundheits- und Heilberufen und den damit verbundenen Wissenstransfer zum Ziel gemacht.
In diesem Jahr bieten wir eine Reihe von Veranstaltungen speziell für psychotherapeutisch tätige Fachkräfte an, bei denen wir unterschiedliche Aspekte zu islamistischen Radikalisierungsprozessen, Sozialisationsmechanismen und Religiosität aufgreifen und diskutieren möchten. Dies geschieht in Workshops und Austauschformaten; auch unter Mitwirkung staatlicher Akteurinnen und Akteure.
Auch mit Publikationen wie Themenpapieren wollen wir den Wissenstransfer in diese Berufsgruppen sicherstellen. TRIAS Community setzt dabei im Besonderen einen kommunalen Schwerpunkt in Berlin, um das psychotherapeutische Team dort als möglichen Ansprechpartner für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sichtbarer zu machen. Die große Nachfrage zu unseren Veranstaltungen zeigt, dass der fachliche Austausch weiter ausgebaut werden sollte.
Über TRIAS Berlin
TRIAS Berlin schlägt die Brücke zwischen der Extremismusprävention und dem Gesundheitswesen und erschließt neue Wege der Zusammenarbeit. Das Projekt besteht aus den zwei Säulen TRIAS Psychotherapeutische Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung und TRIAS Community. TRIAS Berlin wird gefördert durch die Landeskommission Berlin gegen Gewalt im Rahmen des Berliner Landesprogramms Radikalisierungsprävention. Das Teilprojekt TRIAS Community wird gefördert durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.
TRIAS Psychotherapeutische Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung: Die Unterstützung bei Fragen psychischer Gesundheit ist in der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung ein wichtiges Element. Das Team hat ein Modell entwickelt, wie psychologische Psychotherapeut:innen in die Arbeit mit Klient:innen und ihren Familien einbezogen werden können. Die Orientierung dafür bietet eine Konsiliar- und Liaisontätigkeit, wie sie auch in anderen psychosozialen Bereichen etabliert ist.
TRIAS Community: Seit 2021 wird TRIAS Berlin um das eigenständige Teilprojekt TRIAS Community erweitert, das sich auf den kommunalen Kapazitätsaufbau und die Vernetzung zwischen der Tertiärprävention und Medizin- und Heilberufen in Berlin konzentriert.
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