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Globale Konflikte im Klassenzimmer Global denken, vor Ort lernen

Götz Nordbruch

/ 13 Minuten zu lesen

Jugendliche in Deutschland bringen eine Vielfalt von biografischen, sozialen, kulturellen und religiösen Erfahrungen mit in die Schulen. Internationale Konflikte wie in Syrien, der Türkei oder Israel und Palästina spielen für viele eine wichtige Rolle – nicht nur, aber auch aufgrund familiärer Migrationsgeschichten. Die Lehrinhalte und Methoden müssen dies berücksichtigen und es muss Raum zur Aussprache geben. Am Ende des Beitrags finden Sie Materialien für das Aufgreifen globaler Konflikte in Unterricht und Jugendarbeit.

Globale Themen spielen für Jugendliche eine wichtige Rolle. (© picture-alliance, fStop | Antenna)

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"Oh Ostturkestan, die blutende Wunde der Umma" – im Dezember 2019 wandte sich der ehemalige deutsche Fußballnationalspieler Mesut Özil mit diesen Worten an seine Fans. In einem Instagram-Post machte er auf die Gewalt gegen die muslimische Minderheit der Uiguren in China aufmerksam und beklagte, die Verfolgungen würden unter Musliminnen und Muslimen in anderen Ländern kaum auf Empörung stoßen: "Aber Muslime schweigen, sie reden nicht darüber, sie haben sie im Stich gelassen."

Özils Post fand auch in Deutschland weite Beachtung. Der darin geäußerte Vorwurf des Schweigens mag für viele muslimische Staats- und Regierungschefs stimmen – für "die" Musliminnen und Muslime ist er sicherlich unzutreffend. Tatsächlich fanden sich seit Monaten zahlreiche Berichte über die Verfolgungen der Uiguren in deutschsprachigen Sozialen Medien, lange bevor diese auch in größeren Medien thematisiert wurden. Gerade junge Menschen mit Migrationsbiografien verfolgen die Krisen und Konflikte in anderen Teilen der Welt mit großer Aufmerksamkeit. In Sozialen Medien werden Fotos und Videos, in denen beispielsweise die zunehmende Gewalt gegen Musliminnen und Muslime in Indien dokumentiert wird, vielfach kommentiert und geteilt. Die Gewaltdarstellungen sind oft explizit, in der Regel fehlen Hintergrundinformationen und Erklärungen zum Kontext der Konflikte.

Die durch solche Darstellungen ausgelösten Gefühle von Empörung, Wut und Ohnmacht spielen auch in islamistischen Angeboten eine wichtige Rolle. Die Darstellungen von Gewalt gegen Musliminnen und Muslime dienen als Bestätigung von Opfernarrativen, in denen eine existentielle Bedrohung des Islams und der Musliminnen und Muslime behauptet wird. So wurde der Post von Özil auch von der islamistischen Initiative Generation Islam aufgegriffen und als Beleg für die eigene Weltsicht verbreitet.

Globalisierte Lebenswelten – globalisiertes Klassenzimmer

In der Migrationsgesellschaft beschränken sich globale Krisen und Konflikte nicht mehr auf die Felder der "auswärtigen" oder "internationalen" Politik. Sie stehen häufig in einem direkten Zusammenhang mit Entwicklungen und Debatten in Deutschland selbst. Aktuelle Forschungen betonen die Bedeutung von "grenzüberschreitenden politischen Orientierungen" unter Menschen mit Migrationsbiografien, die sowohl von Ereignissen in den familiären Herkunftsländern als auch von den Entwicklungen in Deutschland beeinflusst werden. Sie stehen keineswegs für eine mangelhafte Integration oder für Zugehörigkeitskonflikte, sondern für eine zunehmende Pluralisierung von persönlichen und familiären Erfahrungen, die über den nationalen Kontext hinausreichen.

Yvonne Albrecht spricht in diesem Zusammenhang von einer "emotionalen Transnationalität", die das Denken in räumlichen "Container-Nationalstaaten", in die sich Menschen mit Migrationsbiografien einfügen (müssten), in Frage stellt. Emotionale Bindungen und Zugehörigkeiten sind immer weniger an nationale Grenzen gebunden, sondern von Gleichzeitigkeiten und Verflechtungen unterschiedlicher Orte und gesellschaftlicher Räume gekennzeichnet.

Exemplarisch zeigt sich das an der Bedeutung des Bosnienkrieges und insbesondere des Massakers von Srebrenica, bei dem im Juli 1995 mehr als 8.000 muslimische Bosniaken getötet wurden. In der deutschen Geschichts- und Erinnerungskultur kommt das Massaker kaum vor; für viele Musliminnen und Muslime in Deutschland mit familiären Bezügen zu den Ländern des ehemaligen Jugoslawien ist die Erinnerung an das größte Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen auch heute noch sehr gegenwärtig.

In postkolonialen Debatten wird hervorgehoben, dass auch die Erfahrungen und Einstellungen von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft zwangsläufig von globalen Kontexten geprägt werden. So lassen sich die Nachwirkungen des Kolonialismus auch heute noch in öffentlichen Diskursen und in politischen Strukturen der ehemaligen Kolonalmächte ausmachen (z. B. in rassistischen Darstellungen in Literatur oder in der politischen Legitimation von "humanitären Interventionen" in Konfliktregionen). Das Ausblenden von globalen Zusammenhängen der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland wird weder der historischen noch der aktuellen Realität gerecht.

Bei der Betroffenheit von Menschen mit Migrationsbiografien von internationalen Krisen und Kriegen handelt es sich insofern nur bedingt um "Konfliktimporte", die von außen in eine ursprünglich nicht von den Konflikten betroffene Gesellschaft getragen werden. So zeigt eine Studie von Tim Röing über türkische Migrantinnen und Migranten, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflohen sind, wie sehr deren Wahrnehmungen der Konflikte in der Türkei von den Bedingungen in Deutschland bestimmt sind. Dabei handele es sich keineswegs "um eine bloße Fortsetzung von Konflikten aus dem Herkunftskontext. Stattdessen artikulieren sich in ihnen auch Konflikterfahrungen in der Niederlassungsgesellschaft, wie etwa fehlende Teilhabe, Diskriminierung oder ethnische Segregation", die aber in den "Kategorien und der Sprache des Kernkonfliktes" geäußert würden.

Der Begriff des "globalisierten Klassenzimmers" bezeichnet diese Pluralität der biografischen, sozialen, kulturellen und religiösen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler, die auch – aber nicht nur – durch Migrationsgeschichten befördert wird. In der Bildungsforschung verbindet sich damit die Forderung, sowohl die Inhalte als auch die Methoden des Unterrichts an die Lerngruppen der Migrationsgesellschaft anzupassen und dabei auch Erfahrungen und Perspektiven zu berücksichtigen, die in der Mehrheitsgesellschaft gar nicht oder nur sporadisch repräsentiert werden: "Unterricht kann grundsätzlich nicht gegen die Schüler durchgeführt werden. (...) Da die spezifischen Erfahrungen in der sozialen und politischen Realität der Schüler ihre Urteile und Einstellungen prägen, ist es von großer Bedeutung, dass sich die Lehrenden möglichst intensiv mit den Erfahrungsräumen der Schüler auseinandersetzen. Nur so ist es möglich, die Schüler da abzuholen, wo sie sind – in ihrer Lebenswelt."

Mit dem Prinzip einer solchen Lebensweltorientierung geht in pluralistischen Gesellschaften die Aufgabe einher, Multiperspektivität auf gesellschaftliche Entwicklungen und Kontroversität der Deutungen zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit globaler Politik und Krisen und Konflikten in anderen Teilen der Welt bedeutet dies auch, die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen der Konfliktbeteiligten wahrzunehmen und im Unterricht zu vermitteln. Dabei ist es selbstverständlich nicht möglich, alle individuellen Lebenswelten abzubilden oder sämtliche biografischen Bezüge der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Vielmehr geht es um eine exemplarische Behandlung von einzelnen Konflikten, die sich aufgrund ihrer Aktualität und ihrer lebensweltlich-biografischen Relevanz für die Lerngruppe anbieten und zugleich die Auseinandersetzung mit widerstreitenden Wahrnehmungen unter den Schülerinnen und Schülern ermöglichen.

Beispiel Syrien: Emotionalisierung und Ohnmacht

In der medialen und politischen Öffentlichkeit nahm der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien in den vergangenen Jahren großen Raum ein. Neben der hohen Zahl der zivilen Opfer und der Flucht von fast 800.000 Syrerinnen und Syrern nach Deutschland und Europa spielten dabei auch die Terroranschläge, die von dschihadistischen Attentätern in Europa verübt wurden, eine wichtige Rolle.

Die besondere Bedeutung des Krieges für Jugendliche in Deutschland gründet allerdings nicht nur in den dramatischen Ereignissen selbst, sondern auch in der großen Sichtbarkeit des Krieges in Sozialen Medien. So gehörte der Krieg in Syrien zu den ersten internationalen Konflikten, die über "neue" Soziale Medien wie Facebook, Twitter oder YouTube ungefiltert und in Echtzeit auch im Alltag von Jugendlichen präsent waren. Zuletzt waren es vor allem Bilder und Berichte über die Belagerung von Aleppo im Sommer 2016 oder die fortwährenden Kämpfe um Idlib, die auch bei Jugendlichen Gefühle der Wut und Ohnmacht auslösten.

Die zivilen Opfer des Krieges und der Repressionen des syrischen Regimes spielen auch in dschihadistischen Medien aus dem Umfeld von al-Qaida und des sogenannten Islamischen Staates eine wesentliche Rolle. In Bildern und Videos dienen sie der emotionalen Ansprache und der Mobilisierung, ohne dass die Produzentinnen und Produzenten der Beiträge dabei auf Manipulationen und die Verbreitung von Fake News angewiesen sind: Die dargestellten Gräuel und das Leid der Zivilbevölkerung sind in vielen Fällen real, auch wenn sie für dschihadistische Argumentationen im Sinne eines existentiellen globalen Kampfes zwischen Musliminnen und Muslimen und Nicht-Musliminnen und Nicht-Muslimen instrumentalisiert werden. Dabei spielen auch hier historische Argumente eine wichtige Rolle. So begründete der "Islamische Staat" seinen Kampf gegen die nationalen Regierungen in Syrien und im Irak auch mit dem Erbe der europäischen Kolonialmächte, die die Nationalstaaten in der Region nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Osmanischen Reiches erst geschaffen hätten, um damit den Islam und die Musliminnen und Muslime zu schwächen.

Beispiel Israel-Palästina: Fortwirken der Geschichte

Die europäische Geschichte prägt auch die Wahrnehmungen des Israel-Palästina-Konfliktes – und macht den Konflikt zu einem Thema, das auch unter Jugendlichen, unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit, für kontroverse Diskussionen sorgt. Auch hier geht es oft nicht so sehr um die Ereignisse zwischen Gaza und Jerusalem, sondern um Fragen, die sich in Deutschland selbst stellen: Welche Bedeutung hat die Geschichte des Nationalsozialismus in der deutschen Politik? Wie verändert sich die Gesellschaft durch Migration? Was ist heute "deutsch" – und welche Rolle spielt dabei der Holocaust?

Der Israel-Palästina-Konflikt dient vielfach als Projektionsfläche und wird "zum Austragungsort von konflikthaften politischen Selbstverständnissen und sozialen Erfahrungen, von Erinnerungspolitik und Vergangenheitsbewältigung, von Anerkennungs- und Gerechtigkeitserfahrungen." Dies äußert sich beispielsweise in mehr oder weniger expliziten Vergleichen der Politik Israels mit dem Nationalsozialismus ("Die Israelis sind die neuen Nazis!"), die auf eine Relativierung des Nationalsozialismus und des Holocaust hinauslaufen. Die Dämonisierung Israels geht hier einher mit der Abwehr von eigener Verantwortung und Schuld.

Auch die Wahrnehmungen des Konfliktes durch Jugendliche, die durch familiäre oder religiöse Bindungen besonders von dem Konflikt betroffen sind, werden von Ereignissen und Erfahrungen in Deutschland geprägt: So steht die fortwährende Besatzung großer Teile der palästinensischen Gebiete und die damit verbundene Gewalt vielfach symbolisch für historische und aktuelle Ungerechtigkeiten, die "der Westen" an muslimischen und arabischen Menschen zu verantworten habe. "Palästina" erscheint den Jugendlichen dabei als Metapher für Unrecht und Unterdrückung auch in anderen Teilen der Welt.

Die besonders polarisierte Wahrnehmung des Israel-Palästina-Konfliktes zeigt sich in der Verbreitung von antisemitischen und rassistischen Argumenten. So finden sich neben Relativierungen des Holocausts und antisemitischen Verschwörungstheorien ("Die Zionisten kontrollieren die Medien!") mitunter auch Darstellungen, in denen Israel als Bollwerk gegen eine vermeintliche Gefahr durch "den Islam" für das "christliche Abendland" präsentiert wird. Auch die Kontakte von einzelnen Vertretern der palästinensischen Nationalbewegung in den 1930er- und 1940er-Jahren zum nationalsozialistischen Deutschland werden immer wieder angeführt, um palästinensische Forderungen bis heute als im Kern antisemitisch motiviert zu diskreditieren.

Beispiel Türkei: Nationalismus und westliche Doppelstandards

In den vergangenen Jahren sorgten die Konflikte in der Türkei auch in vielen Klassenzimmern für Spannungen unter türkei- und kurdischstämmigen Schülerinnen und Schülern. Stärker als in anderen Konflikten machen sich dabei auch direkte Einflussnahmen seitens der türkischen Regierung bemerkbar, die über türkischsprachige Medien und türkisch geprägte Organisationen und Moscheegemeinden nationalistische Orientierungen befördert. Hinzu kommt der Einfluss von rechtsextremen türkisch-nationalistischen Vereinen aus dem Umfeld der "Grauen Wölfe", die ausdrücklich für antikurdische Positionen stehen.

Zuletzt waren es vor allem kriegsverherrlichende Predigten und militaristische Feierlichkeiten im Zusammenhang mit der türkischen Offensive in kurdisch kontrollierten Gebieten in Nordsyrien, die für Spannungen unter türkei- und kurdischstämmigen Jugendlichen sorgten. Dabei wurden auch Einrichtungen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) zum Ziel von Sachbeschädigungen, hinter denen kurdischstämmige Täterinnen und Täter vermutet wurden. In ähnlicher Weise wirken sich die Repressionen gegen Anhängerinnen und Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei aus, die von der türkischen Regierung für den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich gemacht wird. Auch hier trägt die nationalistische Rhetorik der türkischen Regierung dazu bei, entsprechende Konflikte unter Jugendlichen in Deutschland zu schüren.

Der türkisch-kurdische Konflikt ist einer der Konflikte, in denen immer wieder auch die Rolle der deutschen Politik gegenüber den Konfliktparteien zur Sprache kommt. So wird in den Äußerungen von kurdischstämmigen Jugendlichen häufig auf deutsche Waffenlieferungen an die türkische Regierung hingewiesen, die nicht nur gegen die kurdische PKK, sondern auch gegen kurdische Zivilistinnen und Zivilisten eingesetzt werden. Die deutsche Haltung gegenüber der AKP-Regierung gilt dabei als Beleg für die Doppelstandards, die von europäischen Staaten in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte angelegt würden. Deutschland ist danach keineswegs nur "neutraler Beobachter" in einem fernen Konflikt, sondern mehr oder weniger direkt am Konfliktgeschehen beteiligt.

Was tun?

Die Zahl der Krisen und Kriege ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Nicht jeder dieser Konflikte findet dabei gleiche Aufmerksamkeit. Die pädagogische Arbeit im "globalisierten Klassenzimmer" steht vor der Herausforderung, verstärkt auch auf "vergessene Konflikte" einzugehen, die es nicht in die Schlagzeilen schaffen und den meisten Lehrkräften nicht bewusst sind, die aber Jugendliche und junge Erwachsene zum Beispiel aufgrund von familiären, kulturellen oder religiösen Bezügen dennoch belasten.

Dabei geht es nicht zuletzt darum, dem Gefühl von Sprachlosigkeit und Ohnmacht entgegenzuwirken und – im Kleinen – Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Der Mangel an Räumen, in denen die Äußerung von Emotionen und der Austausch von unterschiedlichen – und gegensätzlichen – Erfahrungen und Perspektiven möglich ist, verfestigt Feindbilder und schürt Aggressionen, die sich auch in Konflikten im Klassenzimmer äußern können. Die Anerkennung der Betroffenheit beispielsweise durch die Konflikte in der Türkei und die Möglichkeit, sich zu diesen Konflikten zu positionieren, ist dabei ein Ansatz, der dem Rückzug auf nationalistische Identitätsangebote unterschiedlicher Couleur entgegenwirkt: "Ein entspannter, skandalisierungsfreier Umgang mit herkunftskulturellen Bezügen in der Schule kann zugleich auch den Boden bereiten, sich von ‚nationalen Fixierungen‘ zu lösen, indem herausgearbeitet wird, wieviel Jugendliche als Generation – unabhängig von ihrer Herkunft – gemeinsam haben, und was sie unabhängig von ihren ethnischen Selbstverortungen teilen."

Die Gewissheit, sich auch in der Schule zum Beispiel als kurdisch-, albanisch- oder türkeistämmige Jugendliche mit Stolz auf die eigene Familiengeschichte beziehen zu können, ist eine Voraussetzung, um die Bedeutung von Nationalität und Kultur zugleich zu relativieren: Wenn etwas selbstverständlich und anerkannt ist, verliert es das Exklusive und Konfliktträchtige.

Für die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt haben sich zudem biografische Ansätze bewährt, mit denen die unterschiedlichen familiären Erfahrungen von Jugendlichen mit der Konfliktgeschichte sichtbar werden. Ziel ist es nicht, in einer Art der "Opferkonkurrenz" die jeweiligen Erfahrungen gegeneinander aufzuwiegen; vielmehr geht es darum, die Gemeinsamkeiten von Flucht- und Migrationsgeschichten herauszuarbeiten. Dabei lassen sich rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsansätze verbinden, um die Wirkung von rassistischen Abwertungen und vereinfachenden Welterklärungen aufzuzeigen.

In eine ähnliche Richtung gehen Ansätze der Menschenrechtsbildung, die die Gleichwertigkeit des Menschen und die Bedeutung von individuellen Grundrechten in den Mittelpunkt stellen und damit Auseinandersetzungen mit Konflikten jenseits von ideologischen Argumentationen und nationalistischen Rechtfertigungsstrategien ermöglichen.

Voraussetzung für den Erfolg dieser Ansätze ist in jedem Fall eine pädagogische Haltung, die auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den hiesigen Hintergründen und Zusammenhängen der jeweiligen Konflikte anregt. So ließe sich als Einstieg in eine Unterrichteinheit zu globaler Politik beispielsweise ein Tweet des ehemaligen deutschen Außenministers Sigmar Gabriel anlässlich der internationalen Friedensbemühungen im libyschen Bürgerkrieg aufgreifen. Mit Bezug auf den von Deutschland organisierten Libyen-Gipfel schrieb Gabriel im Januar 2020 auf Twitter: "In der Welt harter Interessenpolitik erreichen manchmal die Interessenlosen mehr. (...) Wir waren nicht am Libyen-Krieg beteiligt u. nie Kolonialstaat." Dass Deutschland über zahlreiche Kolonien herrschte und in Libyen diverse politische und wirtschaftliche Interessen verfolgt, blendete Gabriel aus. Für den Unterricht über globale Konflikte wäre das eine Steilvorlage.

Materialien für das Aufgreifen globaler Konflikte in Unterricht und Jugendarbeit

Für Lehrkräfte ist es kaum möglich, über alle Hintergründe und aktuellen Ereignisse in den zahlreichen internationalen Konflikten informiert zu sein. Die folgenden Materialien eignen sich für die exemplarische Behandlung einzelner Konflikte:

Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus

Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.

Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite

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Was sollten Schulen machen, wenn sie mögliche Radikalisierung wahrnehmen? Wie kann man mit radikalisierten Jugendlichen sprechen? Wie können globale Konflikte im Klassenzimmer behandelt werden?

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FAQs zum Sprechen über Anschläge

Sollten Lehrkräfte unmittelbar nach einem Anschlag mit ihren Schülern darüber reden und wenn ja, wie? Welche Formen des Gedenkens kann es geben? Wie kann man mit irritierenden Reaktionen umgehen?

Dr. Götz Nordbruch ist Islam- und Sozialwissenschaftler, Mitbegründer und Co-Geschäftsführer des Vereins ufuq.de. Nordbruch war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut de Recherches et d’Etudes sur le Mondes Arabes et Musulmans (IREMAM) in Aix-en-Provence und am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut – für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig tätig. Von 2008-2011 war er Assistenzprofessor am Centre for Contemporary Middle East Studies der Süddänischen Universität Odense.