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Wie "ZiVI-Extremismus" Beratungsstellen für Deradikalisierung unterstützen kann | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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Wie "ZiVI-Extremismus" Beratungsstellen für Deradikalisierung unterstützen kann Ein Instrument für strukturierte Beratung, Dokumentation von Fällen und Einschätzung von Gefährdungssituationen

Thea Rau Karin Eberl Lukka Kiesler Diba Hosseini Marc Allroggen Isgard Ohls

/ 20 Minuten zu lesen

Im Beitrag wird anhand eines fiktiven Fallbeispiels die Arbeit mit dem Instrument "ZiVI-Extremismus" vorgestellt. Mit diesem können der Handlungs- und Interventionsbedarf bei einer islamistisch begründeten Radikalisierung systematisch erhoben und Beratungsverläufe dokumentiert und evaluiert werden. Der Beitrag geht auch auf die Notwendigkeit einer strukturierten Beratungsarbeit mit Klientinnen und Klienten sowie auf die Dokumentation der Fallarbeit ein. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn Selbst- und Fremdgefährdungssituationen bekannt werden und nachvollziehbar sein muss, welche Schritte zur Gefahrenabwehr im Rahmen der Beratung eingeleitet wurden. Außerdem wird die Methodik der Entwicklung des Instruments vorgestellt und kritisch diskutiert.

"ZiVI-Extremismus" unterstützt Beratungsstellen für Deradikalisierung bei Beratung, Dokumentation und Einschätzung von Gefährdungssituationen (Symbolbild). (© Zoran Zeremski | Adobe Stock)

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Aufgaben und Ziele von Fachberatungsstellen für Deradikalisierung

Fachberatungsstellen für eine sogenannte "Deradikalisierung" sind bedeutsame Anlaufstellen für Personen mit extremistischer Einstellung und, häufiger noch, für Angehörige oder das soziale Umfeld – wie Lehrkräfte, Ausbilderinnen und Ausbilder, Freunde und Bekannte (Uhlmann 2017; Rau et al. 2021; Kargl 2021, S. 165). Die Beratungsstellen können sich in zivilgesellschaftlicher oder staatlicher Trägerschaft befinden und übernehmen beispielweise in sogenannten Aussteigerprojekten Aufgaben der indizierten Prävention, bei der extremistische Straftaten verhindert oder Radikalisierungsprozesse gestoppt werden sollen (Allroggen et al. 2020, S. 506).

Mit dem Begriff "Deradikalisierung" wird dabei ein Prozess beschrieben, bei dem eine Person von extremistischen Denk- und Handlungsweisen Abstand gewinnt und/oder sich von Gewaltanwendungen beziehungsweise terroristischen Aktivitäten distanziert. Liegt der Schwerpunkt darauf, Gewaltstraftaten oder Straftaten im Kontext einer Radikalisierung zu verhindern oder ist dies primäres Ziel der Intervention, wird häufig auch der Begriff der "Distanzierung" verwendet. Damit gemeint ist, dass sich Personen beispielweise von der Anwendung von Gewalt distanzieren sollen, unabhängig davon, ob sie ihre ideologischen Vorstellungen verändern und unabhängig davon, ob sie eine freiheitlich-demokratische Einstellung annehmen. Für eine differenzierte Darstellung definitorischer Ansätze wird auf die Arbeit von Sold (2020) verwiesen.

Fachkräfte von Beratungsstellen für Deradikalisierung gaben in einer Befragung an, dass es in fast allen Fällen um folgende Themenkomplexe geht:

  • Identifikation und Bewältigung krisenhafter Situationen familiärer, sozialer, schulischer/beruflicher Art,

  • religiöse und/oder ideologische Vorstellungen,

  • ein Verständnis von Demokratie sowie

  • die finanzielle Situation, Wohnsituation oder

  • psychische Belastungen (Rau et al. 2021).

Ziele der Beratung seien insbesondere:

  • die Entwicklung von Lebensperspektiven und der eigenen Identität sowie

  • die (Re-)Integration in die Gesellschaft und (Re-)Sozialisation in ein stabiles soziales Umfeld (Rau et al. 2021; Kargl 2021, S. 165).

Aus der Befragung der Fachkräfte ging hervor, dass der Fokus der Intervention bei radikalisierten Personen in den Beratungsstellen nicht immer identisch ist. So geben zwar die befragten Fachkräfte übereinstimmend als Ziel die "Deradikalisierung" von Personen mit extremistischer Einstellung an; die Ausgestaltung dieses Zieles umfasse jedoch ein breites Spektrum von Ansätzen und Schwerpunkten. Diese orientierten sich vor allem an der jeweiligen Trägerschaft der Beratungsstellen, die entweder zivilgesellschaftlich oder staatlich organisiert sind. Bei der konkreten Ausgestaltung der Beratungstätigkeit spielen jedoch auch die Aus- und Weiterbildungen der jeweiligen Fachkräfte eine Rolle.

Im Rahmen der Befragung zeigte sich, dass vor allem Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftler beziehungsweise islamische Theologinnen und Theologen, Fachkräfte der Polizei und der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in den Fachberatungsstellen tätig sind, deren beruflichen Hintergründe in die Beratungstätigkeit einfließen (Rau et al. 2021).

Das "Violence Prevention Network" (VPN) – als einer der größten Träger zivilgesellschaftlicher Fachberatungsstellen in Deutschland – setzt in der klientenzentrierten Fallarbeit im Rahmen einer Deradikalisierung zentrale Schwerpunkte, die teilweise aufeinander aufbauen:

  • Aufbau einer Arbeitsbeziehung,

  • Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung,

  • Entwicklung von Dialogfähigkeit und Toleranz,

  • Identifikation von Bedürfnissen,

  • Zukunftsplanung,

  • Integration und Aufbau von sozialen Kontakten (Mücke & Walkenhorst 2021).

Für den teilweise lang andauernden Prozess der Deradikalisierung sind Beratungsfachkräfte dabei verlässliche und authentische Ansprechpersonen – sowohl für Betroffene selbst als auch für deren soziales Umfeld (Mücke & Walkenhorst 2021).

Standardisierung und Dokumentation von Beratungsprozessen

Um die Komplexität von Beratungsfällen zu erfassen und gezielt Maßnahmen einleiten zu können, erheben die Beratungsstellen Faktoren, die im Zusammenhang mit der Entwicklung extremistischer Einstellungen stehen. In vielen Fällen werden dabei Informationen über Dritte erhoben, zum Beispiel über die Eltern, Geschwister oder das soziale Umfeld einer radikalisierten Person (Kargl 2021, S. 165). Auf diesen Informationen aufbauend werden Ziele für die Beratung identifiziert, deren methodische Umsetzung sich an den Konzepten der Beratungsstellen und an der jeweiligen Trägerschaft orientieren (Rau et al. 2021).

Sowohl staatliche als auch zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen das Ziel einer Deradikalisierung beziehungsweise Distanzierung und kooperieren miteinander. Dies setzt ein gemeinsames Zielverständnis voraus, was die Festlegung von Standards für die Beratung sowie die Entwicklung von Arbeitsbegriffen und Definitionen erforderlich macht (Kargl 2021, S. 165).

Expertinnen und Experten konstatieren, dass es in der Praxis an einer Systematisierung und an Instrumenten fehle, welche helfen, die Ausgangsbedingungen und Fortschritte von Arbeitsprozessen in der Beratung zu identifizieren (Möller et al. 2019; Allroggen et al. 2020, S. 513). Dabei mangle es vor allem an nachvollziehbaren theoretischen Überlegungen, die auf wissenschaftlich begründbaren Erkenntnissen aufbauen (Möller et al. 2019). Dies ist insbesondere deshalb kritisch, weil es in der Arbeit mit radikalisierten Personen und ihrem sozialen Umfeld auch zu Situationen der Selbst- und Fremdgefährdung kommen kann – beispielsweise, wenn sich Ratsuchende an Gewalttaten oder staatsfeindlichen Aktionen beteiligen. In solchen Fällen muss nachvollziehbar sein, welche Möglichkeiten der Gefahrenabwendung im Rahmen der Beratung erfolgt sind und welche Informationsgrundlage dem Handeln der Beratungsfachkraft zugrunde lag.

Aufzeichnungen, die eine Abwägung verschiedener Aspekte in der Fallarbeit dokumentieren, bilden nicht zuletzt auch eine Grundlage für die Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden – spätestens dann, wenn sich im Rahmen der Fallarbeit Gefährdungslagen abzeichnen und es aufgrund sicherheitsrelevanter Fragen notwendig erscheint abzuwägen, ob Informationen an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden sollten.

Instrumente für den Beratungskontext

Es gibt Instrumente, die unterschiedliche Funktionen für die Beratungsarbeit erfüllen können. Sie können etwa der Systematisierung und Standardisierung methodischer Ansätze dienen, bei der Einschätzung von Fällen und etwaiger Gefährdungen helfen oder Aussagen über Entwicklungen treffen.

Um eine Grundlage für ein gemeinsames Arbeitsverständnis in den Beratungsstellen für Deradikalisierung zu schaffen, wurden in zwei aufeinanderfolgenden Entwicklungsprojekten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sogenannte "Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen" erarbeitet (Violence Prevention Network 2020). Die daraus entstandene Handreichung enthält eine Sammlung an methodischen Ansätzen der Deradikalisierungs- und Distanzierungsarbeit von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Trägern (Kargl 2021, S. 165). Anhand von Beschreibungen, die auf einer idealtypischen Darstellung von Beratungsprozessen basieren, lassen sich die Beratungsprozesse in den Beratungsstellen im BAMF-Netzwerk besser einordnen und reflektieren.

Weitere Instrumente wie VERA/VERA-2R (Violent Extremism Risk Assessment) und RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus) beschäftigen sich speziell mit der Einschätzung von Gefährdungsrisiken und werden vor allem von Fachkräften der Sicherheitsbehörden verwendet (für eine Übersicht siehe von Berg 2019, S. 4; zum Infodienst-Beitrag "Interner Link: Risk Assessment im Phänomenbereich gewaltbereiter Extremismus"). Für die Deradikalisierungsarbeit liegen nach den Recherchen der Autorinnen und Autoren dieses Beitrags für den deutschsprachigen Raum bislang zwei veröffentlichte Instrumente vor, die ermitteln, ob die Ziele der Beratungstätigkeit im Bereich des islamistischen Extremismus auf der Ebene von Einzelpersonen oder von Gruppen erreicht wurden:

Evaluationskriterien für die Islamismusprävention (EvIs)

Das Instrument "EvIs" (Evaluationskriterien für die Islamismusprävention) entstand im Jahr 2019 im Rahmen des Projekts "Entwicklung von Evaluationskriterien in der Extremismusprävention" des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention (NZK). Es umfasst einen Katalog von 38 "Evaluationskriterien", die anhand wissenschaftlicher Literatur und Expertenmeinungen mittels qualitativer Methoden ermittelt wurden.

Die Kriterien/Indikatoren sollen dazu dienen, eine Hinwendung zum islamistischen Extremismus sowie erste Anzeichen islamistischer Radikalisierung anhand von konkreten Merkmalen zu erkennen und einzuschätzen. Die Kriterien sollen daher von einer Fachkraft auf einer fünfstufigen Skala von "nicht vorhanden" bis "sehr stark vorhanden" bewertet und mit Beispielen aus dem Erleben und Verhalten der Person versehen werden – beispielsweise die detaillierte Beschreibung einer akuten Krise oder die Dokumentation von Aussagen zur Einstellung gegenüber "Andersgläubigen". Darüber hinaus soll auf einer dreistufigen Skala von "nicht relevant" bis "hoch relevant" bewertet werden, ob eine Veränderung des jeweiligen Kriteriums zu einer positiven Entwicklung bei der bewerteten Person beziehungsweise Personengruppe im Hinblick auf den Radikalisierungsprozess beitragen kann. Beispielsweise kann eine Distanzierung vom extremistischen Milieu wesentlich dazu beitragen, dass sich eine Person deradikalisiert. In einem anderen Fall besteht kein Kontakt zu entsprechenden Gruppierungen, so dass andere Faktoren als relevant betrachtet werden müssen.

Beispiele für die Kriterien sind: mangelnde Sicherheit, schwierige soziale Verhältnisse, psychische Auffälligkeiten, religiöses Überlegenheitsgefühl, antisemitische Äußerungen sowie jugendliche Provokation durch religiöses/islamistisches Verhalten. Ziel ist, die Kriterien/Indikatoren durch entsprechende Präventionsmaßnahmen zu verändern, was das Instrument unter der Voraussetzung eines mehrmaligen Einsatzes zum Evaluationsinstrument werden lässt.

Es ist vor allem für den Einsatz im Bereich der sekundär-selektiven Präventionsarbeit oder im Bereich tertiär-indizierter Maßnahmen gedacht – also dann, wenn mit "radikalisierten" oder "radikalisierungsgefährdeten" einzelnen Personen oder Personengruppen gearbeitet werden soll, beispielweise im Rahmen von Projekten in Schulen mit ausgewählten Schülergruppen oder im Beratungskontext. Das Instrument dient dabei als Orientierung für die Zielformulierung in Präventionsprojekten und zur Evaluation. Es beinhaltet keine Gefährdungseinschätzung (Ullrich et al. 2019).

Soziale Diagnostik

Einen anderen Ansatz zur Falleinschätzung, Dokumentation und Bewertung der Deradikalisierungsarbeit verfolgt die sogenannte "Soziale Diagnostik" im Zusammenhang mit Radikalisierungsverläufen. Sie baut auf Erklärungsmodellen für eine Radikalisierung auf und berücksichtigt biografische Faktoren, Umfeldfaktoren wie die soziale Situation und Integration, individuelle Bedürfnisse sowie individuelle Risiko- und Schutzfaktoren im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung.

Im Rahmen der "Sozialen Diagnostik" soll ein umfassender und langfristig angesetzter Verstehensprozess für Bedingungsfaktoren von Radikalisierung bei den Beratungsfachkräften erfolgen. Dieser schließt nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Einfluss biografischer Erfahrungen mit ein, sondern auch das Verständnis über deren Funktion in der Bewältigung der individuellen Lebensgeschichte. Dies geschieht vor allem in Form einer vordergründigen Wahrnehmung der Perspektive von Betroffenen und durch das Verstehen ihrer sozialen Situation und sozialen Integration aus ihrer individuellen Wahrnehmung heraus.

Die "Soziale Diagnostik" umfasst eine soziale Anamnese mit einem Dokumentationsbogen zur Fallgenese, eine sogenannte "Biografiematrix (De-)Radikalisierung", ein aus der sozialpädagogischen Praxis bekanntes "Genogramm" und eine Netzwerkanalyse anhand einer sogenannten "Netzwerkkarte". Die Biografiematrix soll biografische Ereignisse in relevanten Dimensionen dokumentieren und durch eine farbliche Kennzeichnung Faktoren als "radikalisierungsförderlich" (rot) beziehungsweise als potenziell "deradikalisierend" (grün) visualisieren. Daraus können Ziele für Präventionsmaßnahmen festgelegt werden, die den Betroffenen abseits der extremistischen Szene positive Entwicklungen ermöglichen sollen.

Bei regelmäßiger Dokumentation im Rahmen der Fallbearbeitung lassen sich Veränderungen im Verhalten von Betroffenen qualitativ festhalten. Auf der Grundlage dieser Dokumentation kann die Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen reflektiert werden. Das Besondere dabei ist, dass Ratsuchende dialogisch-kooperativ in den Veränderungs- und Hilfeprozess und in die Erreichung angestrebter und vereinbarter Ziele eingebunden werden. Der Hilfeprozess wird mithilfe von Fallkonferenzen im Team angeführt und im Rahmen eines sogenannten Hilfeplans festgehalten (Möller et al. 2019; Kohler et al. 2019).

Bei der "Sozialen Diagnostik" handelt es sich um ein Vorgehen, dessen Ursprung in der Sozialen Arbeit liegt. Es ist ein für den Arbeitsbereich der Beratungsstellen modifiziertes komplexes Zielerreichungsinstrument, wie es in ähnlicher Form im Rahmen von Hilfeplanverfahren der Kinder- und Jugendhilfe bei Jugendämtern Verwendung findet.

Instrument "ZiVI-Extremismus"

Entstehungsprozess von "ZiVI-Extremismus"

Als Ergänzung zu den bestehenden Instrumenten wurde im Rahmen eines dreijährigen, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten, Kooperationsprojekts das Instrument "ZiVI-Extremismus" entwickelt. Titel des Projekts war "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungs-Instrument Extremismus". Kooperationspartner waren die Universitätskliniken Ulm und Hamburg-Eppendorf. Beteiligt waren Fachärztinnen und ein Facharzt für Erwachsenen- und Kinderpsychiatrie sowie Psychotherapie sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachrichtungen (unter anderem der Psychologie, Kriminologie, Islamwissenschaft, Religionswissenschaft, Theologie, Politikwissenschaft und Sozialen Arbeit). Ziele des Instrumentes sind es, Beratungsverläufe in Fachberatungsstellen für Deradikalisierung standardisiert zu dokumentieren und zu evaluieren sowie Ansätze für Interventionen im Bereich der indizierten Prävention und Fallbetreuung systematisch zu ermitteln.

Am Anfang des Entwicklungsprozesses zu "ZiVI-Extremismus" erfolgte eine umfangreiche Literaturrecherche zu relevanten Faktoren für die Entwicklung von extremistischen Einstellungen und von extremistischer Gewalt. Die recherchierten Faktoren wurden als Grundlage für die Entwicklung des Instrumentes verwendet. Gemäß dem Fokus des Instrumentes wurden sie weitestgehend auf den Phänomenbereich des religiös begründeten Extremismus eingegrenzt. Anschließend wurde der geplante Aufbau des Instrumentes unter anderem mit den beiden in Abschnitt 3 beschriebenen Instrumenten verglichen.

In mehreren Überarbeitungsschleifen wurde der Aufbau diskutiert mit Fachkräften aus Landeskoordinierungs- und Beratungsstellen für Deradikalisierung und so verbessert. Die Stellen befinden sich in staatlicher und zivilgesellschaftlicher Trägerschaft und stammen aus dem Beratungsnetzwerk des BAMF.

Gespräche mit Expertinnen und Experten des Bundeskriminalamts bildeten die Grundlage für die Zusammenstellung von Faktoren, die für eine Gefährdungsbeurteilung relevant erschienen, vor allem im Hinblick auf Fremdgefährdungssituationen – die sogenannte Gefährdungseinschätzungsgrundlage. Das Instrument "ZiVI-Extremismus" baut somit nicht nur auf einer wissenschaftlichen Basis auf, sondern auch auf praktischen Erfahrungen zu sicherheitsrelevanten Fragen.

Aktuell liegt eine Arbeitsversion des ausgearbeiteten Instrumentes mit der Kurzbezeichnung "ZiVI-Extremismus" vor. Es wird im ersten Halbjahr 2022 in einem Pilotversuch in ausgewählten Beratungsstellen des BAMF-Netzwerks in der Fallbetreuung im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus erprobt, bevor es nach einer finalen Überarbeitung Ende des Jahres vollständig der Beratungspraxis zur Anwendung zur Verfügung gestellt werden kann. Um das Instrument im Folgenden mit einem Blick auf die Anwendung zu beschreiben, wird zunächst ein fiktives Fallbeispiel skizziert, welches eine mögliche Ausgangslage für die Arbeit mit "ZiVI-Extremismus" in den Beratungsstellen aufzeigen soll.

Beratungsfall A. und die Anwendung von "ZiVI-Extremismus"

Der 17-jährige A., der in Deutschland als Sohn von Zugewanderten geboren wurde, äußert sich im Rahmen des Schulunterrichtes über sein Verständnis vom Islam, das die Tötung von "Ungläubigen" einschließt. Nachdem der Lehrer ihn zurechtgewiesen hat, verlässt A. uneinsichtig den Unterricht. Die Eltern werden zur Information über das Geschehen in die Schule einbestellt. Dabei stellt sich heraus, dass A. in den vergangenen Monaten häufiger mit neuen Freunden Umgang hatte, sich neuerdings auch für politische Themen interessiert und in die Koranschule geht, was die wenig religiös geprägte Familie überrascht. Auch der Umgang mit einigen jungen Männern und das Verhalten von A. zu Hause beunruhigen sie.

Den Rat der Schulleitung, sich für ein Gespräch an eine Beratungsstelle für Deradikalisierung zu wenden, nehmen sie gerne an. Zu Hause sprechen die Eltern mit ihrem ältesten Sohn, der mit A. die Beratungsstelle aufsuchen soll. Der Bruder vereinbart einen Termin, bei dem nur wenige Informationen über A., wie Alter, Wohnort, grobe Schilderung des Konflikts in der Schule, weitergegeben werden.

Herr Zinn von der Beratungsstelle begrüßt an dem Termin die beiden jungen Männer und fragt zunächst detailliert, was sie zu der Terminanfrage veranlasst habe. Während A. keinen Anlass sieht, schildert der ältere Bruder die Situation im Unterricht. Herr Zinn versucht behutsam Hintergrundinformationen von A. zur Situation zu gewinnen und fragt interessiert nach seiner Alltagsgestaltung und seinen sozialen Bezügen. Daneben fragt er Faktoren ab, die eine Relevanz für Radikalisierungsprozesse zeigen und die möglicherweise dazu geführt haben, dass A. sich entsprechend in der Schule und Familie verhalten hat. Die Inhalte des Gesprächs dokumentiert er anschließend in "ZiVI-Extremismus".

Das Instrument "ZiVI-Extremismus", das Beratungsfälle wie den Fall von A. strukturiert erfassen soll, umfasst drei Ebenen: Es ist auf einer ersten Ebene als Instrument zur gezielten Planung von Interventionen in Beratungsstellen gedacht. Auf der zweiten Ebene begleitet es bei mehrfachem Ausfüllen den Beratungsprozess im Sinne einer Evaluation. Es ermöglicht zudem auf einer dritten Ebene Beratungsfachkräften anhand konkreter Kriterien das Risiko für akute Selbst- und Fremdgefährdungssituationen einzuschätzen – unabhängig von ihrer fachlichen Ausbildung. Weiterhin ermöglicht es Fachkräften zu erkennen, wann zusätzliche fachliche Expertise hinzugezogen werden muss – beispielweise bei sicherheitsrelevanten Fragen, psychischen Auffälligkeiten oder Themen, die über den eigenen Beratungsschwerpunkt hinaus gehen, wie Hilfen zur Wohnraumsicherung oder zur finanziellen Unterstützung.

Die Anwendung des Instrumentes kann während oder nach einem Beratungsgespräch erfolgen. Es enthält Vorschläge für Fachkräfte zur Befragung von Ratsuchenden und zur Befragung von Kontaktpersonen, zum Beispiel von Angehörigen, Lehrkräften, Freundinnen und Freunden. Das Instrument umfasst einen Dokumentationsbogen, einen Fragebogen zur Bewertung von Risiko- und Schutzfaktoren, einen Bewertungsbogen für Gefährdungslagen sowie ein umfassendes Handbuch zur Anwendung des Instrumentes. Die einzelnen Bestandteile werden im Folgenden kurz vorgestellt.

Dokumentationsbogen

In einem Dokumentationsbogen werden grundlegende Informationen erfasst. Dazu gehören soziodemografische Informationen sowie weitere Informationen über die soziale Situation und die beteiligten Personen. Erfasst wird zum Beispiel, ob eine Person Mitglied einer islamistisch orientierten extremistischen Gruppierung ist oder Kontakte ins islamistische extremistische Milieu pflegt, ob sich sonstige Problemlagen zeigen, wie beispielsweise eine fehlende Tagesstruktur oder finanzielle Schwierigkeiten, und auch, ob soziale Kontakte bestehen und welcher Art diese sind, zum Beispiel über virtuelle soziale Netzwerke. Bereits im Erstgespräch sollten möglichst gezielt Inhalte erfragt werden, um die Person und ihr Umfeld besser kennen zu lernen.

Im Dokumentationsbogen werden auch grundlegende positive Aspekte einer Lebensgestaltung festgehalten. Diese können eine wichtige Ressource für die Beratung und den Zugang zu Personen bilden, wie das Fallbeispiel zeigen wird. Neben standardisierten Abfragemöglichkeiten enthält die Dokumentation auch Möglichkeiten, differenzierte Angaben frei zu ergänzen – zum Beispiel, ob nur vereinzelt Kontakt zu islamistisch radikalisierten Personen besteht oder ob sich die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung abzeichnet.

Fragebogen zur Bewertung von Risiko- und Schutzfaktoren

Weiterhin werden mit "ZiVI-Extremismus" umfangreich Risiko- und Schutzfaktoren für die Fallbetreuung im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus abgefragt. Das Instrument umfasst aktuell 45 Faktoren, die auf der Grundlage empirisch begründeter Zusammenhänge ausgearbeitet wurden. Die Faktoren können mittels einer fünfstufigen Likert-Skala von der Beratungsfachkraft bewertet werden und sollen so umfassend wie möglich die betroffene Person, ihr Verhalten und ihre (soziale) Situation beschreiben.

Von den 45 Faktoren sind 34 Risikofaktoren (zum Beispiel der Grad der Freiwilligkeit für den Zugang zur Beratung, Kontakt mit dem extremistischen Milieu, Kopplung von Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz an die extremistische Einstellung) und 11 sind Schutzfaktoren (zum Beispiel familiäre Unterstützung, schulisches/berufliches Engagement, gelungene Resozialisierung nach Haft).

Zudem gibt es die Möglichkeit anzugeben, dass keine Informationen zu bestimmten Schutz- beziehungsweise Risikofaktoren vorliegen oder erhoben werden können, was bei der Bewertung der Gesamtsituation auf der Grundlage aller gesammelten Informationen zu berücksichtigen ist.

Die Faktoren sind sechs Entwicklungsbereichen zugeordnet:

  • allgemeine Faktoren,

  • soziale Faktoren,

  • Einstellungen,

  • belastende Faktoren,

  • Delinquenz,

  • religiöse und ideologische Faktoren.

Auszug aus dem Fragebogen zur Erfassung von Risikofaktoren mit "ZiVI-Extremismus". (© Projekt "ZiVI-Extremismus")

Aufbauend auf diesen Faktoren können Schwerpunkte für die Beratung abgeleitet werden und es kann eine Interventionsplanung erfolgen. Dies geschieht zum Beispiel durch die Auswahl von zentralen Risikofaktoren, die minimiert werden sollen – beispielweise eine fehlende Perspektive für die eigene Lebensgestaltung oder fehlende Freundschaften außerhalb der extremistischen Szene.

Daneben können gezielt Maßnahmen erfolgen, die die identifizierten Schutzfaktoren stärken, wie beispielsweise ein guter Kontakt zu einzelnen Familienangehörigen. So kann die gezielte Einbindung von Eltern, Geschwistern oder von Freunden in die Beratung Beziehungen stärken und dabei helfen, konkrete Hilfen im Alltag der Betroffenen zu verankern. Einen Eindruck des Fragebogens vermittelt die folgende Abbildung (die Abbildungen sind ein Zuschnitt des Instruments für diese Arbeit und nicht deckungsgleich mit dem Layout von "ZiVI-Extremismus".).

Wiederholung der Dokumentation und Bewertung der Entwicklung

In regelmäßigen Zeitabständen lassen sich die Dokumentation und die Bewertung der Risiko- und Schutzfaktoren wiederholen. So können mögliche Einstellungs- oder Verhaltensänderungen festgehalten und der bisherige Beratungsverlauf veranschaulicht werden. Es können auch Verhaltensweisen in die Bewertung einfließen, die Dritte im Laufe des Beratungsprozesses angeben, zum Beispiel die Eltern oder Geschwister.

Beratungsfachkräfte profitieren davon, dass sie das eigene Handeln beziehungsweise den Beratungsprozess durch die mehrmalige Verwendung des Instrumentes reflektieren und die Entwicklungen verfolgen können. Bei Bedarf und im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten können auf dieser Grundlage auch Fallbesprechungen im Team der Fachberatungskräfte stattfinden, um sich beispielweise zum weiteren Vorgehen zu besprechen oder den Fall aus unterschiedlichen Perspektiven multiprofessionell zu beleuchten.

Herr Zinn von der Beratungsstelle gewinnt nach einigen weiteren Terminen mit A. dessen Vertrauen. Inzwischen sucht A. die Beratungsstelle ohne seinen Bruder auf. A. erzählt Herrn Zinn, dass er sich vor einiger Zeit einer Gruppe junger Männer angeschlossen hat. Weitere Berichte von A. lassen darauf schließen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine extremistische Gruppe aus dem islamistischen Milieu handelt. Inzwischen fühlt A. sich von der Gruppe unter Druck gesetzt, seiner Familie zu schaden, da diese zu den "Ungläubigen" zählen würde. Das schlechte Gewissen plagt ihn, denn, wenn er diesem Druck nachgeben würde, wäre vor allem seine Mutter betroffen, die er sehr liebt und die er gerne unterstützen möchte, zum Beispiel, wenn sie Sprachbarrieren im Alltag im Umgang mit Behörden erlebt.

Es zeigt sich, dass die Einstellung von A. zur Gruppe und den ideologischen Vorstellungen zwiegespalten ist. Herr Zinn erfährt zudem, dass A. sich häufiger als Ballast für die Familie sieht, die viele Probleme beim Zurechtkommen in Deutschland erlebt, und dass A. auch Suizidgedanken hat. Herr Zinn schafft es durch einfühlsame Gespräche, A. von einer vermeintlichen Problemlösung durch Selbstgefährdung abzubringen. Außerdem bittet er ihn, am nächsten Tag wieder zu kommen und nimmt auf der Grundlage von "ZiVI-Extremismus" eine Einschätzung der Gefährdungslage im Hinblick auf einen Suizid vor. Dazu berät er sich in einem Team von Beratungskräften innerhalb der Beratungsstelle anhand der durch das Instrument vorgegebenen Risikofaktoren und der sogenannten Gefährdungseinschätzungsgrundlage.

Es stellt sich heraus, dass A. zwar Gedanken an eine Selbsttötung beschäftigen, er sich davon aber glaubhaft distanzieren kann und keine konkreten Pläne zur Selbsttötung weiterverfolgen möchte. Das Team entscheidet, A. eine regelmäßige sozialpädagogische Beratung anzubieten. Mithilfe dieser Unterstützung und durch den Aufbau von Freundschaften in der Schule, gelingt A. eine Distanzierung vom extremistischen Milieu. Er entwickelt neue Lebensperspektiven und erkennt seine wichtige Rolle in der Familie als Vermittler für seine Eltern bei Sprachproblemen und dem Versuch von Integration. Dies steht seiner empfundenen "Nutzlosigkeit" für die Familie entgegen und kann ein wichtiger Schutzfaktor im Rahmen seiner weiteren Entwicklung sein.

Gefährdungseinschätzungsgrundlage: Einschätzung möglicher Selbst- und Fremdgefährdungssituationen

Zur Einschätzung möglicher Gefährdungssituationen enthält "ZiVI-Extremismus" des Weiteren empirisch ermittelte Faktoren, die mit einem erhöhten Risiko für eine akute Selbst- und/oder Fremdgefährdungssituation verbunden sind. Sie sind in der sogenannten Gefährdungseinschätzungsgrundlage (GEG) zusammengefasst. Dabei handelt es sich um grundlegende kritische Aspekte wie eine gewaltbereite und gewaltbefürwortende Einstellung, akute Belastungen (zum Beispiel familiäre, finanzielle Probleme oder der Verlust des Arbeitsplatzes), Substanzkonsum sowie Suizidalität. Daneben finden sich Aspekte, die die Fähigkeit zur Ausübung von Gewalt abbilden, wie zum Beispiel der Zugang zu Waffen und militärische Kenntnisse, sowie Aspekte zur Erfassung möglicher Auslöser für terroristische Straftaten oder konkreter Vorbereitungshandlungen auf eine Gewaltstraftat.

Die Bewertung dieser Faktoren kann dabei helfen, akute Gefährdungslagen in der Beratungspraxis abzuwenden und damit auch zur Prävention von schweren Gewaltstraftaten beitragen. Aufgrund der differenzierten Erfassung der relevanten Faktoren kann die Gefährdungseinschätzungsgrundlage auch zur Dokumentation herangezogen werden, wenn ein Bruch der Schweigepflicht von Beratungsfachkräften notwendig wird aufgrund eines sogenannten Rechtfertigenden Notstandes im Rahmen einer sogenannten Güterabwägung. Diese sollte den hohen Stellenwert von Vertrauensschutz und Schweigepflicht erkennen lassen und die Gründe für eine Anzeige bei der Polizei transparent machen.

Auszug aus dem Fragebogen zur Einschätzung von Gefährdungssituationen mit "ZiVI-Extremismus". (© Projekt "ZiVI-Extremismus")

Folge der Bewertung der Situation anhand von "ZiVI-Extremismus" kann also eine Anzeige bei den Sicherheitsbehörden sein, aber auch die Kontaktaufnahme mit anderen Stellen, zum Beispiel mit psychiatrischen Kliniken bei Hinweisen auf akute Gefährdungslagen durch psychische Erkrankungen. Bei der Einschätzung soll es sich nicht um eine Prognose (künftiger möglicher Entwicklungen) handeln, sondern um eine Beschreibung der aktuellen Situation. Die Beurteilung findet anhand standardisierter Ausprägungsgrade von "nicht vorhanden" bis "sehr stark vorhanden" statt. Es wird empfohlen, in die Bewertung ein Team multiprofessioneller Fachkräfte einzubinden beziehungsweise die Situation innerhalb einer Fallkonferenz aus verschiedenen Blickwinkeln zu diskutieren.

Einige der kritischen Aspekte der Gefährdungseinschätzungsgrundlage – die sogenannten Akut-Faktoren – erfordern bei einer hohen Ausprägung ein unmittelbares weiteres Abklären. Dazu gehören Äußerungen zu suizidalen Gedanken und/oder konkrete Hinweise auf einen Plan zur Durchführung eines Suizids, die bereits sehr konkret auf Vorbereitungshandlungen hinweisen können. In diesen Fällen ist eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit einer psychiatrischen Klinik erforderlich, unter Umständen unter Hinzuziehung der Polizei und des Rettungsdienstes, wenn die betroffene Person einer psychiatrischen Abklärung trotz akuter Selbstgefährdung nicht zustimmt. Einen Eindruck des Fragebogens vermittelt die folgende Abbildung (die Abbildungen sind ein Zuschnitt des Instruments für diese Arbeit und nicht deckungsgleich mit dem Layout von "ZiVI-Extremismus".).

In den Gesprächen mit Herrn Zinn stellt sich heraus, dass die einmalige Äußerung in der Schule zur Tötung von "Ungläubigen" von A. impulsiv in einer aufgebrachten Situation erfolgt ist und kein tiefgründiges ideologisches Fundament aufweist. Dadurch können sowohl die Schule als auch die Eltern beruhigt werden. A. entschuldigt sich zudem in der Schule für seine Äußerungen. Um A. die soziale Integration in die Gruppe der über seine Äußerungen empörten Mitschülerinnen und Mitschüler zu erleichtern, findet im Rahmen des Unterrichts nochmals ein Gespräch zu Religionen und zur Abgrenzung von extremistischen Strömungen mit allen Schülerinnen und Schülern der Klasse statt.

Da A. regelmäßig in die Beratung kommt, lassen sich seine Entwicklungen über mehrere Monate anhand von "ZiVI-Extremismus" nachvollziehen. Zunächst distanziert sich A. von menschengefährdenden Äußerungen, später verändert sich auch seine Einstellung in Hinblick auf unterschiedliche religiöse Vorstellungen und er erkennt ihre Vielfalt. Den Kontakt zu der Gruppe junger Männer aus dem extremistischen Milieu bricht er vollständig ab.

Mithilfe von Herrn Zinn gewinnt A. Selbstvertrauen, seine Zukunft positiv ausrichten zu können; Suizidgedanken treten nicht mehr auf. Für seine weiterhin, zumindest zeitweise vorhandenen, depressiven Verstimmungen, die für das Jugendalter nicht untypisch sind, vermittelt Herr Zinn nach Rücksprache mit den Eltern den Kontakt zu einer psychosozialen Beratungsstelle, die A. diesbezüglich fachlich besser betreuen kann.

Schlussfolgerung und kritische Reflexion

"ZiVI-Extremismus" wurde für den Bereich der islamistisch begründeten Radikalisierung konzipiert, insbesondere für Fachkräfte des über alle Bundesländer verteilten Netzwerks der Beratungsstellen "Radikalisierung" des BAMF. Diese arbeiten nach einheitlichen Standards (Violence Prevention Network 2020), welche die Basis für die Anwendung von "ZiVI-Extremismus" bilden, und haben sich mit ihren praktischen Erfahrungen in die Entwicklung des Instrumentes eingebracht.

Im Gegensatz zu den in Abschnitt 3 skizzierten Instrumenten basiert "ZiVI-Extremismus" vor allem auf wissenschaftlicher Literatur, punktuell ergänzt durch Erfahrungswissen. Die Dokumentation und Beurteilungen sind zudem nicht (nur) auf ein Gewaltrisiko hin reduziert, was "ZiVI-Extremismus" deutlich von sicherheitsbehördlichen Instrumenten zur Risikoeinschätzung unterscheidet und zu einem wertvollen Instrument für die Evaluation von Beratungsprozessen werden lässt.

Bei der Arbeit mit dem Instrument ist insbesondere von Vorteil, dass durch die konkreten Fragenvorschläge zur Abklärung von einzelnen Risiko- und Schutzfaktoren – wie beispielweise zum Vorliegen psychischer Auffälligkeiten oder einer gewaltbereiten Einstellung ¬– die unterschiedlichen Ausbildungsrichtungen der Fachkräfte in den Beratungsstellen nicht so stark ins Gewicht fallen. So können mithilfe des Instrumentes unterschiedliche Berufsgruppen mit einheitlichen Materialien arbeiten und in einen Austausch miteinander gehen.

Voraussetzungen für die Arbeit mit "ZiVI-Extremismus" sind jedoch das Erlernen von Techniken zur Gesprächsführung und der Umgang mit psychosozialen Krisensituationen. Zudem benötigt die Arbeit mit dem Instrument eine umfassende Einführung und Qualifizierung durch das Entwicklungsteam – zum Beispiel in Form von Schulungen oder dem gemeinsamen Bearbeiten von fiktiven Fallbeispielen. So werden die Voraussetzungen für valide Informationen im Instrument geschaffen und ein sachgemäßer Umgang damit gewährleistet.

Die größte Herausforderung bei der Konzeption des Instrumentes war die aktuell dünne und wenig differenzierte (nationale sowie internationale) Forschungslage zum Thema, denn es existieren nur wenige Studien, die tatsächlich Aussagen zu Radikalisierungsverläufen treffen können. Daraus ergibt sich eine teilweise eingeschränkte Empirie von "ZiVI-Extremismus", das überwiegend auf methodisch gut nachvollziehbaren Studien aufbaut. Die Autorinnen und Autoren empfehlen daher eine Weiterentwicklung und Evaluation des Instrumentes in gewissen zeitlichen Abständen auf der Grundlage aktueller Forschungsergebnisse und praktischer Anwendung. Dies sollte bei der Implementierung in die Beratungspraxis Ende 2022 mitbedacht werden.

Aktuell wird das Instrument mit realen Beratungsfällen deutschlandweit erprobt. Unter der Voraussetzung der Zurverfügungstellung entsprechender Haushaltsmittel ist das BAMF von der Absicht getragen, das Instrument – nach einer letzten Überarbeitung – schließlich digital und mit integrierten digitalen Auswertungsmöglichkeiten umsetzbar zu machen. Für die Anwendung des Instruments wird es zudem voraussichtlich auch Schulungsmöglichkeiten geben. Weiterhin ist eine Erweiterung des Instrumentes auf die Phänomenbereiche des Links- und Rechtsextremismus grundsätzlich denkbar. In der umfangreichen Literaturrecherche hat sich gezeigt, dass die Entwicklungsfaktoren in verschiedenen Formen von Extremismus ähnlich sind.

Hinweis und Danksagung

Die Arbeit entstand im Rahmen des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Projekts "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Entwicklung eines Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungsinstruments (ZiVI-Extremismus)", an dem alle Autorinnen und Autoren beteiligt sind.

Ein Dank geht an dieser Stelle an alle weiteren am Projekt beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Anna Heimgartner, Aleksandra Spasojevic, Felix Brandes, Rashid Bajwa und Kaser Ahmed sowie an die Co-Projektleiterin Prof. Dr. Anne Karow des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

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Dr. Thea Rau ist Sozialarbeiterin und leitet mit Herrn PD Dr. Allroggen die Forschungsgruppe "Gewalt, Entwicklungspsychopathologie und Forensik" der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm, die sich in verschiedenen Forschungsprojekten mit dem Thema Extremismus beschäftigt.

Karin Eberl ist Kriminologin (M.A.) und seit August 2020 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Entwicklung eines Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungsinstruments (ZiVI-Extremismus)" tätig.

Lukka Kiesler ist Psychologin (M.Sc.) und seit November 2021 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Entwicklung eines Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungsinstruments (ZiVI-Extremismus)" tätig.

Diba S. Hosseini ist Psychologin (M.Sc.), derzeit in der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin und seit September 2021 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Entwicklung eines Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungsinstruments (ZiVI-Extremismus)" tätig.

PD Dr. med Marc Allroggen ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm.

PD Dr. med. Dr. theol. Isgard Ohls ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungs- und Projektgruppenleiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.