Comics und historisch-politische Bildung
Comics als Medium eignen sich sehr gut für den Einsatz in der historisch-politischen Bildungsarbeit. Dabei lassen sich Geschichts-Comics in verschiedene Kategorien einteilen, die sich unterschiedlich stark an historischen Fakten und Zahlen orientieren.Link zur Methode "Geschichtscomicplots schreiben".
In der Geschichtsdidaktik ist es nicht neu, aber wieder aktuell, Geschichte als Narrativ zu denken [1], sowohl in wissenschaftlichen Abhandlungen, didaktischen Darstellungstexten im Schulbuch, musealen Inszenierungen, historischen Fernsehdokumentationen, historischen Romanen und Geschichtsspielfilmen als auch in Geschichtscomics und Graphic Novels [2]. Allen genannten Produkten gemeinsam ist die Absicht bzw. die Intention der oder des jeweiligen Produzenten, sich mit einem Thema, das in der Vergangenheit spielt, also frühestens in der Zeitgeschichte zu verorten ist, auseinanderzusetzen. [3] In der Frage, mit welchem Anspruch in Bezug auf historische Triftigkeit oder Korrektheit hierbei vorgegangen wird, unterscheiden sie sich; man wird vermuten, dass eine Historikerin bzw. ein Historiker mit ihren bzw. seinen spezifischen Fachkompetenzen ‚näher dran’ ist an der historischen Wirklichkeit, gekonnter Fragen an die Vergangenheit stellen und diese auf der Basis analytischer wie empirischer Verfahren elaborierter beantworten kann. Die Rezipientin bzw. der Rezipient erhält somit ein Angebot, ihre bzw. seine historische Sachkompetenz zu erweitern und zu profilieren. Der Künstlerin bzw. dem Künstler wird man eher unterstellen, weniger kognitiv-professionell, sondern eher imaginativ-emotional an die historische 'Sache’ heranzugehen, die Fantasie zur historischen Quelle werden zu lassen. Es werden Fantasiewelten entstehen, die ein historisches Lernen im Sinne eines Gewinns an Sachkompetenz kaum ermöglichen. Diese Unterscheidung klingt plausibel. Schließlich darf man den Kunstschaffenden mit dem Kriterium der historischen Triftigkeit als Qualitätsausweis ihrer Werke prinzipiell nicht beikommen, den Historikerinnen und Historikern hingegen schon. Doch was wäre, um mit Ruth Klüger zu fragen, wenn die oder der Kunstschaffende von sich aus erwägt, den Aspekt der historischen Triftigkeit zu achten nach dem Motto, wer über Wirkliches schreibe, dürfe sich über Wirkliches nicht hinwegsetzen (Ruth Klüger)? [4]
Dann wäre es geboten, innerhalb der jeweiligen Kunstgenres nach Kategorien von historischer Triftigkeit zu unterscheiden und auch Kunst in Bezug auf Triftigkeit einer 'Prüfung’ zu unterziehen. Eine solche Kategorisierung habe ich im Rahmen meiner Dissertation [5] für Geschichtscomics vorgenommen mit dem Ergebnis, dass ein Großteil der erfassten Produkte (61%) tatsächlich als 'nicht historisch triftig’ eingestuft werden kann. [6] Im Umkehrschluss gilt aber natürlich zugleich, dass 39% sehr wohl als historisch triftig bezeichnet werden können, wobei – wie sich zeigen wird – gruppenintern der Aspekt der historischen Triftigkeit genauer zu spezifizieren ist. Für die Arbeit im Geschichts- bzw. Politikunterricht lassen sich prinzipiell Comics aller drei Kategorien nutzen, allerdings ergeben sich unterschiedliche Zielsetzungen: Während Geschichts-Sachcomics und Geschichts-Romancomics vor allem zur Ausbildung von De-Konstruktionskompetenz, also der Fähigkeit zu erkennen, dass Geschichte konstruiert ist, beitragen, schärfen Geschichts-Fantasiecomics vor allem den Umgang mit Geschichtskultur.
Im Folgenden soll die Auseinandersetzung mit zwei Arbeiten der Comic-Künstlerin Isabel Kreitz ("Die Sache mit Sorge“ und "Ohne Peilung“) und einer Arbeit des Comic-Künstlers Walter Moers ("Adolf – Der Bonker“) dazu beitragen, das Verhältnis von Kunst und historischer Triftigkeit im Geschichtscomic genauer zu ergründen.
"Die Sache mit Sorge. Stalins Spion in Tokio“ von Isabel Kreitz
Der Geschichtscomic beschäftigt sich mit der Biografie von Dr. Richard Sorge (1885-1944). Offiziell war er als Journalist der Frankfurter Zeitung seit 1933 in Japan tätig, inoffiziell aber wirkte er als sowjetischer Spion. Offensichtlich sehr gut getarnt ging Sorge in der deutschen Botschaft in Tokio ein und aus und erhielt aus Botschafterkreisen sogar intime Einblicke über die Planung eines deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Sorge leitete diese Informationen im Mai 1941 unverzüglich an Stalin weiter, allerdings vergeblich: Stalin vertraute Sorge diesbezüglich nicht. Sorge wird schließlich im Oktober 1941 enttarnt und in Japan 1944 hingerichtet. Ruhm und Ehre wurden Sorge in der sozialistischen Welt erst nach Stalins Tod zuteil, bis dahin wurde er verschwiegen und verleugnet.In ihrem Werk thematisiert Kreitz hauptsächlich die letzten "dramatischen“ Monate vor Sorges Enttarnung von Mai bis Oktober 1941. Darüber hinaus lässt sie Weggefährten von einst als Zeitzeugen in einer Quasi-Interviewsituation einer späteren Gegenwart zu Wort kommen.
Doch wie realistisch ist das Gezeigte? Als wie historisch genau lässt sich diese Produktion einschätzen? Zunächst lässt sich festhalten, dass Kreitz an dieser Geschichtscomicproduktion über zwei Jahre gearbeitet hat. Sie hat hierbei umfangreiche Plot- und Bildrecherchen betrieben. Dies lässt sich beispielhaft an der optischen Gestaltung ihrer Figuren, so z. B. derjenigen von Richard Sorge (siehe Abb. 1), aufzeigen.
Es zeigt sich, dass sie eng an der Originalvorlage arbeitet und Fotografie-Dokumente als Authentizitätsbeteuerungen verwendet. Es handelt sich bei der Anwendung von sog. Bild-Zitaten um ein typisches Vorgehen bei der Erstellung eines Geschichtscomics.
In einem Interview äußert sich Kreitz konkret zu ihrem Umgang mit Historie. So hält sie in Bezug auf die Darstellung der Schauplätze fest:
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"Tokio habe ich zwar im Jahre 2000 besucht, aber ich kann nicht erahnen, wie es vor siebzig oder achtzig Jahren dort ausgesehen haben mag und zugegangen ist. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, Fotos zu suchen, und musste feststellen, dass es im Gegensatz zu europäischen Metropolen fast gar nichts gibt. [...] Was ich dann zur Verfügung hatte, waren drei Ausgaben von National Geographic aus den dreißiger Jahren, ein japanischer Bildband mit Fotos querbeet durch den japanischen Alltag und ein Buch mit japanischer Architektur aus der Zeit. Ich habe dann die Details aus den wenigen Bildern immer wieder zu neuen Straßenszenen zusammengesetzt. [...]“
In Bezug auf die Plotrecherche benennt sie mehrere Monografien unterschiedlicher Erscheinungsorte als Materialgrundlage, die sich durchaus kontrovers zueinander verhalten oder jüngst veröffentlichte Quellen, wie Funksprüche von Sorge, die in Wladiwostok aufgefangen wurden und andere.
In Bezug auf die Frage nach dem historischen Gehalt lässt sich somit kurz attestieren: Kreitz hat sowohl für den Plot als auch für die Zeichnungen wahrscheinlich alle verfügbaren Quellen genutzt. Sie hat weder Personen noch Ereignisse hinzugefügt oder wesentliche Aspekte bewusst verschwiegen. Kreitz präsentiert demnach also keine Geschichtsfantasie; ihr lässt sich tatsächlich unterstellen, eine historisch triftige Geschichtsdarstellung in Comicform erarbeiten zu wollen. Doch ein völliger Ausschluss eigener Fantasien ist auch trotz dieses Eigen-Anspruchs nicht möglich. Dies wird bereits an den für das Medium üblichen Gestaltungsmitteln der Denk- und Sprechblasen deutlich. So ist es unmöglich zu wissen, was Menschen "wirklich“ dachten und nur selten lässt sich auch mit Bestimmtheit festhalten, was sie "eigentlich“ sagten. Die Comic-Künstlerinnen und -künstler müssen somit nicht nur visuelle Lücken schließen (Ausgestaltung der Panels), sie haben auch verbale Leerstellen zu füllen. Das, was wir im Geschichtscomic geboten bekommen, sind die Imaginationen von den Künstlern/-innen zu einem bestimmten historischen Sachverhalt. Das gilt ähnlich auch für Geschichts-Filme und ganz generell für jede Geschichtserzählung. Diese Geschichtsimaginationen bedeuten für die Leser/-innen zunächst eine Konfrontation mit "Fremdimaginationen“, die zur Bildung eigener Vorstellungen anregen können. Die Künstler/-innen inszenieren für ihre Leser/-innen eine vergangene Welt aus Fakten und Fiktionen, deren Konstruktcharakter bereits allein durch die Grafik und Ästhetik des Mediums erkennbar wird. Es ist letztlich das Geschichtsbewusstsein der jeweiligen Künstlerin bzw. des jeweiligen Künstlers, das ein Geschichtscomic offenbart. Sieht man die genannten fiktiven Lückenschließungen als "obligate Fiktionen“ an, dann ist ein Geschichtscomic wie "Die Sache mit Sorge“ ein Produkt, das auf "nicht-obligate“ Hinzuerfindungen, wie z. B. das Verwenden fiktiver Personen, vollständig verzichtet. Solche Geschichtscomics ließen sich als Geschichts-Sachcomics kategorisieren.