„Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung und das bedeutet, alles was digitalisierbar ist, wird auch digitalisiert werden“, sagte die ehemalige Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Jahr 2018 im Rahmen des Digital-Gipfels in Nürnberg (Bundesregierung 2018).
Heute, im Jahr 2025, haben wir das „Zeitalter der Digitalisierung“ weitestgehend hinter uns gelassen und leben in digitalen Zeiten. Ein großer Teil unseres Alltags ist bereits digitalisiert: Smartphones, Social Media-Plattformen und die verschiedenen Messenger-Dienste sind aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken und eröffnen neue Möglichkeiten der Kommunikation. Neben diesen neuen Möglichkeiten entstehen aber auch Herausforderungen: Die Digitalisierung erschafft virtuelle und als rechtsfrei wahrgenommene Räume, in welchen unverhohlen geschimpft, verurteilt und gehetzt wird.
Deutlich wird dies unter anderem bei der Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK), also solcher Straftaten, die laut polizeilicher Definition eine ideologische oder politische Motivation der Täter voraussetzen. In diesem Bereich ist die Hemmschwelle für politische Agitation, Beleidigungen und Gewaltaufrufe im Netz in den letzten Jahren spürbar gesunken, was sich in den polizeilichen Statistiken deutlich ablesen lässt.
So konstatiert das Bundeskriminalamt (BKA) einen Zuwachs der PMK-Straftaten im Internet (zum Beispiel Propagandadelikte wie das Verwenden und Verbreiten von Symbolen verfassungswidriger Organisationen, Hasspostings, Aufrufe zu und Androhungen von Straftaten) von 2023 auf 2024 um 29,6 Prozent, von 15.488 auf insgesamt 20.074 Fälle (BKA 2025b). Das BKA führt hierzu aus, dass „die erneut gestiegenen Zahlen politisch motivierter Straftaten im digitalen Raum die zunehmende Bedeutung des Internets – insbesondere sozialer Medien – als Radikalisierungstreiber unterstreicht“. In den sogenannten Echokammern – digitale Räume, in denen die Kommunikation mit Gleichgesinnten im Vordergrund steht und man „unter sich“ bleibt – wird sich radikalisiert, zur Gewalt angestachelt und im Extremfall werden virtuell terroristische Anschläge geplant, vorbereitet und die entsprechenden Tatmittel auch online beschafft. Die potenziellen Täterinnen und Täter nutzen hierbei die gesamte Bandbreite der zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel, seien es klassische Messenger-Dienste wie WhatsApp, Signal, Threema und Telegram oder auch Social Media-Plattformen wie Instagram, Facebook, TikTok und YouTube. Darüber hinaus kommunizieren sie auch über Gaming-Plattformen bzw. In-Game-Chats sowie Online-Foren wie Steam, Rocket.Chat, Discord, Teamspeak und Mumble.
Auf all diesen Plattformen sind vermehrt Aufrufe zu Straftaten festzustellen, obwohl die Plattformbetreiber in Teilen erkennbar bemüht sind, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.
Sofern aus den entsprechenden Postings, Kommentaren oder Veröffentlichungen Straftaten resultieren, bleiben diese jedoch nicht immer auf den virtuellen Raum beschränkt, wie das folgende Beispiel aus der Praxis zeigt:
Tatort Internet – ein Fallbeispiel
In 2024 verabredeten sich Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren zum Mord bzw. Totschlag im Zusammenhang mit einer vermeintlich islamistischen Gesinnung.
Was war geschehen? Zunächst war das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) auf ein 16-jähriges Mädchen aus Nordrhein-Westfalen aufmerksam geworden, welches Propagandamaterial des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) konsumierte und eine Ausreise nach Syrien plante. Nachdem sie ihre Reisepläne aufgrund diverserer Hindernisse verwerfen musste, tauschte sich die Heranwachsende in mehreren Chatnachrichten mit potenziellen Mittäterinnen und -tätern darüber aus, wie man Anschläge planen und umsetzen könnte. Tatmittel und mögliche Tatziele wurden so detailliert beschrieben, dass das BfV davon ausgehen musste, dass von den handelnden Personen eine tatsächliche Gefahr im Sinne der Verwirklichung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a StGB1 ausging. Das BfV übermittelte die ihm vorliegenden Informationen an die zuständigen Polizeibehörden und dort wurden in enger Abstimmung mit den zuständigen Staatsanwaltschaften unmittelbar Dursuchungsmaßnahmen und schlussendlich Haftbefehle beantragt und umgesetzt.
Das beschriebene Szenario steht nur exemplarisch für eine Möglichkeit, wie Fälle mit einer potenziellen Gefährdung die zuständigen Polizeibehörden erreichen können. Neben der Nutzung des Internets für die Tatplanung eines terroristischen Anschlags zeigt der Fall auch auf, was die Sicherheitsbehörden zunehmend beschäftigt: Die Täterinnen und Täter werden augenscheinlich nicht nur immer häufiger online tätig, sie werden auch immer jünger.
Was können die Sicherheitsbehörden tun?
Solche gefährdungsrelevanten Sachverhalte werden bereits seit Dezember 2004 im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin behandelt. Ziel dieser Kooperations- und Austauschplattform von 40 Sicherheitsbehörden ist es, die vorliegenden Erkenntnisse der betroffenen und zuständigen Behörden zu bündeln, die Informationen abzugleichen und eine gemeinsame Bewertung abzustimmen. Vertreten sind im GTAZ neben dem BKA und dem BfV auch der Bundesnachrichtendienst, die Bundespolizei, das Zollkriminalamt, der Militärische Abschirmdienst, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Vertreter des Generalbundesanwaltes sowie die 16 Landeskriminalämter und die 16 Landesämter für Verfassungsschutz.
Im Bereich der Terrorismusbekämpfung gibt es eine weitere, wesentliche Besonderheit in der polizeilichen Arbeit. Hier muss standardmäßig nicht nur die Frage der Strafbarkeit, sondern immer auch eine mögliche bestehende Gefahrenlage geprüft werden. Das heißt, die vorliegenden Informationen werden nicht nur zur Prüfung an eine zuständige Staatsanwaltschaft übergeben, um die Täter zu ermitteln. Vielmehr wird jeder Fall mit allen beteiligten Behörden auch dahingehend analysiert, ob eine mögliche, weiterhin andauernde oder entstehende Gefahrenlage vorliegt und welche Optionen die Sicherheitsbehörden haben, um diese Gefahrenlage zu beenden.
Hierfür ist eine Gefährdungsbewertung der erste Schritt. Diese erfolgt in einem mehrstufigen Verfahren. Ein Teil dieser Gefährdungsbewertung kann eine „Risikoanalyse“ sein.
Was ist eine Risikoanalyse?
Der polizeiliche Terminus „Risikoanalyse“ grenzt sich bewusst vom häufig allgemeinsprachlich verwendeten Begriff einer „Gefährderanalyse“ ab, da ein „Gefährder“ bereits polizeiintern definiert ist und das Ergebnis einer Analyse vorwegnehmen würde. Gefährder sind im Verständnis des polizeilichen Staatsschutzes Personen, zu welchen bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a Strafprozessordnung (StPO)2, begehen werden (BKA 2025a).
Bei der Risikoanalyse im Bereich des polizeilichen Staatsschutzes geht es also darum zu klären, ob von einer Person das Risiko ausgeht, dass sie eine schwere Gewaltstraftat bzw. eine schwere staatsgefährdende Gewalttat begehen könnte. Die Bewertung basiert somit auf einer Prognose zum zukünftigen Verhalten potenzieller Täterinnen und Täter, um daran die weiteren polizeilichen Maßnahmen auszurichten. Diese Aufgabe fällt in die Zuständigkeit der jeweils betroffenen Landespolizeibehörden.
Wie erstellt man Prognosen zu menschlichem Verhalten?
Für derartige Prognosen werden individuelle Schutz- und Risikofaktoren einer Person erfasst und gegeneinander abgewogen. Das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren stammt aus der Gesundheitsforschung. Dabei stellen Risikofaktoren Merkmale dar, welche die Wahrscheinlichkeit einer negativen Entwicklung der betrachteten Fragestellung erhöhen. Unter Schutzfaktoren wiederum werden Merkmale verstanden, welche die Wahrscheinlichkeit für einen positiven Verlauf stärken (Neuenschwaner 2013).
Wie aber können Polizeibehörden diese Merkmale erkennen und erheben? Derartige Faktoren und die zugehörigen Merkmale werden in der Psychologie, insbesondere in der Forensik und in der allgemeinen Gewaltforschung, seit jeher beschrieben und erörtert. Eine unmittelbare Übertragbarkeit auf die Terrorismusbekämpfung ist jedoch nicht möglich, da unter anderem bestimmte Schutz- bzw. Risikofaktoren hier keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Umgekehrt werden einzelne Faktoren, die für die Terrorismusbekämpfung von besonderer Bedeutung sind, in der Gewaltforschung weniger stark gewichtet.
Ein Beispiel ist der Faktor Alkohol: Alkohol ist in der Gewaltforschung ein starker Faktor, im Bereich des islamistischen Terrorismus spielt er hingegen kaum eine Rolle. Demgegenüber ist ein konspiratives Treffen und das Agieren in Kleingruppen für die allgemeine Gewaltforschung eher zu vernachlässigen, im Bereich der Terrorismusbekämpfung jedoch ein wesentlicher Risikofaktor.
Das Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg (konex BW) hat zu dieser Thematik einen Fragebogen als Unterrichtsmaterial für Schülerinnen und Schüler entwickelt, welcher einige der wesentlichen Risiko- und Schutzfaktoren für die Entstehung von Gewalt/Extremismus bei Heranwachsenden aufzeigt (konex 2018). Neben Gewalt im Elternhaus, Arbeitslosigkeit und finanziellen Problemen, einer fehlenden Anerkennung und einem geringen Selbstwertgefühl tauchen auch Pubertätsprobleme und „Killerspiele“ am PC in der Auflistung der Risikofaktoren auf. Als Schutzfaktoren hingegen werden beispielsweise eine gute Beziehung zu den Eltern, Erfolg in der Freizeit, sprachliche Fähigkeiten und das allgemeine Wohlbefinden in der Schule benannt. Darüber hinaus können die Schülerinnen und Schüler auch eigene Schutz- und Risikofaktoren in dem Material benennen.
Tatsächlich sind Risiko- und Schutzfaktoren nur schwer von Fall zu Fall übertragbar und ihr Zusammenspiel ist individuell verschieden. Unterschiedliche Merkmale können bei unterschiedlichen Menschen eine andere Gewichtung erfahren und manche Faktoren können, beispielsweise aufgrund innerer Werte und Überzeugungen einer Person, auch gänzlich entfallen. Auch können sich einzelne Faktoren auf eine Person beruhigend, auf eine andere aufpeitschend auswirken. So wird alleine das Merkmal (und der Begriff) „Killerspiele“ und seine Auswirkung auf die Gewaltbereitschaft in der Wissenschaft bereits seit Jahren kontrovers diskutiert. Dies lässt sich wiederkehrend in verschiedenen Veröffentlichungen nachvollziehen, so unter anderem in einem Literaturüberblick aus dem Jahr 2020 (Salisch 2020) und aktuell im Handbuch „Gaming & Rechtsextremismus“ vom Juli 2025 (Brandenburg/Schlegel/Zimmermann 2025).
Eine Risikoanalyse lebt folglich davon, dass die Bewertenden sich der verschiedenen Faktoren sowie der dazugehörigen Merkmale bewusst sind und ihre unterschiedlichen Ausprägungen deuten, nachvollziehen und angemessen auf den Einzelfall übertragen können. Um das sicherzustellen, entwickelt das BKA in Kooperation mit den Landeskriminalämtern, der Universität Konstanz und der Kriminologischen Zentralstelle (KRIMZ) das Schulungs- und Ausbildungsmaterial für die Polizeien des Bundes und der Länder stetig fort.
Nach der Erstellung von Indikatorenkatalogen, Checklisten und anderen Handreichungen wurden in einem mehrjährigen Projekt RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus) und in der Folge RADAR-rechts (Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – rechts) entwickelt (BKA 2025c). Es handelt sich dabei um für die Polizei – und hier spezifisch im Bereich Staatsschutz – nutzbare, standardisierte Risikobewertungsinstrumente. Beide dienen der Priorisierung von bereits polizeibekannten Personen hinsichtlich des von ihnen ausgehenden Risikos, eine konkret lebensgefährliche bzw. staatsgefährdende Gewalttat zu begehen.
Für die Anwendung der Instrumente greifen die Sachbearbeitenden auf die ihnen vorliegenden Informationen zurück. In Einzelfällen können für diesen Zweck auch weitere relevante Informationen erhoben und ggf. auch unmittelbare Gespräche mit den betroffenen Personen geführt werden. Dies kann beispielsweise im Rahmen polizeilicher Vernehmungen oder im Kontext eines präventiven Aufklärungsgesprächs, der sogenannten Gefährderansprache, erfolgen.
Ziel der Informationssammlung ist es, beobachtbares Verhalten abzubilden. Es gilt zu vermeiden, Merkmale, welche vermeintliche Einstellungen oder bereits getroffene Bewertungen enthalten, zu erfassen.
Als Basis der Bewertung dient ein mehrdimensionaler Fragebogen, der das Vorliegen bestimmter Schutz- und Risikofaktoren umfasst. Die erhobenen Daten werden durch speziell geschulte Mitarbeitende ausgewertet und in zwei Kategorien differenziert: moderates Risiko oder hohes Risiko. Die sogenannten Hoch-Risiko-Personen werden anschließend Gegenstand einer eigens dafür entwickelten Arbeitsgruppe „Risikomanagement“ (AG RIMA) im GTAZ. Hier werden sämtliche Informationen mit den zuständigen Sicherheitsbehörden abgeglichen und eine Bewertung zur Person konsentiert.
Die Bewertungen zu den Hoch-Risiko-Personen werden vorher in einem interdisziplinären Ansatz unter der Beteiligung von psychologisch und sozialwissenschaftlich geschultem Personal, erfahrenen und speziell geschulten Polizistinnen und Polizisten und bei Bedarf weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (zum Beispiel Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftlern) durchgeführt.
Der skizzierte Ablauf dient dazu, mit allen betroffenen Behörden einen gemeinsamen Sachstand und ein gemeinsames Verständnis zum jeweiligen Handlungsbedarf entwickeln zu können.
So komplex und herausfordernd der gesamte Prozess ist, haben die Ergebnisse der letzten Jahre deutlich gemacht, dass eine nachvollziehbare und teilstandardisierte Bewertung erfolgskritisch ist, um personenbezogene Gefahrenprognosen zu erstellen, zumal diese Bewertungen das weitere behördliche Handeln begründen und die getroffenen Schlussfolgerungen auch rechtlichen Überprüfungen standhalten müssen.
Wie hat die Digitalisierung diesen Prozess der Bewertung beeinflusst?
Es ist leicht nachvollziehbar, dass heutige potenzielle Täterinnen und Täter in der digitalen Welt mehr Spuren über ihr Leben hinterlassen, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. In aller Regel haben die zu bewertenden Personen bereits vor ihrer Radikalisierung beziehungsweise vor einer möglichen Tat oder Tatplanung Social Media-Accounts, E-Mail-Adressen und Online-Konten angelegt und diese ggf. im Rahmen eines möglichen Radikalisierungsverlaufs weiterhin bedient, Bilder gepostet, Beiträge „geliked“, kommentiert, „repostet“ oder ihre Zugehörigkeit zu Gruppen und Vereinen öffentlich gemacht. In Teilen posteten spätere Beschuldigte potenzielle Tatwaffen vor der Tatausführung öffentlich oder beschrieben in Blogs und auf Social Media-Plattformen ihre eigenen Wesensveränderungen und Radikalisierungsverläufe minutiös. Auch das Vernetzen mit anderen Personen aus den jeweiligen Szenen konnte in Teilen öffentlich nachvollzogen werden. In wenigen Ausnahmefällen wurden gar Anschlagsplanungen öffentlich angekündigt.
Wo Sicherheitsbehörden früher mit zum Teil aufwändigen, kosten- und personalintensiven Ermittlungsmethoden Informationen offen oder verdeckt ermitteln mussten, stellen viele der potenziellen Täter und Täterinnen diese heute einer breiten Öffentlichkeit bereit, brüsten sich online mit ihren Einstellungen und prahlen zum Teil mit ihren Tatmitteln. Häufig in der Annahme, dass sie ihre wahre Identität im Internet erfolgreich verschleiern können.
Die Herausforderung liegt nunmehr darin, diese Spuren und Hinweise online zu finden.
Im Februar 2025 nutzen rund 65,5 Mio. Deutsche mindestens eine Social Media-Plattform für durchschnittlich eine Stunde und 41 Minuten (Roehl 2025). Die Datenmengen, die hierbei anfallen, sind kaum vorstellbar und in keinem Fall für die deutschen Sicherheitsbehörden kontrollier- oder auswertbar.
Das aktuelle Online-Verhalten hat zwar die Analyse von bekannten Personen dahingehend vereinfacht, dass mehr Informationen zu potenziellen Täterinnen und Tätern öffentlich verfügbar sind. Gleichzeitig ist es jedoch schwerer geworden, bei der schieren Flut der Informationen zu differenzieren, wo nach den relevanten Hinweisen zu suchen ist. Wo früher Kontaktdaten auf Telefonen und in persönlichen Notizen zu finden waren, sind nun unzählige Apps mit potenziellen Kontaktverzeichnissen und Freundeslisten zu überprüfen. Außerdem sind sämtliche Postings der potenziellen Täterinnen und Täter zu prüfen: Welche sind ernst zu nehmen? Welche sind lediglich als Prahlerei, Angeberei oder gar missverständlicher Scherz zu bewerten?
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die online dargestellten Inhalte nur das widerspiegeln, was die Verfasserin oder der Verfasser zeigen möchte. Die Diskrepanz wird jedem deutlich, der die perfekt inszenierten Bilder auf den Social Media-Plattformen betrachtet. So inszenieren sich mittlerweile bereits Kinder und Jugendliche als erfahrene Kämpfer und Märtyrer für den Dschihad, ohne überhaupt ein tatsächliches Verständnis von diesem zu haben. In weiten Teilen geht es um eine reine Selbstdarstellung mit dem Ziel, Beachtung in der eigenen Peergroup zu erlangen. Doch selbst wenn die Person hinter einem derartigen Account keine wirklichen Anschlagsabsichten hegt, kann dieser und der dortige Auftritt der Person geeignet sein, andere zu inspirieren. Auch ist es mittlerweile mit wenig Aufwand möglich, andere Personen mit digitalen Inhalten fälschlicherweise zu belasten und zu denunzieren.
Hier ist es Aufgabe der Polizei, sich ein möglichst umfassendes Bild zu der betreffenden Person beziehungsweise zu den Onlineinhalten zu verschaffen, die einzelnen Informationen zu gewichten und in einen Gesamtkontext zu bringen. Diesen Prozess kann man derzeit weder digitalisieren noch automatisieren, da die Bewertung menschlichen Verhaltens durch digitale Technik bis heute nicht gerichtsverwertbar zulässig ist: Selbst wenn technische Möglichkeiten bei der Suche nach Informationen eine erhebliche Erleichterung mit sich bringen und das Thema der Künstlichen Intelligenz (KI) auch diese Fragen künftig beeinflussen wird, ist es für eine gerichtliche Bewertung nach derzeitigem Stand ausgeschlossen, dass Prognosen zu menschlichem Verhalten, die allein durch eine KI oder einen Algorithmus erstellt wurden, in ein Gerichtsverfahren eingebracht werden können.
In einem Grundlagenpapier zum Thema KI und algorithmischen Systemen in der Justiz aus dem Jahr 2022 wird hierzu festgehalten, dass unter anderem Prognoseentscheidungen den Kernbereich der richterlichen Tätigkeiten betreffen können, weshalb hier genutzte Systeme besonders kritisch zu beleuchten sind. In keinem Fall dürften derartige Systeme oder Algorithmen dazu führen, dass Prognoseentscheidungen nicht mehr nachvollzogen werden können. Denn wenn Entscheidungsgrundlagen und Prozesse nicht mehr hinreichend nachvollziehbar sind, werden sie für ein Gerichtsverfahren ungeeignet, da Richterinnen und Richter keine Verantwortung für eine derartige Prognose im Rahmen ihres Urteils übernehmen können (Bayerisches Staatsministerium für Justiz 2022). Genau darin sehen die Autoren dieses Textes die Herausforderung: Eine Prognose ist nur dann nachvollziehbar, wenn jeder einzelne Prozessschritt vor Gericht dargelegt werden kann. Diese Forderung aber ist für eine KI oder einen komplexen Algorithmus, wie sie für derartige Prognosen benötigt werden, derzeit (noch) nicht erfüllbar.
Fazit
Die Digitalisierung ist für die Risikoanalyse im polizeilichen Staatsschutz Fluch und Segen zugleich. Einerseits vermittelt sie einen umfangreichen Eindruck von Personen in der digitalen Welt, zeichnet mitunter ihre digitale Identität bis ins Detail nach. Andererseits spiegelt dieser Eindruck nur wider, was die betreffende Person vermitteln möchte und dieses Bild ist nur in seltenen Fällen mit der Realwelt in Einklang zu bringen.
Es gilt, immense Datenmengen zu analysieren, anhand zahlreicher Faktoren zu gewichten, Reichweiten von Accounts einzuschätzen und reale Gefahren von sogenannten Anscheinsgefahren zu trennen, also zu erkennen, wo tatsächliche Gefahren existieren und wo Sachverhalte zwar auf den ersten Blick gefährlich wirken, es jedoch tatsächlich nicht sind.
Bei der eigentlichen Bewertung von Personen geht es im Kern somit weiterhin darum, ein möglichst umfangreiches Bild einer realweltlichen Person in ihrer aktuellen Lebenssituation zu erhalten und auf Grundlage der vorliegenden Informationen zu schlussfolgern, was realistisch nächste Handlungsoptionen der Person sein könnten, um so das eigene gefahrenabwehrende Handeln auszurichten, Schutzfaktoren zu stärken, Risikofaktoren zu minimieren und im Idealfall Anschläge und schwerste Gewalttaten zu verhindern.
Angesichts der Digitalisierung muss die polizeiliche Arbeit somit in der Lage sein, mehr und zunehmend komplexere Informationen schnell und nachvollziehbar zu verarbeiten. Gleichzeitig bleibt gültig: Die Bewertung selbst kann bzw. darf bislang (noch) nicht digitalisiert oder automatisiert werden.
Das eingangs erwähnte Zitat der ehemaligen Bundeskanzlerin trifft folglich zu: Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Allerdings braucht es auch im Jahr 2025 weiterhin den klassischen kriminalistischen Sachverstand und einen interdisziplinären Teamansatz, um eine nachvollziehbare und gerichtsfeste Risikoanalyse vorzunehmen.