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Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland Herausforderungen und Ansätze der Präventionsarbeit

Hanna Baron

/ 16 Minuten zu lesen

Die islamistische Hizb ut-Tahrir ist keine besonders große Gruppierung, aber ihre Initiativen erreichen gerade im Internet neue und vor allem junge Zielgruppen. Hanna Baron betrachtet Ideologie und Ziele der Gruppierung. Sie analysiert ihre Attraktivität und Strategie in den sozialen Medien sowie ihr Vorgehen bei der Anwerbung im Offline-Bereich. Und sie zeigt, wie verschiedene Stellen der Jugend- und Kulturarbeit präventiv tätig werden können.

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Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "'Legalistischer' Islamismus".

Im Jahr 2019 werden der Hizb ut-Tahrir von den Sicherheitsbehörden lediglich 430 Anhängerinnen und Anhänger in Deutschland zugerechnet (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2020b, S. 181). Damit scheint diese islamistische Gruppierung auf den ersten Blick weniger bedeutsam zu sein als viele andere im Phänomenbereich. Ihr Einfluss auf junge Menschen, den sie vor allem durch neu entstandene Initiativen ausübt, darf jedoch nicht unterschätzt werden. Diese Aktivitäten stehen im Fokus der Sicherheitsbehörden und der öffentlichen Aufmerksamkeit, da sie sowohl online in sozialen Netzwerken, als auch offline medienwirksame Kampagnen starten und mobilisieren.

Die Hizb ut-Tahrir: Ausrichtung, Ideologie, Ziele

Die Hizb ut-Tahrir (HuT; arabisch für "Partei der Befreiung") hat ihren Ursprung in den frühen 1950er-Jahren in Jerusalem. Obwohl der Name "Partei der Befreiung" suggeriert, es handle sich um eine Partei im klassischen Sinne, sollte die HuT eher als transnationale, panislamistische Bewegung oder Organisationsform verstanden werden. Gegründet wurde die Bewegung vom palästinensischen Rechtsgelehrten Taqi ad-Din an-Nabhani (1909-1977). Das wichtigste Element seiner Ideologie stellte zunächst eine Befreiung Palästinas von der "Besetzung" Israels dar. In den folgenden Jahren verschob sich der Fokus der Gruppe auf eine Befreiung aller Musliminnen und Muslime weltweit von der wahrgenommenen Unterdrückung durch "den Westen" und seine Konzepte wie den Kapitalismus.

QuellentextInterview mit HuT-Aussteiger

Rashad Zaman Ali ist mit 15 Jahren der HuT in Großbritannien beigetreten und zum Führungsmitglied avanciert. Inzwischen ist er ausgestiegen und arbeitet beim Londoner Institute for Stategic Dialogue. In zwei Interviews spricht er über den Reiz von HuT, das Verhältnis zwischen Politik und Religion in der Ideologie von HuT sowie HuT in Deutschland und Europa.

Externer Link: Zum schriftlichen Interview auf rise-jugendkultur.de

Interner Link: Zum Video-Interview auf bpb.de (in englischer Sprache)

Um dieses Ziel umzusetzen, müssten Musliminnen und Muslime zum "wahren" Glauben zurückgeführt werden, sich für ihn einsetzen, aufopfern und sich weltweit vereinigen. Dabei setzt die Bewegung sich für die Herrschaft eines umfassenden Kalifatstaats nach frühislamischem Vorbild ein. Diese soll auf den überlieferten islamischen Rechtsgrundsätzen der Scharia beruhen und die Interessen der islamischen Gemeinschaft, der Umma, vertreten. Dem Verständnis der Hizb ut-Tahrir nach könne im Islam nicht zwischen Religion und Politik unterschieden werden. Stattdessen bilde der Islam neben Spiritualität vor allem eine Ideologie und Lebensordnung: ihm wohne somit eine politische Agenda und ein Plan für ein allumfassendes politisches, rechtliches und gesellschaftliches System inne. Alle nicht strikt islamisch verfassten Staatsformen lehnt sie ab.

Die Anhängerschaft der Hizb ut-Tahrir geht davon aus, als einzige dem "wahren" Islam zu folgen und rechtgeleitet zu sein. Nach dieser Auffassung folgen alle anderen Musliminnen und Muslime sowie andere islamistische Gruppierungen einer falschen Auslegung und sind verloren, Ungläubige oder Verräterinnen und Verräter. Die Hizb ut-Tahrir war in den letzten 50 Jahren nicht in Gewalthandlungen involviert und hat sich öffentlich immer wieder von revolutionärer Gewalt distanziert. Trotzdem sympathisierten Mitglieder in der Vergangenheit auch mit Gewalthandlungen anderer Gruppierungen, sofern sie als Ausdruck von Verteidigung gewertet wurden. Die Hizb ut-Tahrir ist antisemitisch und verneint das Existenzrecht Israels. Israel wird als Besatzungsmacht auf islamisch deklariertem Herrschaftsgebiet verstanden. Eine notfalls auch gewaltsame Verteidigung gegen die "Besatzer" wird deshalb mitunter gebilligt (vgl. Baran 2004, S. 19-22; Landesamt für Verfassungsschutz Berlin 2016, S. 30; An-Nabhani/Zallum 1953/2002, S. 13, 31; Pankhurst 2016, S. 3 f., 41; Steinberg 2005, S. 39 f.).

Von Palästina aus konnte die Hizb u-Tahrir in über 40 Ländern Organisationsstrukturen entwickeln. Ihr werden mehrere zehntausend Anhängerinnen und Anhänger zugerechnet. Besonders viel Zulauf hat sie in Zentralasien, zum Beispiel in Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Ein Zentrum der Hizb ut-Tahrir bildet heute zudem der Libanon und in Europa ist sie insbesondere in Großbritannien stark vertreten. Dabei ist die Hizb ut-Tahrir in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern – im Gegensatz zu den meisten europäischen – verboten. Dort wird argumentiert, sie würde die bestehenden Herrschaftsordnungen in Frage stellen (vgl. Hamid 2007, S. 156; Kunze/Logvinov 2016, S. 141 f.; Möller 2019; Pankhurst 2016, S. 3 f.).

Die Hizb ut-Tahrir bewegte sich bis in die frühen 2000er-Jahre vorrangig im akademischen Bereich und versuchte gezielt, einen gebildeten und einflussreichen Personenkreis, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende zu rekrutieren. In kleinen Lernzirkeln sollten ausgewählte Anhängerinnen und Anhänger lernen, "falsche" und "unislamische" Ideen argumentativ zu widerlegen und die Richtigkeit der eigenen Ideen zu beweisen.

Mediale Aufmerksamkeit erregte die Hizb ut-Tahrir im Jahr 2003, als ein ausführliches Interview mit dem deutschen "Mediensprecher" der Hizb ut-Tahrir, Shaker Assem, in der NPD-Zeitschrift "Deutsche Stimme" erschien. Mitglieder von NPD und Hizb ut-Tahrir besuchten zu diesem Zeitpunkt gegenseitig ihre Veranstaltungen. Gemeinsamer Nenner dieses rechtsradikal-islamistischen Bündnisses war in erster Linie antiisraelische sowie antiamerikanische Hetze ebenso wie ethnopluralistische Ideen. Daneben wurde beispielsweise versucht, Moscheegemeinschaften zu unterwandern sowie muslimische Gruppierungen aufzuhetzen und politisch zu agitieren (vgl. Beig 2010, Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg 2016, S. 53; Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg 2011, S. 50; Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg 2009, S. 47 f.; Schura Hamburg 2016; Hummel 2020).

Vereinsverbot und Strukturverschiebungen: Die Initiativen "Generation Islam" und "Realität Islam"

Im Jahr 2003 wurde in Deutschland durch das Bundesministerium des Innern ein Betätigungsverbot der Hizb ut-Tahrir verfügt. Ausschlaggebend waren dabei die offen geäußerte Israelfeindlichkeit und antisemitische Propaganda. Der Gruppierung wurde ein Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung vorgeworfen, ebenso die Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele.

Das Verbot führte in den folgenden Jahren zur Herausbildung dezentraler Strukturen. Viele Mitglieder passten ihre Aktivitäten, Rekrutierung und Einflussnahme an die neuen Gegebenheiten an und verschleierten sie, um strafrechtlichen Konsequenzen zu entgehen und handlungsfähig zu bleiben. Der öffentlich in Erscheinung getretene Shaker Assem ging nach dem Verbot in Deutschland seiner Aufgabe weiter von Österreich aus nach. Dort bietet er Lehrzirkel an und betreibt seit 2006 die erste offizielle, deutschsprachige Website der Hizb ut-Tahrir. Dort werden nach wie vor offizielle Stellungnahmen zu Geschehnissen in Deutschland veröffentlicht (vgl. Beig 2010; Bundesministerium des Innern 2003; Bundesamt für Verfassungsschutz 2020b, S. 220; Bundesamt für Verfassungsschutz 2004, S. 183).

In den sozialen Netzwerken finden sich neugegründete Gruppen von offenkundigen Anhängerinnen und Anhängern der Hizb ut-Tahrir. Ein offenes Bekenntnis zur Organisation ist aufgrund der Verbotsverfügung zwar nicht mehr möglich, trotzdem lässt sich eine deutliche Nähe zum Gedankengut verzeichnen. Hier finden sich mitunter Verweise zu offiziellen Websites und vergleichbare Positionen zu Statements der HuT zum aktuellen politischen und gesellschaftlichen Geschehen. Es gibt Posts mit Bildern von Führungspersonen der Organisation und spezifische Begrifflichkeiten, die sich vor allem und fast ausschließlich in den Veröffentlichungen der Hizb ut-Tahrir finden lassen, wie etwa "Wertediktatur" und "Lebensordnung" (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2020a; Möller et al. 2021).

Zwei neue Initiativen, die nach der Verbotsverfügung besonders erfolgreich geworden sind und große Reichweiten erreichen, sind "Realität Islam" (gegründet 2015) und "Generation Islam" (gegründet 2014). Sie richten sich noch immer an die gleiche Zielgruppe, allerdings liegt heute der Fokus weniger auf außenpolitischen Konflikten und der Errichtung eines Kalifats, als vielmehr auf aktuellen Geschehnissen und der politischen und gesellschaftlichen Lage in Deutschland und Europa. Das Internet und die sozialen Netzwerke – YouTube, Facebook und Instagram – stellen einen wichtigen Arbeitsbereich für Propaganda und Anwerbung dar. Hier ließ sich im deutschsprachigen Raum ab 2012 ein deutlicher Anstieg beobachten. Die wichtigsten Sprecher bei Realität Islam sind der Konvertit Suhaib Raimund Hoffmann, dessen Buch zum Leben von Juden und Christen in einem möglichen Kalifat auf der offiziellen Website der Hizb ut-Tahrir beworben wurde, sowie Ali Kil. Relevante Sprecher bei Generation Islam sind Umar Qadir und Ahmad Tamim, bei deren Namen es sich möglicherweise um Pseudonyme handelt.

Vorgehen, Strategien und Attraktivität in den sozialen Netzwerken

Die öffentlichen Figuren der Hizb ut-Tahrir-nahen Initiativen inszenieren sich als authentische und nahbare Vertrauenspersonen, befassen sich mit den Problemen, Bedürfnissen und Belangen vorrangig junger Menschen und sprechen ihre Zuhörerschaft direkt an. Die Prediger sind redegewandt, eloquent und charismatisch. Sie tragen schicke und ordentliche Hemden, Poloshirts und Vollbärte und treten höflich und moderat auf. Sie reagieren mit professionellen Videos und durchdachten Textbeiträgen einerseits auf politisches und gesellschaftliches Zeitgeschehen, indem sie direkt und schnell antworten und Stellung beziehen. Andererseits sprechen sie relevante Themen und Fragen aus dem Alltag von Teenagern an oder widmen sich Themen, die vor allem junge Musliminnen und Muslime interessieren, die sich mit ihrer eigenen religiösen Identität auseinandersetzen. Hier geht es beispielsweise um richtiges Fasten, das Tragen eines Kopftuchs, die Teilnahme am Schwimmunterricht oder islamkonforme Ernährung. Sie antworten damit auf einen Bedarf, der anderswo oft unbeantwortet bleibt.

Die Initiativen fordern, dass sich Musliminnen und Muslime auf ihre "islamische Identität" zurückbesinnen und sich nicht von westlichen Werten, Konzepten und Ideen beeinflussen lassen. Einerseits wird hier eine Gemeinschaft der "wahrhaft Gläubigen" begründet, die eine Identität erzeugt und bereithält. Diese Gruppe ist vermeintlich offen für all diejenigen, die nach ihrer Auffassung in der rassistischen Diskriminierung "des Westens" ausgeschlossen werden: muslimisch gelesene Menschen, People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte. Allerdings wird erwartet, dass sich die Anhängerinnen und Anhänger kompromisslos zur Islam-Interpretation der Hizb ut-Tahrir-nahen Bewegungen bekennen und sich von der "sündigen" Mehrheitsgesellschaft distanzieren. Andererseits werden so natürlich Menschen und Lebensformen, die als ungläubig beschrieben werden – beispielsweise Musliminnen und Muslime, die sich dem nicht unterwerfen wollen oder Menschen anderen Glaubens – aus der Gemeinschaft ausgegrenzt und ihnen werden Rechte abgesprochen. Durch diese Abgrenzung gegenüber den "Anderen" wird die eigene Identität gestärkt, genauso wie das Feindbild des "Westens", gegen das von den Bewegungen Stimmung gemacht wird.

Realität Islam und Generation Islam werden von den deutschen Verfassungsschutzbehörden der Hizb ut-Tahrir und damit dem Islamismus zugeordnet (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2020a). Diese Zuschreibung werten sie als Angriff – als großangelegte Verschwörung des deutschen Staates. Sie argumentieren, der Islam sei – sofern nicht von westlichem Einfluss verfälscht – im Kern politisch und müsse deshalb zwangsläufig auch kompromisslos auf alle Aspekte des Lebens, also auch auf das Rechtssystem und die Gesellschaftsordnung angewandt werden. Die Islamismus-Zuschreibung würde damit zwangsläufig den Islam an sich sowie alle "echten" Musliminnen und Muslime treffen und damit problematisieren und kriminalisieren. Diese Logik ergibt sich aus ihrem Verständnis, als einzige Bewegung der "wahren" unverfälschten Auslegung des Islams zu folgen, zu der alle anderen Musliminnen und Muslime über kurz oder lang zurückkehren würden. Sie gehen von einem dem "Westen" innewohnenden Islamhass aus – eine großangelegte strategische Dämonisierung, die Musliminnen und Muslime einer "Wertediktatur" oder einem "Assimilationsdruck" unterwerfe und sie zähmen und regulieren soll (vgl. Realität Islam 2018). Die Hizb ut-Tahrir-nahen Initiativen inszenieren sich als Antwort darauf, als große Widerstands- und Protest-Bewegung und als Sprachrohr aller Unterdrückten.

Dabei folgen diese Initiativen einer Strategie, die auch in anderen extremistischen Spektren zu beobachten ist: Sie vereinnahmen gezielt gesellschaftlich breit diskutierte, relevante Themen und instrumentalisieren diese für eigene Zwecke und Propaganda. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt die im April 2018 viral gegangene #NichtohnemeinKopftuch-Kampagne dar. Generation Islam griff ein vom nordrhein-westfälischen Integrationsministerium angeregtes Trageverbot des Kopftuchs für Mädchen unter 14 Jahren auf und rief zu einem Twitter-Storm und einer Petition auf, an denen sich jeweils mehrere Zehntausend Menschen beteiligten (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2020a; Institute for Strategic Dialogue 2018, S. 4-7; WDR 2018). Dabei dramatisierten die Initiatoren das Geschehen und verstärkten den Eindruck, dass es sich in diesem Moment um die Meinung der Mehrheitsgesellschaft und Politik handele und nicht um einzelne Positionen. Außerdem ging es ursprünglich um ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren in Schulen und Kindergärten – und auch das war auf den ersten Blick nicht erkennbar. Seitdem wird versucht, vergleichbar erfolgreiche und weitreichende Kampagnen zu realisieren.

Eine ebenfalls erfolgreiche realweltliche Mobilisierung war eine von Generation Islam initiierte Demonstration gegen die Unterdrückung der Uigurinnen und Uiguren, einer turksprachigen muslimischen Minderheit im Nordwesten Chinas. Hier beteiligten sich Anfang 2020 in Hamburg bis zu 2.800 Menschen (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2020a; Landesamt für Verfassungsschutz HH 2020, S. 60).

Im Oktober 2020 rief Generation Islam erneut zu einem Twitter-Storm unter dem Hashtag #StopMacron auf, um die jüngste Politik des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron öffentlich anzuprangern. Sowohl Realität Islam als auch Generation Islam zufolge habe die französische Regierung einen tödlichen islamistischen Angriff auf einen Lehrer ausgenutzt, um ihre Aktionen gegen eine vermeintlich islamfeindliche "Assimilationspolitik" und Hetze voranzutreiben, die letztlich zu Angriffen auf Musliminnen und Muslime führten. Desgleichen bezichtigte Realität Islam kurz darauf den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, der sich zu den terroristischen Anschlägen in Wien im November 2020 äußerte und dem so von ihm bezeichneten politischen Islam, also legalistischem Islamismus, den Kampf ansagte.

Dabei erklären die Bewegungen nicht nur Nicht-Musliminnen und -Muslime zu Feinden, vor allem werteten sie auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ab. So machte Realität Islam ebenfalls im November 2020 Stimmung gegen Saba-Nur Cheema, Politikwissenschaftlerin und pädagogische Leiterin bei der Bildungsstätte Anne Frank. Cheema äußerte sich kritisch zur Instrumentalisierung des Islams für politische Zwecke. Ihr wurde daraufhin von Realität Islam vorgeworfen, sie kriminalisiere Musliminnen und Muslime und würde damit letztlich der "Dämonisierung" des Islams zuarbeiten. In den Kommentaren unter dem Post wurde sie von den Followerinnen und Followern der Initiative einerseits zur Ungläubigen und Verräterin erklärt, andererseits wurde unterstellt, Cheema sei lediglich eine Marionette der "Assimilationsagenda" der deutschen Regierung. Saba-Nur Cheema erhielt zahlreiche Hassbotschaften und Drohungen (Cheema 2020a/2020b; Realität Islam 2020; Sagmeister 2020).

In ihren Postings treten die Sprecher der Initiativen größtenteils seriös und moderat auf und vermeiden eine explizit konfrontative Haltung. Mitunter nutzen sie Zitate beliebter öffentlicher Personen, wie beispielsweise des Fußballspielers Mesut Özil, um Akzeptanz zu erlangen. So sollen Meinungsbildungsprozesse beeinflusst, in aktuelle Diskurse vorgedrungen und ihre Positionen mit nicht-islamistischen Bereichen verknüpft werden. Dafür wird hier versucht, die Grenze zwischen Islamismus und Islam weiter zu verwischen und Diskurse zu verschieben. Für viele derjenigen, die sich diesen oder anderen Kampagnen der Hizb ut-Tahrir-nahen Initiativen angeschlossen haben, unter ihnen auch Personen des öffentlichen Lebens, war dabei nicht klar erkennbar, welche Ideologie und Ziele die dahinterstehenden Gruppierungen verfolgten. Über die Anknüpfung an populäre Themen werden Aufmerksamkeit und Zulauf generiert, vor allem junge Menschen, Musliminnen und Muslime außerhalb der eigenen Szenen können so erreicht werden. Dabei sind die sozialen Netzwerke ein hilfreiches Werkzeug und dienten hier als Mobilisierungsinstrument für realweltliche Aktionen: mit wenigen Initiatoren und relativ geringem Aufwand konnte eine große Außenwirkung erzielt werden und in der Öffentlichkeit wird medienwirksam Präsenz erzeugt. Algorithmen verstärken diese Reichweite oft noch.

Dabei werden Diskriminierungserfahrungen, die viele ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer selbst machen mussten, genutzt, um junge Menschen für eigene Zwecke zu mobilisieren. Die Initiativen positionieren sich zu (antimuslimischem) Rassismus, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Oft werden beispielsweise Angriffe auf Moscheen sowie auf Musliminnen und Muslime weltweit aufgegriffen. Dabei instrumentalisieren Hizb ut-Tahrir-nahe Gruppierungen die Ereignisse als Ausdruck einer der deutschen Gesellschaft und Politik innewohnenden Islamfeindlichkeit. Das Vertrauen in die Mehrheitsgesellschaft soll zerrüttet werden.

Dafür werden in den Postings Konflikte aufgegriffen und oft verschärft, um den Eindruck zu verstärken, Musliminnen und Muslime dürften ihren Glauben nicht frei ausüben. Das so geschaffene Freund-Feind-Schema stilisiert Musliminnen und Muslime zu Opfern der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa. Gleichzeitig wird vermittelt, ein Konflikt zwischen der "wahren" islamischen Gemeinschaft und der "ungläubigen", "westlichen" sei über kurz oder lang unausweichlich. Dafür müssten die "wahren" Musliminnen und Muslime aktiv werden und sich zur Wehr setzen.

Die öffentlichen Debatten rund um den Islam werden zusätzlich von Akteuren aus dem rechtspopulistischen bis rechtsextremen Spektrum mitbestimmt, die ihrerseits hetzen und den Islam als rückständig und barbarisch darstellen. Die Gewalttaten der jeweils anderen Seite – dschihadistisch oder rechtsextremistisch – werden verwendet, um damit die Opfer- oder Feindnarrative zu unterfüttern. Realität Islam und Generation Islam distanzieren sich von terroristischer Gewalt und sehen sie auch nicht mit dem Islam vereinbar, werten sie aber mitunter als Antwort auf den wahrgenommenen Islamhass "des Westens" oder wie im Fall Cheema ermutigen sie implizit zu Hass und Gewalt. Die Initiativen müssen sich diesbezüglich durchdacht positionieren, da sonst Repressionen des Sicherheitsapparats drohen und ihre Profile in den sozialen Netzwerken gelöscht werden.

Anwerbung, Organisation und Vorgehen im Offline-Bereich

Vor allem Realität Islam ist auch offline aktiv und machte in den vergangenen Jahren neben den genannten Protesten auch mit Flugblättern und Aktionen in Fußgängerzonen auf sich aufmerksam, beispielsweise in Hamburg, Berlin und im Rhein-Main-Gebiet. Die Initiative organisiert zudem Themenabende und Veranstaltungen in ihren eigenen Räumlichkeiten in Südhessen. Sie finanzieren diese Arbeit wahrscheinlich aus eigenen Mitteln und Spenden (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Hessen 2020, S. 231; Hentschke 2018).

Ebenfalls zu beobachten waren Ansprachen und versuchte Annäherungen an Menschen vor Jugendzentren, Moscheegemeinden und Verbänden, Schulen und Universitäten durch Hizb ut-Tahrir-nahe Personen (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz HH 2020, S. 56-60; Landesamt für Verfassungsschutz Hessen 2020, S. 230 f., 236 f.). Unterbreitet wurden außerdem Freizeitangebote wie Feste, und gemeinsame sportliche Aktivitäten. Ein anschauliches Beispiel ist hierfür der 2016 von Mitgliedern der Hizb ut-Tahrir gegründete und 2019 aufgelöste Fußballclub Adil e. V., über den in Hamburg-Wilhelmsburg Kontakte geknüpft werden sollten.

Für Menschen aus sozial weniger privilegierten Umfeldern spielt zudem ganz praktische Unterstützung eine Rolle, etwa in Form von Essenseinladungen oder indem Teilhabe an Freizeitaktivitäten wie einem Schwimmbadbesuch ermöglicht wird. Solche Angebote ermöglichen einerseits eine freundschaftliche Kontaktaufnahme zu potenziellen neuen Anhängerinnen und Anhängern und so die Möglichkeit, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Andererseits sind sie auch immer verbunden mit Missionsarbeit, ideologischem Einfluss und politischer Gesinnung (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz HH 2020, S. 56-60; Hentschke 2018; ufuq.de 2019).

Dabei sind Generation Islam und Realität Islam im Gegensatz zur früheren Hizb ut-Tahrir eher Bewegungen, deren Ziel es ist, ihre Ideologien zu verbreiten und Menschen zu erreichen. Erst im Anschluss geht es darum, den Mitgliederstamm zu erweitern. Bei der Hizb ut-Tahrir ist auch aufgrund des Verbots die Aufnahme aufwendig, umfasst Auswahlverfahren und erst dann die Einführung in kleinere Kreise. Erst nach einem Vertrauensaufbau werden den potentiellen neuen Mitgliedern Verbindungen zur Hizb ut-Tahrir offenbart. Die Mitglieder treffen sich oft in Privaträumen, wo auch Schulungszirkel stattfinden (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg 2020, S. 56-60).

Die ursprüngliche Hizb ut-Tahrir arbeitet wenig mit anderen islamistischen Gruppierungen zusammen, weil die jeweils andere Auslegung und Umsetzung des Islams kritisiert wird. Ihre Mitglieder sind in den meisten Moscheen zudem unerwünscht. Trotzdem geben sich die Hizb ut-Tahrir-nahen Initiativen offen für andere Gruppierungen, und auch Überschneidungen hinsichtlich ihres Vorgehens ließen sich nachzeichnen. Vor allem im Online-Bereich bedienen sich verschiedene Bewegungen ähnlicher Themen und Methoden und sind damit attraktiv für viele junge Menschen. So folgen ihre Fans oft ganz verschiedenen Ideologien, Gruppierungen und Predigern.

Herausforderungen und möglicher Umgang damit

Die Hizb ut-Tahrir ist keine besonders große Gruppierung, aber die Initiativen erreichen neue und vor allem junge Zielgruppen. Da sie ihre Ideologien und Ziele weitgehend verschleiern und nicht direkt als islamistisch erkannt werden, fällt es ihnen leichter, Kontakte zu knüpfen und Akzeptanz zu finden. Es kann eine breite Einflussnahme auf Gesellschaft und Politik stattfinden und öffentliche Diskurse werden mitbestimmt. Dabei lehnen sie ein pluralistisches Gesellschaftsbild genauso ab, wie einen vielfältig gelebten Islam. Sie säen Zwietracht, predigen unüberwindbare kulturelle Gräben, schaffen Feindbilder und rufen ihre Anhängerschaft dazu auf, sich von der "ungläubigen" Mehrheitsgesellschaft zu distanzieren. So ermöglichen sie auch kognitive Öffnungen für gewaltbejahende Ideologien. Es ist möglich, dass sich einzelne Anhängerinnen und Anhänger letztlich militanteren Gruppierungen zuwenden, sollten sie den gewaltverzichtenden Ansatz irgendwann als unzureichend zur Umsetzung ihrer Agenda empfinden. Die größere Herausforderung aber sind die langfristigen, gesellschaftlichen Wirkungen, die von ihnen ausgehen.

So ist es umso wichtiger, dass verschiedene Stellen der Jugend- und Kulturarbeit präventiv tätig werden. Junge Menschen können dabei unterstützt werden, sich mit ihrer eigenen Religiosität, ihrer Identität und ihren Werten reflektiert auseinanderzusetzen, um für Anwerbung und Propaganda immun zu sein. Die Hizb ut-Tahrir-nahen Initiativen kritisieren real existierende Probleme und sind unter anderem deswegen so erfolgreich, weil es mitunter Lücken in der Jugend- und Sozialarbeit gibt. Außerdem sind Antidiskriminierungsstrukturen, Unterstützung und ein Umgang mit legitimer Gesellschaftskritik an anderer Stelle, wie beispielsweise in Schulen, vielerorts noch unzureichend.

Grundlegend ist außerdem die Stärkung einer integrativen Gesellschaft und einer deutsch-muslimischen Identität, damit es den Initiativen an Futter für ihre Propaganda fehlt. Hilfreich für eine "Immunisierung" können an dieser Stelle Moscheegemeinden oder Jugendgemeinden mit alternativen Bildungs- und Freizeitangeboten und islamischer Religionsunterricht an Schulen sein. Hier können Identitätsangebote gemacht werden, junge Menschen können Zugehörigkeit und Teilhabe erfahren, gestärkt und begleitet werden.

Junge Menschen können in kommunikativen und sozialen Kompetenzen geschult werden, ebenso wie in Medien- und Digitalkompetenz. So können sie sich selbst ein kritisches Bild über religiöse Angebote in den sozialen Netzwerken machen. Auch für Mitarbeitende in Feldern der Jugendarbeit und Beratungsstellen sowie für das soziale Umfeld ist es von Vorteil, entsprechende Bewegungen, verschleiernde Strategien und Manipulationsmechanismen, Propaganda und Narrative zu erkennen. Hierfür werden von Präventions- und Beratungsstellen Workshops und Schulungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren angeboten. Zudem sind islamistische Gruppierungen jenseits des Salafismus und im Online-Bereich regelmäßig Thema bei öffentlichen Fachtagen (vgl. BAG RelEx 2018).

Tertiärprävention, die direkte Arbeit mit bereits radikalisierten Einzelpersonen, spielt eine untergeordnete Rolle: Es melden sich nahezu keine potentiellen Aussteigerinnen und Aussteiger dieser Szenen. Einige Beratungsnehmerinnen und -nehmer sind zuvor aber mit den neuen Initiativen in Kontakt gekommen und folgen beispielsweise den Profilen in den sozialen Medien. Universelle Beratungsangebote gegen religiös begründeten Extremismus decken dieses Feld bei Bedarf aber ebenfalls ab.

Da die Initiativen vor allem in den sozialen Medien aktiv sind, erscheinen Onlinepräventions- oder Beratungsstellen sinnvoll, da sie möglicherweise radikalisierte Personen direkter erreichen. Zu nennen ist hier etwa das Projekt streetwork@online von AVP e. V., das einen aufsuchenden Sozialarbeitsansatz in den sozialen Netzwerken verfolgt. Ebenfalls erfolgreich zeigen sich alternative Narrative oder Gegenbotschaften (counter narratives). In diesem Bereich arbeiten beispielsweise turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention mit dem Projekt Interner Link: Jamal Al-Khatib oder Violence Prevention Network mit dem Projekt Externer Link: islam-ist.de. Das Löschen von problematischen Postings wäre dagegen eher kontraproduktiv, da eine Demokratie einerseits auch unbequeme Positionen aushalten muss und da andererseits das Opfernarrativ durch den Vorwurf von Zensur gestärkt wird.

Die Hizb ut-Tahrir unterliegt einer Verbotsverfügung, ihre Ideologie wird aber in den neuen Initiativen fortgesetzt. Da diese ihre Lehren ohne Gewalt verbreiten und sich nur legalistischer Mittel bedienen, scheint die Gefahr, die von ihnen ausgeht, zunächst geringer als die der konkreten Bedrohung durch militante salafistische Strömungen. Die Auseinandersetzung mit ihnen könnte daher als zweitrangig gesehen werden. Aber gerade aufgrund der mitreißenden Aktivitäten und relevanten Themen sowie der nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Einflussnahme und ihres verschleiernden Auftretens, bedarf es hier nicht nur den Fokus der Sicherheitsbehörden, sondern auch Unterstützung und Stärkung (primär) präventiver Maßnahmen.

Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "'Legalistischer' Islamismus".

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Hanna Baron ist Islamwissenschaftlerin und derzeit wissenschaftliche Begleitung der Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus "PROvention" der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Außerdem ist sie Mitglied beim wissenschaftlichen Verbund zum "Forschung-Praxis-Transfer islamistischer Extremismus" (FoPraTEx). In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit gewaltverzichtenden, sogenannten legalistischen islamistischen Gruppierungen in Deutschland, mit Online-Propaganda sowie mit sexualisierter Gewalt und Geschlechterrollen im Islamismus.