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Die salafistische Szene in Deutschland

Ulrich Kraetzer

/ 19 Minuten zu lesen

Die salafistische Szene ist die am schnellsten wachsende Strömung des radikalen Islam in Deutschland. Ihre Anhänger vertreten eine verfassungsfeindliche Ideologie, und ein Teil von ihnen wendet Gewalt an. Das Milieu ist aber sehr heterogen. In weiten Teilen ist die Szene weniger von der salafistischen Ideologie geprägt, sondern eher als subkulturell geprägte Jugendbewegung zu begreifen.

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Ende März 2018 schätzte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Zahl der Salafisten in Deutschland auf 11.000. Im Jahr 2011 hatte die Behörde der Szene noch rund 3.800 Anhänger zugerechnet, im Jahr 2013 waren es bereits 5.500. Auch Beobachter außerhalb der Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Szene seit etwa 10 bis 15 Jahren erheblichen Zulauf hat. Die Zahlen sollten dennoch mit Vorsicht betrachtet werden. Denn Experten weisen darauf hin, dass die 2011 veröffentlichte Zahl womöglich deutlich zu niedrig angesetzt war, weil den Behörden damals keine ausreichenden Informationen über die salafistische Szene vorlagen. Der Anstieg der veröffentlichten Zahlen könnte also auch seinen Grund darin haben, dass die Behörden möglicherweise nur genauer hinschauen und daher mehr Anhängerinnen und Anhänger als solche identifizieren. Vor allem aber ist die Zugehörigkeit zur salafistischen Szene nicht leicht zu definieren. Denn die Bewegung hat keine Vereinssatzung und kennt keine Mitgliederlisten. Die Frage, wer als "Salafist" beziehungsweise als "Salafistin" bezeichnet werden kann, bleibt eine Frage der Definition.

Aktuelle Zahlen Die islamistische Szene in Deutschland

Die islamistische Szene in Deutschland umfasste laut Bundesamt für Verfassungsschutz 27.480 im Jahr 2022 Personen. Diese lassen sich verschiedenen Gruppierungen zuordnen. Circa 11.000 Personen bundesweit rechnet der Verfassungsschutz dem Salafismus zu. Im Jahr 2011 waren es schätzungsweise 3.800 Personen. Die Millî Görüş-Bewegung und ihr zugeordnete Vereinigungen kommen auf rund 10.000 Personen. Der Muslimbruderschaft (MB)/Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) werden 1.450 Personen zugerechnet und Hizb ut-Tahrir 750 Personen (Stand Juni 2023).

Mehr: Interner Link: Personenpotenzial, Gefährder, Ausreisen und Rückkehrer

Was kennzeichnet den Salafismus?

Die Menschen, die in der öffentlichen Debatte oder von den Sicherheitsbehörden als Salafisten bezeichnet werden, lehnen diese Zuschreibung zudem meist ab, nicht zuletzt weil der Begriff "Salafismus" in Deutschland sehr negativ besetzt ist. Sie bezeichnen das Wort "Salafist" daher gerne als "eine Erfindung der Medien".

Allerdings verwenden sie mitunter die arabischen Bezeichnungen salafi oder ahl as-sunna wa-l-jamaa. Salafi bedeutet frei übersetzt: Nachfolger der Gefährten des Propheten Mohammed. Ahl as-sunna wa-l-jamaa bedeutet, ebenfalls frei übersetzt, Gemeinschaft von Menschen, die sich nach den Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammed richten. Meist kokettieren die Menschen, um die es in der öffentlichen Debatte über "Salafismus" geht, aber mit der Behauptung, "einfach nur Muslime" zu sein.

In den zentralen Punkten der Glaubenslehre stimmen die Anhängerinnen und Anhänger der salafistischen Szene in Deutschland weitgehend überein. Wie praktisch alle streng gläubigen Muslime sind sie der Überzeugung, dass die Menschen nur Allah als ihren Schöpfer und Gebieter akzeptieren dürfen und seinen Geboten und Verboten bedingungslos folgen müssen.

Jedoch dürfen nach Ansicht der Salafisten der Koran und die Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammed (sunna) nicht im übertragenen Sinn verstanden und nicht mit den Mitteln der menschlichen Vernunft interpretiert werden. Salafisten betrachten die Texte vielmehr als eine im Wortsinne zu verstehende Bedienungsanleitung für die persönliche Lebensführung.

Zudem sehen sie darin ein ideales Regelwerk für die Organisation von Staat und Gesellschaft, das den "von Menschen gemachten Gesetzen" überlegen ist. Das Recht, Gesetze zu erlassen, hat demnach nur Gott. Zum Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie, dem Prinzip der Volkssouveränität, steht dieses Glaubensverständnis mindestens in einem starken Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in einem unauflösbaren Widerspruch. Dies ist der wohl wichtigste Grund, warum ein Teil der salafistischen Szene vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Salafisten orientieren sich vorgeblich am Lebensstil des Propheten Mohammed, verklären die Frühzeit des Islam und nehmen in Anspruch, zurück zu den Wurzeln der Religion zu wollen. Entwicklungen der islamischen Religionsgeschichte lehnen sie als verbotene "Neuerungen" (bida) ab. Sie erheben den Anspruch, dass ihr Verständnis des Islam das einzig legitime ist. Damit versuchen sie, die äußerst heterogene Religion des Islam für sich zu vereinnahmen. Durch ihren Exklusivitätsanspruch werten sie nicht nur andere Glaubensgemeinschaften ab, sondern auch die große Mehrheit der Muslime, die den Islam anders interpretieren als sie selbst.

Anhängerschaft und Struktur der Szene

Die Frage, wie viele Jugendliche in Deutschland dafür anfällig sind, sich der Szene anzuschließen, lässt sich nicht verlässlich beantworten. Mitarbeiter von Beratungsprojekten berichten, dass die Anhänger der Bewegung aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen. Der überwiegende Teil ist männlich, etwa zwischen 16 bis 28 Jahre alt. Die meisten kommen aus muslimisch geprägten Familien, es gibt aber auch Konvertiten mit und ohne Migrationshintergrund und Personen aus bikulturellen Elternhäusern.

Unter den Syrien-Ausreisern gibt es überproportional viele Jugendliche aus bildungsfernen Einwandererfamilien, von denen etwa die Hälfte bereits vor ihrer Radikalisierung eine (klein-) kriminelle Karriere hinter sich hatte. Das ergab eine Auswertung des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Grundsätzlich scheinen Jugendliche in Lebenskrisen anfällig zu sein, die nach Identität und Gemeinschaft suchen, deren Familienverhältnisse gestört sind und/oder die das Gefühl haben, in der Gesellschaft oder im persönlichen Umfeld nicht akzeptiert zu sein. Radikalisierungsexperten berichten, dass oft weniger die Ideologie ausschlaggebend ist, sondern das Gefühl, in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten Aufwertung und Identität zu erfahren. Empirische wissenschaftliche Studien gibt es hierzu bislang nicht (Stand Oktober 2018).

Besonders starke salafistische Strukturen gibt es in städtischen Ballungsräumen, etwa in Berlin, Hamburg, Bremen, Frankfurt am Main oder Braunschweig. Als Hochburg gilt Nordrhein-Westfalen, vor allem der Raum Köln-Bonn. Deutlich weniger Anhänger als in den Ländern der alten Bundesrepublik hat die salafistische Szene im Osten der Republik, mit der Ausnahme von Berlin und Leipzig. Anders als oft angenommen werden die Prediger und Gruppen der deutschen Salafisten-Szene nicht aus dem Ausland gesteuert, sondern agieren autonom. Einrichtungen aus Saudi-Arabien, dem Mutterland der Ideologie, versorgen sie zwar kostenlos mit Publikationen salafistischer Gelehrter. Ansonsten decken sie ihre geringen Ausgaben aber eigenständig und durch Spenden von Einzelpersonen. Die Missionierung (dawa) erledigen die "einfachen" Anhänger ebenso unentgeltlich wie es in aller Regel die Wortführer der Szene tun.

Die intellektuellen Fähigkeiten und die religiösen Kenntnisse der Prediger sind sehr unterschiedlich. Einige haben in arabischen Ländern islamische Theologie studiert, etwa der Braunschweiger Muhamed Ciftci in Saudi-Arabien. Die meisten sind aber Autodidakten, die ihr "Wissen" aus dem Internet bezogen haben und denen niemand eine Lehrerlaubnis erteilt hat. In den Medien und der öffentlichen Debatte stehen die Salafisten wegen ihrer teils demokratiefeindlichen Ansichten und der Gewaltfrage aus nachvollziehbaren Gründen besonders im Fokus. Im Verhältnis zu den rund vier Millionen Muslimen in Deutschland sind sie, trotz bislang steten Zulaufs, noch immer eine verschwindend kleine Minderheit. Auch die etablierten muslimischen Verbände (Ditib, VIKZ, Islamrat, Zentralrat der Muslime) gehen auf deutliche Distanz zu ihnen. Zum Beispiel beteiligten sich im September 2014 unter anderem der Islamrat und der Zentralrat der Muslime an einem bundesweiten Aktionstag gegen Extremismus und islamistische Gewalt. Allerdings wird immer wieder einzelnen muslimischen Organisationen Nähe zu islamistischen Strömungen vorgeworfen, und es gibt Stimmen, die von den etablierten Verbänden ein noch stärkeres Engagement gegen Extremismus fordern.

Vielfältige Strömungen, fließende Grenzen

Trotz der gemeinsamen Überzeugungen ihrer Anhänger ist die salafistische Bewegung alles andere als homogen. Das gilt sowohl für die Szene in Deutschland als auch international. Bei der Frage, wie das salafistische Verständnis der Glaubenslehre (aqida) in Deutschland in die Praxis umgesetzt werden sollte, kommen Anhänger der Szene zu sehr unterschiedlichen Antworten. Eine zentrale Frage ist dabei das Verhältnis zur Gewalt, die innerhalb der Szene umstritten ist.

Fachleute aus der Islamwissenschaft, den Sicherheitsbehörden und aus der Radikalisierungsforschung haben viele Versuche unternommen, die Szene zu untergliedern. Die Kategorisierung in diesem Aufsatz orientiert sich, mit leicht anderen Begrifflichkeiten, im Wesentlichen an einer Einteilung der Islamismusexpertin Claudia Dantschke vom Berliner Zentrum Demokratische Kultur. Demnach lässt sich die salafistische Szene aufgrund unterschiedlicher Haltungen zu politischen Aktivitäten und zur Gewalt in vier Strömungen einteilen: in puristische, politisch-missionarische, dschihadistisch-missionarische und dschihadistische Salafisten.
Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Zuordnung zu diesen Kategorien ausnahmslos um Fremdzuschreibungen handelt. Denn zum Selbstverständnis von Salafisten gehört es, dass es keine unterschiedlichen Interpretationen des Islam geben kann.

Diese Untergliederung ist ein Versuch, die Strömungen der salafistischen Szene greifbar zu machen. Die Grenzen sind jedoch fließend. In Gerichtsverhandlungen und durch journalistische Recherchen wurde zum Beispiel deutlich, dass Szeneanhänger, die zunächst dem politisch-missionarischen Spektrum zuzuordnen waren, sich zu dschihadistischen Salafisten radikalisiert haben und als selbst ernannte "Gotteskrieger" in ein Kriegsgebiet gereist sind.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich die Unterteilung zwischen politisch-missionarischen und dschihadistisch-missionarischen Salafisten, die von vielen Beobachtern der Szene betont wird, nie zu eigen gemacht. Das Amt subsumiert sie unter der Bezeichnung "politische Salafisten".

Puristische Salafisten

Als puristisch bezeichnete Salafisten (andere Autoren nutzen die Begriffe quietistisch, moderat oder gemäßigt) konzentrieren sich darauf, die vermeintlichen oder tatsächlichen Gebote und Verbote Allahs in ihrer persönlichen Lebensführung einzuhalten. Sie beschränken sich in der Regel und sinnbildlich gesprochen darauf, den Koran auswendig zu lernen, lange Gewänder und einen Bart zu tragen, fünfmal am Tag zu beten und die Zähne möglicherweise ausschließlich mit einem Holzstäbchen zu reinigen.

In individuell-psychologischer Hinsicht mag die ausschließliche Orientierung am vermeintlichen Lebensstil des Propheten Mohammed bedenklich sein – etwa wenn die Fixierung auf die Einordnung aller Dinge und Tätigkeiten in halal (erlaubt) und haram (verboten) manische Züge annimmt und in einer permanenten Angst vor der Hölle mündet. Im innerfamiliären Bereich kann sie zudem zu einer Einschränkung individueller Freiheitsrechte führen.

Aus gesellschaftspolitischer Sicht sind puristische Salafisten jedoch eher unproblematisch, solange sie ihre Ansichten für sich behalten. In der öffentlichen Debatte werden sie kaum wahrgenommen.

Politisch-missionarische Salafisten

Szene-Anhänger, die von Sicherheitsexperten und Beobachtern sowie in der wissenschaftlichen Debatte als "politisch" oder "missionarisch" bezeichnet werden, sorgen dagegen regelmäßig für Schlagzeilen. Sie wollen die salafistische Interpretation der Gebote und Verbote Allahs nicht nur als Richtschnur für die persönliche Lebensführung etablieren. Sie treten vielmehr aktiv dafür ein, eine Staats- und Gesellschaftsordnung zu errichten, in der das salafistische Verständnis des islamischen Rechtssystems gilt, also eine extremistische Interpretation der Scharia. Dafür nutzen sie die Mittel, die in der gegebenen Gesellschaftsordnung erlaubt sind – zum Beispiel Demonstrationen, Veröffentlichungen in den Medien oder Teilnahme an Wahlen.

Dieses Ziel verfolgen sie nicht mit Gewalt. Sie wollen vielmehr möglichst viele Menschen zu ihrem Islam-Verständnis bekehren, so dass diese die angestrebte, vermeintlich islamische Gesellschaft aus eigenem Antrieb etablieren. Im Zuge dieser als dawa bezeichneten Missionierung betreiben Anhänger des politisch-missionarischen Teils der Szene beispielsweise Informationsstände in Fußgängerzonen und sie veranstalten oder besuchen sogenannte Islamseminare beziehungsweise "Benefizveranstaltungen" für Syrien. Diese lassen sich für Außenstehende teilweise nur schwer von nicht-salafistischen Initiativen unterscheiden.

Im Zuge der fortschreitenden Bedeutung des Internets und der zunehmend repressiven Haltung von Staat und Gesellschaft beschränken sich politisch-missionarische Salafisten mittlerweile vermehrt darauf, auf lokaler oder regionaler Ebene zu agieren. Außerdem ist seit einigen Jahren eine zunehmende Verlagerung der Propagandatätigkeit in soziale Netzwerke zu beobachten. Ihre Haltung, der zufolge die Scharia dem Grundgesetz und der Demokratie überlegen ist, tragen politisch-missionarische Salafisten offen zur Schau. Sie rufen ihre Anhänger dennoch nicht dazu auf, deutsche Gesetze zu verletzen oder raten ihnen sogar deutlich, sich an die hiesige Rechtsordnung zu halten. Denn auch der Prophet Mohammed habe die weltlichen Gesetze beachtet und nicht gegen die "unislamischen" Führer in Mekka rebelliert, bevor er in Medina das erste islamische Gemeinwesen unter den "Gesetzen Allahs" begründete. Die meisten deutschen Gesetze würden den Geboten und Verboten der Scharia zudem nicht widersprechen. Politisch-missionarische Salafisten werden also nicht automatisch zu Straftätern. Indem sie die "von Menschen gemachten Gesetze" öffentlich und propagandistisch als illegitim bezeichnen, agitieren sie aber gegen die Demokratie.

Als bekanntester Vertreter politisch-missionarischer Salafisten kann der in Nordrhein-Westfalen aufgewachsene Prediger Pierre Vogel gelten. Mittlerweile hat der einstige Szene-Star seinen Status als unumstrittene Führungsfigur der Szene längst verloren. Doch sein Beispiel veranschaulicht, wie manche Akteure der Szene agieren und sich positionieren, insbesondere beim Verhältnis zur Gewalt. Der einstige Profiboxer Vogel konvertierte 2001 zum Islam, besuchte einige theologische Seminare in Saudi-Arabien und avancierte in Deutschland zum Aushängeschild und zeitweise wichtigsten Propagandisten der Salafisten-Szene. Mit mal unterhaltsamen, mal provozierenden Vorträgen erreichte er bei Open-Air-Veranstaltungen zwischen 2010 und 2011 jeweils bis zu 1.500 Zuhörer. In seinen Ansprachen und Video-Botschaften greift Vogel die Lebenswirklichkeit seiner meist jugendlichen Sympathisanten auf und bettet diese in die salafistische Ideologie ein.

Das Verhältnis politisch-missionarischer Salafisten zu religiös begründeter Gewalt ist oft uneindeutig. Pierre Vogel beispielsweise hat Terroranschläge gegen Zivilisten wiederholt verurteilt. Er begründet seine Haltung mit seiner Interpretation des Koran und mit Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammed. Vor allem aber warnt er davor, dass Muslime nach islamistischen Terroranschlägen mit zunehmenden Repressionen rechnen müssten, sie selbst also den größten Schaden davontragen würden. Das Leiden nicht-muslimischer Opfer und ihrer Angehöriger thematisiert Vogel dagegen kaum oder gar nicht. Mehrdeutig ist auch Vogels Haltung zum bewaffneten Kampf dschihadistischer Gruppen in islamisch geprägten Krisengebieten wie Afghanistan, Irak oder Syrien. Es gebe einen Unterschied zwischen Terrorismus und Freiheitskampf, sagte der Prediger bereits 2010. Die Aussage wirkt unverfänglich. Vogel schafft damit jedoch eine argumentative Grundlage, auf der sich terroristische Gewalt als "Freiheitskampf" legitimieren lässt.

Eine eindeutige Haltung zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) hat Vogel lange vermieden, vorgeblich weil er sich angesichts einer angeblich unklaren Informationslage kein Urteil erlauben könne. Später distanzierte er sich dann doch vom "IS". Danach erklärten ihn radikalere Anhänger der Szene zum Ungläubigen. Im April 2015 und erneut im März 2016 veröffentlichte der "IS" in einem Propagandamagazin sogar einen Aufruf, Vogel zu töten, weil er ein Abtrünniger sei.

Dschihadistisch-missionarische Salafisten

Eindeutiger als politisch-missionarische Salafisten verhalten sich die Anhänger des dschihadistisch-missionarischen Flügels. Ihre Wortführer achten in ihren Ansprachen zwar darauf, die Grenzen des strafrechtlich Zulässigen nicht zu überschreiten. Ihre selektive Lesart der heiligen Texte und ihre einseitige Darstellung politischer Konflikte in islamisch geprägten Ländern lassen aber erkennen, dass sie der Sichtweise dschihadistischer Gelehrter aus arabischen Ländern folgen, die den bewaffneten "Heiligen Krieg" als individuelle Glaubenspflicht eines jeden Muslim betrachten. Zu diesem Flügel gehörte die mittlerweile verbotene Gruppierung „Die wahre Religion“, wichtige Akteure sind die Prediger beziehungsweise Propagandisten Ibrahim Abou-Nagie, Said El-Emrani (alias Abu Dujana) und Ibrahim Belkaid (alias Abu Abdullah).

Abou-Nagie, der einstige organisatorische Kopf der Gruppe, wurde als Initiator der mittlerweile verbotenen salafistischen Kampagne "Lies!" auch außerhalb der Szene bekannt. Dabei verteilten Anhänger der Salafisten-Szene in Fußgängerzonen und an öffentlichen Plätzen kostenlose Korane in der deutschen Übersetzung.

Für sich genommen wäre die Aktion legal, von der Religionsfreiheit gedeckt und unproblematisch. Die "Lies"-Kampagne diente jedoch der Kontaktaufnahme und Anwerbung war ein möglicher erster Schritt eines Radikalisierungsprozesses für einige spätere Dschihadisten. So stellten das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2016 in einer Auswertung fest, dass 24 Prozent der aus Deutschland nach Syrien ausgereisten Dschihadisten zuvor Kontakt mit der "Lies!"-Kampagne hatten.

Als Konsequenz hat der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Gruppierung "Die wahre Religion" und die Stiftung "Lies!" im November 2016 verboten. Mit "dem Koran in der Hand" würden "Hassbotschaften und verfassungsfeindliche Ideologien verbreitet und Jugendliche mit Verschwörungstheorien radikalisiert", sagte de Maizière zur Begründung des Verbots. Im Verhältnis zum politisch-missionarischen Flügel hat die dschihadistisch-missionarische Strömung seit etwa 2012 an Bedeutung gewonnen. Ein Grund ist, dass Prediger wie Pierre Vogel und ihre Gefolgsleute nach einer zwischenzeitlichen Distanzierung wieder mit der Gruppe "Die wahre Religion" zusammenarbeiteten, welche Gewalt legitimiert.

Dschihadistische Salafisten

Während die hier als dschihadistisch-missionarisch bezeichneten Salafisten den bewaffneten "Heiligen Krieg" nur verbal legitimieren, üben dschihadistische Salafisten reale Gewalt aus. Sie lassen sich zum Beispiel in ausländischen Terrorcamps ausbilden oder kämpfen an der Seite von Terrorgruppen gegen "die Ungläubigen". Einige legitimieren, planen oder verüben auch Anschläge gegen Zivilisten außerhalb von Kriegsgebieten, etwa in den USA oder in Europa.

Eine wichtige Scharnierfunktion zwischen dem dschihadistisch-missionarischen und dem dschihadistischen Lager hatte die militant-islamistische Kameradschaft "Millatu Ibrahim" (Gemeinschaft Abrahams). Anführer der im Herbst 2011 gegründeten Gruppe waren der in Österreich aufgewachsene Mohamed Mahmoud (alias Abu Usama al-Gharib) und der Berliner Denis Cuspert (alias Abu Talha al-Almani). Mahmoud war 2008 in Wien zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er Terrorpropaganda verbreitet hatte. Nach seiner Entlassung reiste er nach Berlin und tat sich dort mit dem Kreuzberger Denis Cuspert zusammen. Cuspert wuchs in schwierigen Verhältnissen auf und war schon vor seiner Islamistenkarriere mehrfach vorbestraft. Nach einer bescheidenen Karriere als Gangster-Rapper "Deso Dogg" avancierte er ab 2009 zu einem der radikalsten öffentlich auftretenden Wortführer des Salafistenmilieus, der sich 2012 dem "IS" in Syrien anschloss.

Dank seiner kriminellen Vergangenheit, seiner einfachen Sprache und seiner religiös verbrämten A-capella-Gesänge (anashid, Einzahl: nashid) gelang es Cuspert, Jugendliche aus bildungsfernen Schichten anzusprechen, die sich für theoretische Diskurse und stundenlange Vorträge, wie sie etwa unter puristischen und auch politisch-missionarischen Salafisten üblich sind, nie interessiert hätten. Statt den Koran zu rezitieren und Aussprüche des Propheten Mohammed auswendig zu lernen, perfektionierten sie die Internetpropaganda und produzierten aufwendige Videoclips mit Sound- und visuellen Effekten. Dabei nutzten sie jugendtypische Symbole und prägten eine subkulturelle Jugendbewegung. Dieser geht es weniger um religiöse oder ideologische Inhalte, sondern um einfache Parolen und die Möglichkeit, individuellen Frust innerhalb einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten abzubauen.

Beobachter bezeichnen die von "Millatu Ibrahim" geprägte Entwicklung denn auch als "Hooliganisierung" oder "Verproletarisierung" der Szene und sprechen von einer Bewegung des "Pop-Dschihad". Der typische Salafisten-Look früherer Tage ist in diesem Teil des Milieus kaum noch zu sehen. Das lange weite Gewand (jalabiya) ist der Tarnfleckjacke gewichen, das Häkelkäppi der Militärmütze.

Die Komplexität der äußerst heterogenen Weltreligion des Islam ist den meisten Anhängern des Salafismus in all ihren Ausprägungen ohnehin weitgehend unbekannt. Mit dem Aufstieg des "Pop-Dschihad" und der zunehmend bildungsferneren Anhängerschaft des radikalen Randes der Szene hat selbst die salafistische Ideologie an Bedeutung verloren. Im Vordergrund steht hier vielmehr das allenfalls noch vorgeblich religiös legitimierte Ausleben von Aggression und Gewalt.

Diese bis heute anhaltende Entwicklung zeigte sich bereits im Mai 2012. Nachdem Anhänger der islamfeindlichen Partei Pro NRW mit dem öffentlichen Zeigen von Mohammed-Karikaturen provoziert hatten, zettelten Anhänger von "Millatu Ibrahim" in Solingen und Bonn regelrechte Straßenschlachten an. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ließ die Gruppe wenig später verbieten. Cuspert und Mahmoud reisten daraufhin mit etlichen Gefährten über Umwege nach Syrien. Cuspert stieg dort zum wichtigsten Propagandisten des "IS" für den deutschsprachigen Raum auf. Videos zeigen ihn bei Leichenschändungen. In den Medien kursierten mehrfach Todesmeldungen über Cuspert, die später widerrufen werden mussten. Die Sicherheitsbehörden gehen allerdings davon aus, dass er im Januar 2018 in der Nähe des syrischen Stadt Gharanji tatsächlich getötet wurde. Über den Verbleib von Mohamed Mahmoud liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor.

Der Bürgerkrieg in Syrien und die Frage der Gewalt

Der Bürgerkrieg in Syrien führte zu einer Radikalisierung der Szene in Deutschland und verstärkte bei vielen Anhängern das Gefühl, ihren syrischen Glaubensbrüdern im Kampf gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad zur Seite stehen zu müssen. Während Gräuelbilder von Opfern des Assad-Regimes für salafistische Propaganda genutzt wurden, wurden Gräueltaten dschihadistischer Gruppen entweder ausgeblendet oder in der Propaganda des sogenannten IS als Machtdemonstration gezielt inszeniert.

Anhänger der Salafisten-Szene, die bis dahin eher dem politisch-missionarischen Teil der Szene zuzuordnen waren, fanden somit Anschluss an die Argumentationslinien dschihadistischer Salafisten. Diese deuten weltweite Konflikte, an denen Menschen muslimischen Glaubens beteiligt sind, in aller Regel als einen "Angriff auf den Islam" um. Der bewaffnete Dschihad ("Heiliger Krieg") wird in diesen Fällen als individuelle Pflicht für alle Muslime erachtet.

Wie diffus die Haltung mancher Szene-Akteure zur Gewaltfrage ist und wie durchlässig die Grenzen zwischen den Strömungen der Szene sind, zeigt das Beispiel des Propagandisten Sven Lau, der vor allem im Raum Mönchengladbach wirkte.

Lau, ein deutscher Konvertit ohne Migrationshintergrund, galt und gilt als enger Weggefährte Pierre Vogels und konnte als typischer Vertreter des politisch-missionarischen Teils der Szene gelten. Für Aufsehen auch außerhalb der Szene sorgte er im Herbst 2014, als er seine Gefolgsleute in Wuppertal mit orangefarbenen Westen mit der Aufschrift "Shariah-Police" patrouillieren ließ. Gewalt und Terror lehnte Lau zunächst nicht nur in öffentlichen Statements gegenüber den Medien ab, sondern auch im Kreis seiner Anhänger. Im Zuge des Syrien-Krieges radikalisierte er sich allerdings zusehends. Der Generalbundesanwalt warf ihm vor, die Terrorvereinigung Externer Link: Jaisch al-Muhadjirin wal-Ansar (JAMWA) unterstützt und zwei Anhängern der Salafisten-Szene bei der Ausreise nach Syrien geholfen zu haben. Nachdem er bereits seit Ende 2015 in Untersuchungshaft saß, wurde Lau im Juli 2017 zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt. Das Urteil ist seit 4. April 2018 rechtskräftig. In der Szene wurde Laus Festnahme als Zeichen des viel beschworenen "Kampfes gegen den Islam" gedeutet und führte zu einer Solidarisierungsbewegung.

Einst wichtige und vergleichsweise gemäßigte Wortführer des politisch-missionarischen Teils der Salafisten-Szene haben im Zuge der beschriebenen Radikalisierung nach Ausbruch des Syrien-Krieges an Bedeutung verloren. Zu ihnen gehören der Leipziger Imam Hassan Dabbagh oder der Braunschweiger Prediger Muhammed Ciftci. Einst galten sie als unumstößliche Autoritäten und ihre Unterrichte und "Islam-Seminare" wurden selbst von dschihadistischen Anhängern der Szene besucht. Mittlerweile werden sie im Gewalt legitimierenden Teil der Szene ähnlich wie Pierre Vogel schlicht ignoriert oder als "Schleimer" verspottet.

Ihre Botschaften verbreiten sie nunmehr eher im kleinen Kreis und ihre Wirkung ist regional begrenzt.

Salafisten aus Deutschland in Syrien und im Irak

Laut Bundesamt für Verfassungsschutz sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien mehr als 1.000 Jugendliche und zumeist junge Erwachsene aus Deutschland in die Bürgerkriegsgebiete in Syrien oder im Irak gereist. Anfänglich landeten die meisten bei der Terrorgruppe Dschunud asch-Scham. Später schlossen sich die Ausgereisten eher der al-Qaida-nahen Nusra-Front an.

Die größte Anziehungskraft übte aber der "IS" aus, mutmaßlich wegen seiner militärischen Erfolge, vor allem aber wegen der Gründung des sogenannten Kalifats und einer geschickten Propaganda. Einige der Ausgereisten unterstützen die Terrororganisation nur in logistischer Hinsicht. Zu etwa der Hälfte der Ausgereisten liegen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, dass sie gekämpft haben oder zumindest eine Ausbildung an Waffen absolvierten. Etwa 190 der Ausgereisten wurden in den Wirren des Bürgerkrieges getötet (Stand aller Zahlen: September 2018).

Die Ausreisen nach Syrien waren in der salafistischen Szene lange Zeit das beherrschende Thema. Mitarbeiter von Beratungsprojekten berichten zudem, dass die Anziehungskraft des "IS" zu verkürzten Radikalisierungsverläufen führte. Früher seien Jugendliche über die Strömungen, die Gewalt ablehnen, in die salafistische Szene gekommen und hätten von da den Weg ins militante Lager gefunden. Nun stießen einige unmittelbar zu dschihadistischen Salafisten. Die theologische Komponente der Ideologie spielte in diesen Fällen eine untergeordnete Rolle. Wichtiger gewesen seien die politische Propaganda zur Lage in Syrien, die romantisch verklärte Absicht, beim Aufbau des Kalifats mitzuhelfen, Männlichkeitsfantasien über den "Heiligen Krieg" und eine übersteigerte Abenteuerlust.

Laut Bundesamt für Verfassungsschutz sind mehr als 20 Prozent der in die Kampfgebiete Ausgereisten weiblich. Mitarbeiter von Beratungs- und Deradikalisierungsprojekten berichten, dass viele von ihnen von der romantisiert-verblendeten Vorstellung geleitet waren, als Frau eines "Heiligen Kriegers" einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des "Kalifats" leisten zu können. In den Kampfgebieten erfolgte dann meist die Ernüchterung. Denn Terrororganisationen wie der "IS" gestehen Frauen praktisch keine Rechte zu, so dass sie meist nicht ohne Begleitung das Haus verlassen dürfen. Oft sind sie auch sexueller Gewalt durch die Kämpfer ausgesetzt und werden von einem Mann zum nächsten gereicht, wenn diese bei Kampfhandlungen getötet werden.

Gefahr durch Rückkehrer

Mit dem Niedergang des "IS" kam die Ausreisewelle in die dschihadistischen Kampfgebiete in Syrien und Irak praktisch zum Erliegen.

In der öffentlichen Diskussion nimmt seitdem die Frage großen Raum ein, welche Gefahr von zurückkehrenden Dschihadisten ausgeht. Etwa ein Drittel der Ausgereisten (etwas mehr als 300) ist nach Angaben des Verfassungsschutzes mittlerweile zurück in Deutschland.

Die meisten von ihnen verließen die Kampfgebiete bereits sehr schnell nach ihrer Ankunft wieder, einige desillusioniert und traumatisiert. Andere gelten als abgestumpft und noch radikaler als vor ihrer Ausreise. Geschult im Umgang mit Waffen und Sprengstoff gilt diese Gruppe als besonders gefährlich.

Die Bundesanwaltschaft führt gegen Dschihadisten, die aus Syrien zurückgekehrt sind, wegen des Verdachts der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer ausländischen Terrorvereinigung etliche Ermittlungsverfahren. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Männer. Einige Rückkehrer wurden bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Staatsanwaltschaften der Bundesländer ermitteln zudem in etlichen Fällen wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat.

Die Sicherheitsbehörden befürchten, dass Organisationen wie der "IS" diese Rückkehrer beauftragen könnten, in Deutschland Terroranschläge zu verüben. Zudem zielt die Propaganda des "IS" seit einiger Zeit verstärkt darauf, auch Einzelpersonen zu Anschlägen zu bewegen, notfalls mit einfachsten Mitteln.

Die Szene in Deutschland seit dem Niedergang des "IS"

In den Teilen der Szene, in der die vermeintlich oder tatsächlich religiös bestimmten Inhalte von dem Geschehen in Syrien und dem Bedeutungsgewinn des dschihadistischen Flügels zunehmend überlagert wurden, macht sich seit dem Niedergang des "IS" eine gewisse Sprach- und Orientierungslosigkeit breit. Vormals feste Strukturen und Vereine sind losen Organisationszusammenhängen gewichen. Ehemals dominante Führungsfiguren mit bundesweiter Bedeutung haben an Einfluss verloren. Einen Akteur von vergleichbarer Prominenz wie vor einigen Jahren Pierre Vogel gibt es heute in der deutschen Szene nicht.

Auf der anderen Seite hatten sich unter dem Eindruck der wachsenden Zahl dschihadistischer Syrien-Ausreisen etliche Wortführer des moderaten Spektrums bereits vor Jahren immer wieder und sehr eindeutig gegen den gewaltaffinen Teil der Szene positioniert. Einige stehen heute der salafistischen Glaubenslehre immer noch nahe und sind im gemäßigten Teil des Milieus gut vernetzt, andere haben sich praktisch gänzlich von der Szene abgewandt. Die "Verproletarisierung" und "Hooliganisierung" sehen diese Prediger äußerst skeptisch und lehnen es daher immer häufiger ab, der salafistischen Szene zugeschrieben zu werden.

Wichtige Vertreter dieser Strömung waren oder sind der Wuppertaler Mohamed Gintasi (Abu Jibriel), die Berliner Ferid Heider und Abdul Adhim Kamouss oder der Dortmunder Abdelhay Fadil.

Auch einige Beobachter halten es im Rückblick betrachtet für einen Fehler, sie überhaupt jemals als "Salafisten" eingeordnet zu haben. Sie hätten sich zwar ähnlicher Methoden bedient wie Prediger, die tatsächlich der salafistischen Szene zuzurechnen seien (etwa eine jugendgerechte Sprache und Predigten, die über das Internet verbreitet wurden). In inhaltlicher Hinsicht seien ihre Aussagen aber weniger von einer salafistischen Grundhaltung, sondern eher von Positionen des konservativen Mainstream-Islam geprägt gewesen. Aus anderen Teilen der Szene erhalten diese Prediger teils ernsthafte Bedrohungen. Einige wenige Beobachter halten die Zusammenarbeit mit diesen Predigern für einen erfolgversprechenden Weg, um Jugendliche, die anders nicht zu erreichen wären, vom Weg in die Militanz abzuhalten oder davon abzubringen. Kritiker verweisen dagegen auf die gemeinsamen ideologischen Wurzeln gemäßigter und dschihadistischer Salafisten. Sie führen Beispiele von späteren "Gotteskriegern" an, die zunächst Anhänger moderater Prediger waren, von diesen aber offenkundig nicht daran gehindert werden konnten, den Weg in die Militanz zu beschreiten.

Wie sich die Szene in den kommenden Jahren entwickeln wird, scheint vor diesem Hintergrund unklarer denn je zu sein. Einige Experten und Mitarbeiter von Deradikalisierungs- und Präventionsprojekten gehen sogar davon aus, dass die Szene ihren Zenit überschritten hat. Berlins Innensenator Andreas Geisel sagte bei der Vorstellung einer Salafismus-Studie des Berliner Verfassungsschutzes im Januar 2018, es gebe Anzeichen dafür, dass sich der Zuwachs der Szene verlangsame.

Andererseits berichten Beobachter, dass Anhänger des politisch-missionarischen, aber auch des dschihadistisch-missionarischen Teils der Szene sich lokal und regional neu aufstellen. Dschihadistische Salafisten versuchten zudem, den weitgehenden Zusammenbruch des "IS"-Herrschaftsgebietes als lediglich temporären Rückschlag darzustellen. Offen ist, was dies für das Verhältnis der Szene zur Gewalt und ihr Gewaltpotenzial bedeutet.

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Ulrich Kraetzer ist Redakteur der Berliner Morgenpost. Zuvor arbeitete er unter anderem als Experte für Extremismus im Investigativressort der Nachrichtenagentur dapd. Einer seiner Schwerpunkte ist die Berichterstattung über den Salafismus. Im Jahr 2014 erschien sein Buch "Salafisten – Bedrohung für Deutschland?"