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Psychische Gesundheit in der Distanzierungsarbeit | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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Psychische Gesundheit in der Distanzierungsarbeit Herausforderungen und Perspektiven an der Schnittstelle zur Psychotherapie

Gloriett Kargl Rosa Dreyhaupt Marvin Stipp Alexander Gesing Vera Dittmar Anja Herrmann Hannah Strauß

/ 10 Minuten zu lesen

Psychische Probleme gehören zum Alltag vieler Klient:innen in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit und stellen Fachkräfte regelmäßig vor komplexe Herausforderungen. Wie können sie Auffälligkeiten professionell einschätzen, angemessen darauf reagieren und gleichzeitig den Distanzierungsprozess im Blick behalten? Das Projekt EVOLUO zeigt Wege auf, wie Berater:innen ihre Klient:innen professionell begleiten und empathisch unterstützen können.

Psychische Störungen können den Beratungsprozess erheblich beeinflussen. (© GrAl, Shutterstock)

Fallbeispiel 1

Ein Berater, der seit Kurzem in einem Fall aktiv, wendet sich an EVOLUO , da er sich Unterstützung durch das Projektteam wünscht. Er berichtet, dass er mit einem Angehörigen in Kontakt steht, der sich aufgrund seines Cousins an die Beratungsstelle gewandt hat.

Aus Sicht des Angehörigen zeigt der junge Mann starke Zwänge und nötigt auch sein Umfeld zu bestimmten Handlungen. Zudem habe er in der Vergangenheit suizidale Gedanken geäußert. Anlass für die Kontaktaufnahme zur Beratungsstelle ist das große Interesse des Mannes an Gewaltdarstellungen im Internet, insbesondere aus dschihadistischen Gruppen. Parallel dazu zeigt sich eine (Rück-)Besinnung auf eine bisher nicht ausgelebte muslimische Religiosität.

Nach kurzer Zeit kann ein erstes Gespräch zwischen dem jungen Mann, seinem Cousin, dem Berater und einer psychologischen Fachkraft von EVOLUO stattfinden. Während des Treffens zeigt der Betroffene kein Krankheitsbewusstsein und berichtet von keinem Leidensdruck, ist jedoch offen für weitere Gespräche.

Wie in dem kurzen Beispiel aufgezeigt, können psychische Auffälligkeiten in Fällen der Distanzierungsarbeit eine Rolle spielen. Wie hier wird Berater:innen beispielsweise von Aussagen, Handlungen oder subtilen Veränderungen bei den Betroffenen erzählt. Mitunter berichten auch Klient:innen von sich aus über psychischen Leidensdruck. Die jährlichen Reports des Kompetenznetzwerkes Islamistischer Extremismus (KN:IX, seit Anfang 2025 KN:IX connect) zeigen, dass sich Berater:innen seit Jahren Fortbildungen zum Umgang mit psychischen Auffälligkeiten sowie einen intensiveren Austausch mit psychologischen Fachkräften wünschen (exemplarisch KN:IX 2023; dies. 2024).

Um auf diesen Bedarf zu reagieren, haben die Träger Violence Prevention Network gGmbH (VPN) und IFAK e. V. (im Projektverbund Beratungsnetzwerk Grenzgänger) im Oktober 2022 das Modellprojekt EVOLUO – Psychologische Fachkenntnisse und Coaching für Beraterinnen im Themenfeld (De-)Radikalisierung ins Leben gerufen. Das Projekt unterstützte bis Ende 2024 Fachkräfte und Klient:innen im Bereich des islamistischen Extremismus mit fallbegleitenden Beratungen sowie einer praxisnahen Fortbildung. In dieser Zeit integrierte sich EVOLUO in die bundesweiten Beratungsstrukturen im Bereich des islamistischen Extremismus und wurde so ein Bestandteil der Beratungslandschaft an der Schnittstelle zwischen der Distanzierungsarbeit und den Gesundheits- und Heilberufen. Das Projekt wurde von der Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA) im Beratungsnetzwerk Grenzgänger wissenschaftlich begleitet und durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefördert. Zusätzlich stand dem Team ein wissenschaftlicher Fachbeirat zur Seite.

Auf Grundlage der Projekterfahrungen beleuchtet der vorliegende Beitrag die Rolle der psychischen Gesundheit in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit im Bereich des islamistischen Extremismus. Zudem wird dargestellt, durch welche Maßnahmen EVOLUO die Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen Beratung und Psychotherapie gefördert hat.

Rolle der psychischen Gesundheit in der Distanzierungsarbeit

Radikalisierungsprozesse sind äußerst dynamisch und werden von einer Vielzahl individueller und gesellschaftlicher Faktoren beeinflusst. Neben dem sozialen Umfeld kommt der psychischen Gesundheit eine zentrale Rolle zu. Gleichzeitig zeigt sich auch in Distanzierungsprozessen eine enge Verflechtung psychischer und sozialer Dynamiken.

Vor allem psychische Belastungen stellen in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit eine häufige Herausforderung dar, wie eine im Rahmen des Projektes durchgeführte Bedarfsanalyse zeigte. Im EVOLUO-Kontext wurden psychische Belastungen als innere und äußere Einflüsse definiert, die sich auf die menschliche Psyche auswirken. Dabei wirken sie einerseits auf innerpsychische Prozesse und andererseits können diese Prozesse selbst eine Wirkung entfalten. Beispiele sind eine anstehende Prüfung, der Verlust einer nahestehenden Person oder auch Radikalisierungs- sowie Distanzierungsprozesse.

Der Begriff wird zunächst neutral verstanden, sodass psychische Belastungen sowohl positive als auch negative Konsequenzen haben können. So kann eine anstehende Prüfung beispielsweise auch motivieren und als eine bewältigbare Herausforderung angesehen werden. Wann eine Situation belastend wird, empfindet jeder Mensch anders. Entscheidend dafür sind die persönliche Wahrnehmung sowie die individuell verfügbaren Ressourcen.

Psychische Belastungen sind häufig mit inneren Konflikten und zwischenmenschlichen Spannungen verknüpft. Extremistische Gruppierungen nutzen diese Dynamik, indem sie vermeintliche Lösungsstrategien anbieten, wodurch ihre Ideologien nicht nur als Überzeugungssysteme, sondern auch als psychosoziale Bewältigungsstrategien fungieren (vgl. Plha & Friedmann, 2019). Distanzierungsberater:innen können Klient:innen dabei unterstützen, diese Belastungen zu erkennen und alternative Bewältigungswege zu entwickeln.

Hierfür ist es essenziell, psychische Belastungen, Auffälligkeiten und Störungen differenziert zu unterscheiden. Psychische Auffälligkeiten, die sich in Form von Aussagen, Handlungen oder subtilen Veränderungen zeigen (zum Beispiel Stimmungsschwankungen, innere Unruhe oder sozialer Rückzug), können sowohl vorübergehende Reaktionen auf psychische Belastungen, als auch Hinweise auf ernsthafte psychische Störungen sein. Besonders mit Blick auf die Schnittstelle zur Psychotherapie liegt in der frühzeitigen und differenzierten Wahrnehmung eine Kernkompetenz von entsprechend sensibilisierten Berater:innen. Da die Diagnose und Behandlung psychischer Störungen Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen vorbehalten ist, können sie hier als Brücke fungieren.

In der Distanzierungsarbeit sind Fachkräfte aus verschiedenen Disziplinen und mit verschiedenen Bezugspunkten zu psychologischem Wissen tätig. Daher war es ein zentrales Anliegen von EVOLUO, für eine kultursensible und differenzierte Wahrnehmung psychischer Aspekte zu sensibilisieren. Berater:innen haben einen besonderen Fokus darauf, die psychische Gesundheit ihrer Klient:innen im Kontext ihrer Radikalisierung zu betrachten. Extremistische Einstellungen, psychische Belastungen und Störungen müssen nicht zwangsläufig miteinander verbunden sein, ihr gleichzeitiges Auftreten erschwert den Beratungsprozess jedoch (vgl. Allroggen 2020; Sischka & Vogel 2023). In solchen Fällen ist es besonders herausfordernd, beide Aspekte – die psychische Gesundheit und die extremistischen Überzeugungen – gleichzeitig zu adressieren.

Nehmen Distanzierungsberater:innen psychische Auffälligkeiten bei ihren Klient:innen wahr, sollten diese Beobachtungen mit dem eigenen multiprofessionellen Team sowie gegebenenfalls mit externen Fachkräften reflektiert und abgeglichen werden. Einzelne Verhaltensweisen oder Äußerungen können möglicherweise auf psychische Störungen hinweisen, sollten jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Es ist wichtig, die eigenen Wahrnehmungen in einen größeren Kontext zu setzen. Wichtige Bezugspunkte sind die aktuelle Situation der Klient:innen, ihre Biografie, die Bewältigung ihres Alltags sowie gegebenenfalls ihr Leidensdruck.

In solchen Fällen wurden Praktiker:innen beispielsweise durch die fallbegleitenden Angebote von EVOLUO unterstützt. Die Psycholog:innen und Therapeut:innen des Projekts trugen mit ihrer Expertise dazu bei, psychische Auffälligkeiten fundierter einzuschätzen und deren Dynamiken im Zusammenhang mit Radikalisierungsprozessen differenzierter zu verstehen, insbesondere dort, wo sich beides wechselseitig bedingen oder verstärken kann. In Abgrenzung zu den Gesundheits- und Heilberufen ging es dabei nicht darum, diagnostisch oder psychotherapeutisch tätig zu werden, sondern Berater:innen und Klient:innen durch psychologische, psychosoziale oder (trauma-)therapeutische Perspektiven zu unterstützen.

Besonders im Bereich des islamistischen Extremismus kommt auch einer kultursensiblen Betrachtung eine besondere Bedeutung zu (Kizilhan 2016). Dabei geht es zum Beispiel darum, die Bedeutung von kulturell verankerten Verhaltensweisen angemessen einzuordnen und sie von psychischen Auffälligkeiten oder extremistischen Denk- und Handlungsmustern abzugrenzen. Sowohl gelebte Religiosität wie auch das Verständnis von psychischer Gesundheit oder Krankheit unterscheiden sich in jedem Fall. Besonders bei betroffenen Personen aus anderen Kulturkreisen müssen bestimmte Themen berücksichtigt werden. Hier können einerseits Ursachen für aktuelle Herausforderungen liegen, andererseits können hier auch Potentiale zur Stärkung der Resilienz liegen.

In diesen Bereichen unterstützte EVOLUO Berater:innen durch Sensibilisierungsmaßnahmen, gezielte Wissensvermittlung und direkte Hilfe in der Fallarbeit. Dabei ging es maßgeblich um die Entwicklung einer professionellen Haltung, die es ermöglicht, die komplexen Bedürfnisse der Klient:innen angemessen zu berücksichtigen und beispielsweise wahrgenommene Auffälligkeiten im Beratungsgespräch sensibel zu thematisieren. Neben der Steigerung der individuellen Kompetenz förderte dieser Ansatz auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit – ein entscheidender Faktor zur wirksamen Bewältigung psychischer Herausforderungen im Beratungsprozess.

Herausforderungen und Perspektiven an der Schnittstelle zur Psychotherapie

Die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Psychotherapie und Distanzierungsarbeit erfordert einerseits eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten und andererseits, wenn Klient:innen dies möchten, einen interdisziplinären Austausch zwischen Fachkräften im Sinne der Betroffenen. Auf Grundlage der Erfahrungen von EVOLUO werden nachfolgend zwei exemplarische Herausforderungen sowie mögliche Perspektiven für die Distanzierungsarbeit thematisiert:

Verschränkung der Verantwortlichkeiten von Berater:innen und Psychotherapeut:innen

Eine Umfrage des Universitätsklinikums Ulm zeigt, dass über die Hälfte der befragten Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen bereits Patient:innen mit (mutmaßlich) extremistischen Einstellungen behandelt haben (Rau et al. 2023). Parallel dazu berichten auch Distanzierungsberater:innen von einem Anstieg an Fällen, in denen psychische Probleme eine Rolle spielen (KN:IX 2023; Carlsson 2021). Zwar besteht kein Kausalzusammenhang zwischen Radikalisierungsprozessen und psychischen Störungen, dennoch überschneiden sich die Arbeitsfelder von Berater:innen und Therapeut:innen in der Praxis regelmäßig.

In diesen Fällen kommt es darauf an, die jeweiligen Zuständigkeiten klar voneinander abzugrenzen: Während Berater:innen vor allem den Distanzierungsprozess begleiten, liegt die Diagnose und Behandlung psychischer Störungen im Aufgabenbereich von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen. Beide Aspekte können zusammenhängen. So kann eine psychische Störung den Distanzierungsprozess erschweren, während eine Radikalisierung dem therapeutischen Fortschritt entgegenwirken kann. Gleichzeitig kann eine Psychotherapie den Distanzierungsprozess unterstützen und die Distanzierungsarbeit kann die psychische Gesundheit verbessern. Trotz alledem bleibt der Fokus von Fachkräften unterschiedlich. Durch die multiprofessionelle Zusammenarbeit können Synergien an dieser Schnittstelle nutzbar gemacht werden (Baumann et al., in Erscheinung).

Wenn Berater:innen zum Beispiel deutliche Symptome wie Angstzustände, depressive Episoden oder wahnhafte Zustände wahrnehmen, können sie auf Grundlage ihrer professionellen Arbeitsbeziehung den Übergang in therapeutische Angebote aktiv begleiten. Sie können hier als Brücke fungieren, indem sie Klient:innen über psychotherapeutische und psychiatrische Versorgungsmöglichkeiten informieren und sie in der Entscheidungsfindung unterstützen. Sie schaffen dabei einen vertrauensvollen Rahmen, in dem Klient:innen selbstbestimmt fundierte Entscheidungen treffen können. Solange keine Eigen- und/oder Fremdgefährdung vorliegt, liegt die Entscheidung für oder gegen ein (psycho-)therapeutisches oder psychiatrisches Angebot bei den Klient:innen.

Nehmen Klient:innen psychotherapeutische oder psychiatrische Versorgung in Anspruch, muss die Arbeitsbeziehung zu den Berater:innen nicht zwangsläufig beendet werden. Wenn Klient:innen dies wünschen, können die Berater:innen sie weiterhin unterstützen, den Dialog aufrechterhalten und/oder bei Bedarf mit dem sozialen Umfeld (weiter-)arbeiten, um stabile Unterstützungssysteme aufzubauen beziehungsweise zu stärken.

Ob sich Berater:innen und Therapeut:innen über einen spezifischen Fall austauschen dürfen oder sollen, entscheiden die Klient:innen selbst. In diesem Zusammenhang spielen der Datenschutz und die Schweigepflicht eine zentrale Rolle. Fachkräfte müssen ihre Klient:innen über die Schweigepflicht und die Bedingungen einer möglichen Entbindung von dieser aufklären. Wenn sie einen Austausch wünschen, geben sie ihre Zustimmung freiwillig und unter Kenntnis der Konsequenzen. Die Zustimmung kann jederzeit widerrufen werden. Der Datenschutz spielt eine ebenso große Rolle. Klient:innen müssen ausdrücklich und schriftlich zustimmen, dass ihre personenbezogenen Daten weitergegeben werden dürfen. Darüber hinaus können sich Fachkräfte pseudonymisiert austauschen, wenn es nicht um einen speziellen Fall geht und sich die geteilten Informationen keiner konkreten Person zuordnen lassen.

EVOLUO unterstützte diesen Prozess, indem es Berater:innen beispielsweise praxisrelevantes Wissen über die psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung vermittelte, die rechtlichen Grundlagen der Zusammenarbeit erläuterte und den interdisziplinären Austausch mit Fachkräften aus dem Gesundheits- und Heilbereich förderte. Insbesondere dieser kollegiale Austausch diente der Vernetzung von Fachkräften untereinander. Darin liegt ein Schlüssel, der es ermöglicht, im Ernstfall auf bekannte Kolleg:innen und Expertisen zurückgreifen zu können und dadurch handlungsfähig zu bleiben.

Umgang mit Therapieablehnung

Eine weitere Herausforderung ist der Umgang mit Therapieablehnung. Es gibt immer wieder Fälle, in denen der Zugang zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Angeboten durch Vorbehalte auf Seiten der Klient:innen erschwert wird. Aussagen wie „Ich brauche keine Therapie“ oder „Ich bin nicht krank“ spiegeln nicht nur individuelle Abwehrhaltungen, sondern auch das gesellschaftlich verankerte Stigma wider, das mit dem Eingeständnis von Hilfebedarf verbunden ist. Eine Analyse der FORA (Dittmar et al. 2023) zeigt, dass neben mangelndem Vertrauen in Therapeut:innen auch Ängste vor Stigmatisierung und der Verlust der Autonomie maßgebliche Gründe für eine Therapieablehnung darstellen. Darüber hinaus können kulturelle und soziale Barrieren den Zugang erschweren. Zum Beispiel ist laut Lersner & Kizilhan (2017) der Zugang zu psychiatrischen Angeboten für Migrant:innen häufig durch kulturelle Missverständnisse und Misstrauen geprägt.

Berater:innen können solche Barrieren empathisch adressieren, einen realistischen Blick auf therapeutische Möglichkeiten eröffnen sowie Klient:innen die Vorteile psychotherapeutischer beziehungsweise psychiatrischer Angebote aufzeigen. Es erfordert Fingerspitzengefühl, um solche Barrieren zu erkennen und im Sinne einer empathischen Unterstützung zu überwinden. Dies unterstreicht die Brückenfunktion von Berater:innen. Sie haben konkrete sowie niedrigschwellige Möglichkeiten, indem sie Klient:innen beispielsweise zu Terminen begleiten oder sie bei bürokratischen Herausforderungen unterstützen. Darüber hinaus können im vertrauensvollen Beratungssetting, in dem sich Berater:innen und Klient:innen begegnen, erste positive Erfahrungen mit professionellen Beziehungen gemacht werden, die die Hemmschwelle für die Inanspruchnahme weiterer Angebote senken kann. Trotz alledem liegt auch hier die Entscheidung, ein entsprechendes therapeutisches Angebot anzunehmen, letztlich bei den Klient:innen selbst.

Fallbeispiel 2

Aysel, eine junge Klientin, zeigt erhebliche Vorbehalte gegenüber der Inanspruchnahme einer Psychotherapie. Sie äußert den Wunsch, sich ausschließlich einer weiblichen Fachkraft anvertrauen zu wollen, da sie Bedenken hat, von männlichen Therapeuten nicht angemessen verstanden zu werden. In den ersten Gesprächen mit ihrer Beraterin werden diese Ängste thematisiert, und die Klientin wird in ihrem Wunsch nach einer vertrauensvollen, geschützten Gesprächsbasis unterstützt.

Um ihr den Einstieg zu erleichtern, vereinbart die Beraterin zwei Kennenlerngespräche mit einer psychologischen Fachkraft von EVOLUO, die Aysels Anforderungen entspricht. Dabei legt die Beraterin großen Wert darauf, dass Aysel selbst bestimmt, wann sie mit der Therapie beginnen möchte. Durch die Zusammenarbeit mit der Fachkraft von EVOLUO findet Aysel bereits eine Möglichkeit, ihre Bedarfe und Fragen zu adressieren. So kann der Übergang in eine passgenaue Psychotherapie, soweit gewünscht, erleichtert werden.

Im Rahmen der Angebote von EVOLUO entwickelten die teilnehmenden Berater:innen konkrete Strategien, um Vorbehalte sensibel zu besprechen und unter Wahrung der Selbstbestimmung von Klient:innen aktiv mit Therapieablehnung umzugehen. Praktische Hinweise und Strategien zur Vernetzung geben Fachkräften Rüstzeug an die Hand, um interdisziplinäre Netzwerke zu schaffen. Damit kann nicht nur die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass Klient:innen therapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen, sondern auch die Qualität der Beratungsarbeit insgesamt verbessert werden. Weitere Hintergründe von Therapieablehnung sowie Handlungsmöglichkeiten für Fachkräfte finden sich in der bereits erwähnten Analyse der FORA „Zwischen Psychotherapiebedarf und Klient:innen-Selbstbestimmung“ (Dittmar et al. 2023).

Fazit

Die Betrachtung der Rolle der psychischen Gesundheit in der Distanzierungsarbeit im Bereich des islamistischen Extremismus macht deutlich, wie vielschichtig und dynamisch die beschriebenen Wechselwirkungen sind. Psychische Belastungen, Auffälligkeiten und Störungen können den Beratungsprozess erschweren und stellen komplexe Herausforderungen dar. Der Beitrag zeigt eindrücklich, dass die Berücksichtigung der psychischen Gesundheit nicht nur für das individuelle Wohl der Klient:innen, sondern auch für den Erfolg der Distanzierungsarbeit von zentraler Bedeutung ist.

Die interne Evaluation von EVOLUO belegt, dass die Kombination aus praxisnaher Wissensvermittlung sowie direkter Unterstützung in der Fallarbeit dazu geführt hat, dass die teilnehmenden Berater:innen durch die Angebote einen signifikanten Anstieg an Wissen und Handlungskompetenzen im Umgang mit psychischen Auffälligkeiten bei ihren Klient:innen verzeichnen. Insgesamt bietet der integrative Ansatz wertvolle Perspektiven: Er stärkt nicht nur die fachliche Kompetenz der Berater:innen, sondern fördert auch den Aufbau tragfähiger interdisziplinärer Netzwerke. Darin besteht ein entscheidender Faktor, um langfristig wirksame und nachhaltige Unterstützungsprozesse zu etablieren.

An der Schnittstelle zwischen Psychotherapie und Distanzierungsarbeit kommt es einerseits auf eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten und andererseits, wenn Klient:innen dies möchten, auf einen vertrauensvollen Austausch zwischen Fachkräften an. Die im Projekt vermittelten Strategien zum Umgang mit Therapieablehnung zeigen darüber hinaus, wie wichtig es ist, individuelle Vorbehalte ernst zu nehmen und Wege zur Überwindung von Barrieren aufzuzeigen.

Grundlegende Fragestellungen zur Rolle der psychischen Gesundheit in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit sowie Erkenntnisse aus dem Projekt erscheinen 2025 in einem Sammelband mit dem Titel „Psychische Belastungen bei Klient:innen der Deradikalisierungsberatung“ (Dittmar & Mücke, in Erscheinung). Die Publikation liefert wichtige Impulse für die kontinuierliche Reflexion, die Gestaltung der Schnittstelle zur Psychotherapie sowie für die weitere Professionalisierung der Distanzierungsarbeit. Darüber hinaus werden Violence Prevention Network gGmbH und IFAK e. V. weiter zusammenarbeiten, um Fachkräfte und Klient:innen bei den genannten Herausforderungen zu unterstützen.

Weitere Inhalte

Erziehungswissenschaftlerin und Psychologin, bringt langjährige praktische Erfahrung in der offenen Jugendarbeit, Erwachsenenbildung und der Beratung von Aussteiger*innen aus destruktiven Gruppen mit. Seit 2017 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Violence Prevention Network gGmbH tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die Beratung und Soziale Diagnostik im Bereich der Extremismusprävention. Sie arbeitete von 2022 bis 2024 im Projekt „EVOLUO – Psychologische Fachkenntnisse und Coaching für Berater*innen im Themenfeld (De-)Radikalisierung“ mit.

Rosa Dreyhaupt hat Psychologie im Bachelor und Forensische Psychologie im Master studiert. Nach dem Studium arbeitete sie im Justiz- und Maßregelvollzug und befindet sich seit 2021 in der Weiterbildung zur psychologischen Psychotherapeutin im Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie bei der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie. Zusätzlich ist sie bei Violence Prevention Network gGmbH im Fachbereich Psychotherapie beschäftigt.

Marvin Stipp ist Koordinator des Fachbereichs Psychotherapie bei Violence Prevention Network gGmbH. Bis Ende 2024 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bildungsreferent im Projekt „EVOLUO - Psychologische Fachkenntnisse und Coaching für Berater:innen im Themenfeld (De-)Radikalisierung“. Er ist Politik- und Sozialwissenschaftler und befasst sich u .a. mit der multiprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Berater:innen und Psychotherapeut:innen.

Alexander Gesing ist stellvertretende Projektleitung beim Beratungsnetzwerk Grenzgänger der IFAK e.V. Grenzgänger bietet Angehörigenberatung und Distanzierungsarbeit im Bereich des islamistischen Extremismus an. Er ist hier insbesondere für die Bereiche „Fach- und Beratungsstelle Islamismus und Flucht“ und „EVOLUO - Psychologische Fachkenntnisse und Coaching für Berater:innen im Themenfeld (De-)Radikalisierung“ verantwortlich. Alexander Gesing studierte Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Bochum und Sozialwissenschaften mit einem Schwerpunkt in Globalisierung, Transnationalisierung und Governance an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Duisburg-Essen. Zunächst arbeitete er in der Kinder- und Jugendhilfe, unter anderem mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten und obdachlosen Jugendlichen sowie in der Forschung im Central European Network on Fatherhood in Dortmund und Wien.

Dr. Vera Dittmar hat die Leitung der Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA) in Kooperation mit dem Beratungsnetzwerk Grenzgänger/IFAK e. V. inne. Nach einer Juniorprofessur in Soziologie arbeitete sie als systemische Beraterin im Feld der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung (Deradikalisierung) im Phänomenbereich Islamismus. Sie forscht anwendungsorientiert zu Prozessen der Distanzierung und Deradikalisierung sowie zu demokratieorientierten Interventionen durch systemische Beratungs- und Therapieansätze.

Anja Herrmann ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet seit 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA). Die Forschungsstelle begleitet das auf religiös begründeten Extremismus und Deradikalisierung spezialisierte Beratungsnetzwerk Grenzgänger (IFAK e. V.) wissenschaftlich und beschäftigt sich in ihrer praxisbegleitenden Forschung mit Themen wie Möglichkeiten der systemischen Beratung in der Extremismusprävention, Kinder von IS-Rückkehrerinnen und psychische Auffälligkeiten in der Distanzierungsberatung. Von 2022 bis 2024 arbeitete sie zudem im Projekt „EVOLUO - Psychologische Fachkenntnisse und Coaching für Berater*innen im Themenfeld (De-)Radikalisierung“ mit.

Hannah Strauß, Politikwissenschaftlerin und systemische Therapeutin (SG), bringt langjährige Erfahrungen in der psychologischen und psychosozialen Beratung mit. Darüber hinaus ist sie in der Beratung und Vernetzung von Fachkräften und Organisation sowie in der Bildungsarbeit aktiv. Bis Ende 2024 leitete sie den Fachbereich Psychotherapie von Violence Prevention Network gGmbH.