Was ist Soziale Diagnostik?
Bei der Sozialen Diagnostik handelt es sich um einen Prozess, der im Arbeitsalltag vieler Sozialarbeiter:innen verankert ist. Dieser Prozess kann als Basis der sozialarbeiterischen bzw. pädagogischen Handlungsentscheidungen im Case Management verstanden werden. Soziale Diagnostik hilft Sozialarbeiter:innen und (pädagogischen) Fachkräften der Radikalisierungsprävention, einen Fall ganzheitlich zu verstehen, basierend auf diesem Verständnis die bestmögliche Hilfeplanung zu konzipieren und Veränderungen sowie Entwicklungen zu beobachten und zu evaluieren. Vereinfacht besteht der Prozess aus drei Schritten: Anamnese, Intervention und Evaluation. Diese sollen im Folgenden weiter ausgeführt werden.
Anamnese
Die Anamnese beschreibt eine systematische Sammlung aller verfügbaren Informationen. Dies sind zum Beispiel – aber nicht ausschließlich – die biografischen Erfahrungen und Ereignisse, strukturelle Lebensbedingungen, Einstellungen und Weltbilder der Klient:innen sowie bisherige und aktuelle Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen (vgl. dazu Schrapper 2008, zitiert nach Böhling 2012, S. 15f.). Im Rahmen der Anamnese sind nicht nur die Quellen der Datenerhebung (z. B. Erzählungen der Klient:innen, Angehörigen und des sozialen Umfelds) kritisch zu hinterfragen, sondern auch relevante von irrelevanten Informationen zu trennen. Zentral ist auch, alle erfassten Informationen in ihren Zusammenhängen zu explizieren, sodass erste Annahmen über den Fall, mögliche Ursachen für die aktuellen Probleme, Erkenntnisse über Ressourcen und Hilfebedürfnisse sowie Arbeitsaufträge für das Helfer:innensystem entstehen (Böhling 2012, S. 16; Riesenhuber et al. 2009, S. 5). Letzteres kann im Kontext der Radikalisierungsprävention unter anderem aus Akteur:innen der Kinder- und Jugendhilfe, Sicherheitsbehörden, aber auch therapeutischen und psychologische Angeboten und weiteren Beratungsangeboten wie Schuldner:innenberatung, Suchtberatung oder Beratungsangeboten des Jobcenters bestehen.
Der gesamte Prozess der Sozialen Diagnostik ist idealerweise dialogisch und partizipativ, d. h. im Austausch zwischen Fachkraft und Klient:in zu gestalten. Das bedeutet, dass nicht nur die für die Anamnese erhobenen Informationen und die daraus gezogenen Schlüsse gemeinsam besprochen werden, sondern dass auch besprochen wird, welche Hilfen notwendig und gewünscht sind. Erst dann erfolgt der Hilfe- und Interventionsvorschlag und dessen tatsächliche Umsetzung. Auch die identifizierten Veränderungen und Entwicklungen, die sich im Laufe des Beratungs- und Distanzierungsprozesses zeigen, werden im Idealfall mit den Klient:innen besprochen und reflektiert.
Intervention
Interventionsmaßnahmen umgesetzt werden (Wendt 2017, S. 79). Klassische Hilfe- und Interventionsmaßnahmen sind z. B. die Integration in den Arbeitsmarkt oder die Erarbeitung von gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien sowie die Straftataufarbeitung. Aber auch die Anbindung an therapeutische Angebote kann Teil der Hilfe- und Interventionsplanung sein. Bei einigen Maßnahmen kann der Zeitrahmen sehr individuell und an die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Klient:innen angepasst sein (z. B. bei der Erarbeitung von gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien), bei anderen Maßnahmen, wie etwa der Arbeitsmarktintegration oder Jugendhilfemaßnahmen, ergeben sich durch externe und maßnahmenspezifische Vorgaben weniger flexible Zeitfenster. So ist etwa die Suche nach einer Ausbildungsstelle an die jeweiligen Bewerbungsfristen und Ausbildungszyklen gebunden. Fachkräfte der Radikalisierungsprävention unterstützen ihre Klient:innen hierbei. Teilziele können hierbei sein: die Bereitschaft zur Suche nach einer Ausbildung bei den Klient:innen zu fördern, Angebote der Berufsberatung an Klient:innen zu vermitteln, den Bewerbungsprozess zu unterstützen, indem gemeinsam Bewerbungen geschrieben werden oder an entsprechende Akteure zu vermitteln, die hier Unterstützung leisten können. Insgesamt bedeutet dies, dass in der Umsetzung der Interventions- und Hilfeplanung häufig sehr kleinteilig mit Teilzielen gearbeitet wird und ein vernetztes Arbeiten notwendig ist, wenn Hilfebedarfe außerhalb der beraterischen Kompetenz liegen (z. B. bei der Inanspruchnahme von therapeutischen Angeboten) und die Zeitrahmen je nach Intervention oder Hilfe sehr unterschiedlich sein können.
Evaluation
Der Schritt der Evaluation beschreibt die systematische Erfassung und Analyse der Veränderungen und Entwicklungen bei den Klient:innen (Böhling 2012, S. 16). Konkret bedeutet dies, dass seitens der Fachkräfte, idealerweise gemeinsam mit den Klient:innen, überprüft wird, ob die in der Hilfe- und Interventionsplanung vereinbarten (Teil-)Ziele erreicht wurden, ob weitere Hilfebedarfe zu erkennen sind und ob gegebenenfalls nicht-intendierte Veränderungen und Entwicklungen eingetreten sind und wie diese sich auf die Fallentwicklung auswirken.
Soziale Diagnostik versus Dokumentation
In der Praxis wird häufig die Frage gestellt, wo der Unterschied zwischen Sozialer Diagnostik und Dokumentation liegt. Während Dokumentation meist den Charakter einer mehr oder weniger strukturierten Informationssammlung hat, geht Soziale Diagnostik immer damit einher, einen Fall systematisch und strukturiert zu erfassen und auf einer Metaebene zu betrachten (Böhling 2012, S. 15; Riesenhuber et al. 2009, S. 4f.). Soziale Diagnostik zwingt die Fachkräfte durch die Struktur des sozialdiagnostischen Prozesses dazu, einen Fall aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und regt dazu an, die erworbenen Erkenntnisse stets zu überprüfen (Riesenhuber et al. 2009, S. 5). Des Weiteren dient die Soziale Diagnostik der Entscheidungsfindung und ist damit mehr als nur eine Informationssammlung oder -analyse (Heiner 2010, S. 15, zitiert nach Böhling 2012, S. 18).
Soziale Diagnostik in der Radikalisierungsprävention
Sozialdiagnostische Verfahren in der Radikalisierungsprävention suchen nach Antworten auf die Fragen, warum sich eine Person radikalisiert hat, was notwendig ist, damit sie sich distanzieren kann, und wie vermieden werden kann, dass sich die Person re-radikalisiert. Diesem Vorgehen liegt ein bestimmtes Verständnis von Distanzierungsarbeit zugrunde. Dieses geht davon aus, dass bei der Distanzierung mehr als nur die reinen Risikofaktoren für die Verhinderung einer Re-Radikalisierung adressiert werden müssen, sondern vielmehr – das zeigen interdisziplinäre Forschung und pädagogische Praxis – müssen auch Ressourcen identifiziert und nutzbar gemacht werden, die den Attraktivitätsmomenten des Extremismus entgegenwirken.
Was bedeutet es, das Verfahren der Sozialen Diagnostik im Rahmen der Radikalisierungsprävention anzuwenden? Es bedeutet, dass das Fachpersonal aus der Distanzierungsarbeit einem systematischen, strukturierten Prozess folgt, um Fälle zu verstehen, Hilfen und Interventionen zu planen und den Erfolg der eigenen Arbeit im Einzelfall zu erfassen. Dabei dokumentieren die Berater:innen den gesamten Prozess schriftlich und tauschen sich mit anderen Akteur:innen, wie beispielsweise den Sicherheitsbehörden, die ggf. am Fall beteiligt sind, aus. Aber auch für den effektiven Austausch mit Kolleg:innen und Supervisor:innen ist ein sozialdiagnostisches Verfahren eine Hilfestellung. Denn sozialdiagnostische Verfahren sind üblicherweise darauf ausgelegt, auch die Erkenntnisse aus diesen Austauschformaten in den Prozess einfließen zu lassen.
Wie gestaltet sich der sozialdiagnostische Prozess in der Praxis der Radikalisierungsprävention? Bei der Anamnese arbeiten Berater:innen gemeinsam mit den Klient:innen daran, Biografie, Lebensbedingungen, Einstellungen und Weltbilder zu verstehen, ein vollumfängliches Verständnis der Lebensrealität der Klient:innen zu erlangen und gemeinsame Schlüsse, beispielsweise über biografische Muster, zu ziehen. Basierend auf diesen Erkenntnissen besprechen die Berater:innen gemeinsam mit ihren Klient:innen, welche Hilfen notwendig oder ratsam wären, welche Ziele man sich setzt und was getan werden muss, um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Zuweilen ist es in diesem Schritt und während des weiteren Fallverlaufs immer wieder notwendig, dass Berater:innen bei den Klient:innen ein Bewusstsein dafür schaffen, warum bestimmte Hilfen notwendig oder sinnvoll sind. Beispielhaft ist hier die Anbindung an eine therapeutische oder psychologische Maßnahme zu nennen. Im weiteren Fallverlauf wird dann gemeinsam und im Austausch mit anderen beteiligten Akteur:innen das Fortschreiten der Hilfen und Entwicklungen laufend überprüft, und zwar so lange, bis festgestellt wird, dass kein Hilfebedarf mehr besteht. Dies kann vorliegen, wenn die Person aus Perspektive der Berater:innen distanziert ist und zum aktuellen Zeitpunkt angenommen werden kann, dass sich die Person nicht re-radikalisiert oder Maßnahmen implementiert wurden, die verhindern, dass die Person in Krisensituationen in alte Muster verfällt. So kann etwa ein persönlicher Sicherheitsplan helfen, der etwa enthält, wie diese Muster durchbrochen werden können oder welche Notfallkontakte Klient:innen zur Verfügung stehen. Auch dieser Schritt der Überprüfung auf den Fallabschluss erfolgt mittels sozialdiagnostischer Prozesse.
Warum braucht die sozialarbeiterische Distanzierungsarbeit Soziale Diagnostik?
Im Rahmen der Debatte um die Soziale Diagnostik werden immer wieder Argumente hervorgebracht, die Soziale Diagnostik grundlegend kritisieren. Eine erste Kritik betrifft die ethische Vertretbarkeit. So erzeuge Soziale Diagnostik potenziell ein Machtgefälle zwischen Klient:innen und Berater:innen und ermögliche eine Pathologisierung von nicht normkonformem Verhalten. Auch die Notwendigkeit und Nützlichkeit Sozialer Diagnostik für die Beratungspraxis ist wiederholt infrage gestellt worden. Kritiker:innen führen an, dass Soziale Diagnostik den komplexen Lebensrealitäten Sozialer Arbeit nicht gerecht wird, weil sie eine zu starke Reduzierung eben dieser darstellen würde (Riesenhuber et al. 2009, S. 11). Ebenso wird darauf verwiesen, dass sozialdiagnostische Verfahren mit der eigentlichen Fallarbeit nichts zu tun hätten und es sich nur um bürokratische Prozesse handle, die von außen aufgezwungen werden (vgl. dazu etwa Breitenbach 2020). Auch auf eine hohe Fehleranfälligkeit wird verwiesen (Nauerth 2016, S. 51). Das eine oder andere Argument mag hier durchaus eine gewisse Legitimität aufweisen, jedoch muss auch die Alternative in Betracht gezogen werden: Keine Soziale Diagnostik durchzuführen, weil sie bürokratisiere, Machtgefälle erzeuge oder nicht zur Lebensrealität Sozialer Arbeit und menschlicher Welten passe, ist auch keine Lösung. Wer unkoordiniert agiert oder das genaue Hinschauen vernachlässigt, riskiert, dass Problemlagen und Notstände nicht erkannt werden (Buttner et al. 2018, S. 19, Röh 2020, S. 16). Stattdessen sollte die Kritik die Entwicklung sozialdiagnostischer Verfahren vielmehr leiten, um diese macht- und fehlersensibel sowie praxis- und lebensweltnah zu gestalten (Gahleitner et al. 2020, S. 19f.).
Zudem existieren zahlreiche Gründe, warum es für die sozialarbeiterische Distanzierungsarbeit sinnvoll ist, Tools und Ansätze Sozialer Diagnostik in die Arbeitsabläufe zu integrieren. Zum einen brauchen Berater:innen Soziale Diagnostik, um blinde Flecken im Fallverstehen und der Hilfeplanung zu reduzieren. Es ist menschlich, Dinge durch eine bestimmte „Brille“ zu betrachten – sei es die Brille der eigenen Profession, einer ähnlichen sozialen Herkunft oder des gleichen Geschlechts. Diese „Brille“ kann jedoch dazu führen, dass Berater:innen am Rand ihres Sichtfeldes hin und wieder Dinge übersehen. Ein sozialdiagnostisches Verfahren unterstützt dabei, das Sichtfeld zu erweitern, indem es auf Dinge hinweist, die zusätzliche Aufmerksamkeit benötigen, wie beispielsweise hegemoniale Männlichkeitsbilder oder psychologische Bedarfe. Zum anderen erfährt die Distanzierungsarbeit in den letzten Jahren einen zunehmenden Legitimationsdruck seitens Fördermittelgeber:innen, die Verfahren des Fallverstehens und der Wirkungsbeobachtung einfordern, oder seitens anderer Akteur:innen in diesem Arbeitsfeld, wie Sicherheitsbehörden, welche über ihre eigenen Verfahren des Fallverstehens verfügen, gegenüber welchen sich die pädagogische Perspektive dann ‚behaupten‘ muss. Es geht dabei nicht nur darum nachzuweisen, dass die Arbeit Wirkung zeigt, sondern es geht auch darum zu belegen, dass Handlungsentscheidungen auf Basis von Expertise getroffen werden und nicht aus einem Bauchgefühl heraus, wie es Berater:innen in der Vergangenheit zuweilen vorgeworfen wurde. Darüber hinaus werden auch im Miteinander des Multi-Agency-Settings – also der Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden, Berater:innnen, Jugendamt usw., das für die Fallbearbeitung meist kennzeichnend ist – Ansätze Sozialer Diagnostik gebraucht, um Sprechfähigkeit herzustellen. Soziale Diagnostik in der Radikalisierungsprävention adressiert diese externen Forderungen, denn sie bezieht sich auf seit Jahrzehnten etablierte Instrumente und Ansätze der Sozialen Arbeit.
Abgrenzung von Risikobewertung und Sozialer Diagnostik
Die Radikalisierungsprävention ist ein Arbeitsfeld, in dem insbesondere in der deutschen Präventionslandschaft ein Nebeneinander von zivilgesellschaftlichen bzw. sozialarbeiterischen und sicherheitsbehördlichen Akteur:innen herrscht. In vielen Bundesländern findet ein fallbezogener Austausch zwischen sicherheitsbehördlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen statt; in einigen Bundesländern arbeiten beide Akteur:innen sogar gemeinsam an Fällen. Das bedeutet, dass in diesem Kontext verschiedene Ansätze des Fallverstehens aufeinandertreffen. Während Sicherheitsbehörden Risikobewertungsverfahren (Risk Assessment), wie beispielsweise VERA-2R oder RADAR iTE zum Fallverstehen einsetzen, nutzen zivilgesellschaftliche Akteur:innen eigens entwickelte Verfahren, wie beispielsweise sozialdiagnostische Verfahren.
Es gibt zwischen Risikobewertungsverfahren und Ansätzen Sozialer Diagnostik grundlegende Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten und gegebenenfalls sogar Synergieeffekte. Grundlegend besteht zunächst ein Unterschied im Mandat, das den jeweiligen Verfahren zugrunde liegt und aus den Professionen hervorgeht, die dahinterstehen. Sicherheitsbehörden haben das Mandat, das Gefahrenrisiko für die Gesellschaft zu reduzieren. Die Soziale Arbeit hat ein Doppel- beziehungsweise Dreifachmandat. Dieses beinhaltet (1) den staatlichen Auftrag, bestimmte Gruppen zu schützen und zu fördern, (2) das Mandat, Klient:innen in ihren Interessen und Bedürfnissen zu unterstützen und gemeinsame Lösungen zu finden und (3) das Mandat sich selbst gegenüber, sich als professionelle Instanz zu verstehen.
Übertragen auf die Radikalisierungsprävention bedeutet dies, dass Sicherheitsbehörden das Mandat haben, Gefahren durch extremistische Personen zu reduzieren, während die sozialarbeiterische Distanzierungsarbeit das Mandat hat, die Bedürfnisse und Interessen ihrer Klient:innen zu betrachten und sie auf dem Weg aus dem Extremismus zu begleiten, eine nachhaltige Distanzierung zu bewirken und sich dabei selbst als professionelle Instanz zu verstehen. Auf den ersten Blick scheinen die Mandate somit gegensätzlicher Natur. Bei Sicherheitsbehörden steht das Risiko durch das Individuum im Fokus, bei der sozialarbeiterischen Distanzierungsarbeit das Risiko für das Individuum, im Distanzierungsprozess zu scheitern. Tatsächlich ergeben sich hier jedoch bereits erste Synergieeffekte: Wird das Risiko reduziert, dass eine Person im Distanzierungsprozess scheitert, wird zugleich das Risiko einer Re-Radikalisierung reduziert und somit auch das Risiko, das extremistische Personen für die Gesellschaft darstellen.
Diese Synergieeffekte setzen sich in weiteren Aspekten, wie der Informationsgrundlage, dem Fallverstehen und der Hilfe- und Interventionsplanung, fort. Während sich die Risikobewertung meist auf Ermittlungserkenntnisse und Aktenstudium bezieht, bezieht sich Soziale Diagnostik zuallererst auf die Informationen, die die Klient:innen zur Verfügung stellen, d. h. auch subjektive Deutungen und Einstellungen. Diese stehen Sicherheitsbehörden nicht immer zur Verfügung, weil sie mit potenziell radikalisierten Personen nicht immer in so engem Kontakt stehen wie Berater:innen der Distanzierungsarbeit. Auch die Vertrauensbasis fehlt hier häufig, damit Klient:innen sich bzgl. ihres Innenlebens so öffnen, wie sie es bei Berater:innen häufig tun. Ferner betrachten Risikobewertungstools mehrheitlich Risikofaktoren für eine extremistische Straftat, wie der Kontakt zu anderen Extremist:innen oder die Planungsfähigkeiten (militärisches Training, kognitive Fähigkeiten). Soziale Diagnostik fokussiert auf Ressourcen und Schutzfaktoren, wie Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit zur gewaltfreien Konfliktlösung oder ein soziales Unterstützungsnetzwerk abseits extremistischer Strukturen für eine Distanzierung. Durch diese beiden Perspektiven kann, wenn unter Berücksichtigung des Datenschutzes ein Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden und dem Personal aus der Distanzierungsarbeit stattfindet, zu einem umfassenderen Fallverstehen gelangt werden. Dies schlägt sich dann auch in der Maßnahmen- und Hilfeplanung nieder, insbesondere wenn Sicherheitsbehörden und sozialarbeiterische Distanzierungsarbeit gemeinsam an einem Fall arbeiten. So können polizeiliche und sozialarbeiterische Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden und die jeweiligen Ressourcen oder Netzwerke für Maßnahmen Dritter genutzt werden.
GRIDD PRO® - Soziale Diagnostik – Das sozialdiagnostische Verfahren von Violence Prevention Network
GRIDD PRO® – Soziale Diagnostik (Guiding Resilience, Integration, Disengagement & Development) ist das sozialdiagnostische Verfahren von Violence Prevention Network (VPN), das 2018 entwickelt und seither stetig angepasst wurde. Es handelt sich um ein Tool aus der Praxis für die Praxis. Es wurde in enger Zusammenarbeit von Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen der VPN-Fachbereiche Islamistischer Extremismus, Rechtsextremismus, Psychotherapie, International und Digital entwickelt. Es strukturiert den Prozess des Fallverstehens, der Hilfe- und Interventionsplanung sowie der Wirkungsbeobachtung und unterstützt damit die Beratungsarbeit. Es ist angepasst an die Arbeitsinhalte und -logiken von sozialarbeiterischer Distanzierungsarbeit und wird für jene Fälle genutzt, in denen eine Radikalisierungsgefährdung, eine Radikalisierung oder eine extremistische/terroristische Straftat vorliegen.
Betrachtet werden dabei vor allem folgende Fragestellungen:
Welche biografischen, sozialen, bedürfnis-, einstellungs- und inklusionsspezifischen Erfahrungen haben die Radikalisierung bedingt und bedingen den Distanzierungsprozess? Welche Risiko- und Schutzfaktoren bestehen für den Distanzierungsprozess?
Liegen Indikatoren für eine Selbst- und/oder Fremdgefährdung, Kindswohlgefährdung, Notwendigkeit einer psychologischen/medizinischen Abklärung vor?
Welche Hilfe wird von welchen Akteur:innen benötigt, und welche Interventionen sind notwendig?
Welche intendierten und nicht-intendierten Veränderungen sind eingetreten?
Kann der Fall abgeschlossen werden oder muss er fortgeführt werden?
Damit ist das Verfahren nicht nur eine Unterstützung bei der Beratungsarbeit, sondern auch Dokumentationstool und Basis für das Berichtswesen. Es handelt sich um einen bisher einzigartigen Vorstoß, der durch die interdisziplinären Ressourcen und den jahrelang erprobten Wissenschafts-Praxis-Transfer innerhalb von Violence Prevention Network ermöglicht wurde. Das Verfahren vereint wissenschaftliche Erkenntnisse zu Radikalisierungs- und Distanzierungsprozessen, Erfahrungswissen von Praktiker:innen der Distanzierungsarbeit und Arbeitslogiken und -inhalte der Distanzierungsarbeit in einem Tool so, dass Professionalisierung, Qualitätssicherung und Alltagskompatibilität zusammenkommen. Auch die Anschlussfähigkeit an sicherheitsbehördliche Verfahren des Fallverstehens, wie Risikobewertungsprozesse, wurde in den vergangenen Jahren durch die Erprobung in der Praxis vorangetrieben.