In den jüngsten Debatten um Radikalisierung und Distanzierung stellt Einsamkeit ein zunehmend wichtigeres Thema dar. Es ist dabei nur eines von vielen Themen, die Fachkräfte in der Beratungs- und Distanzierungsarbeit bearbeiten müssen (parallel etwa zu weiteren Aspekten wie Traumafolgen, Familienkonflikten oder beruflicher Neuorientierung).
Der vorliegende Beitrag zeigt, was die Forschung heute unter Einsamkeit versteht und welche Rolle diese in
Einsamkeit in Prozessen der Radikalisierung und Distanzierung
Was ist Einsamkeit?
In der aktuellen Forschung wird Einsamkeit als subjektiver Gefühlszustand beschrieben, der als negativ empfunden wird. Dabei wird zwischen emotionaler Einsamkeit und sozialer Einsamkeit unterschieden. Emotionale Einsamkeit kann daraus resultieren, dass eine vertrauensvolle, enge Beziehung fehlt. Soziale Einsamkeit fußt hingegen auf der fehlenden Einbindung in ein soziales Netzwerk aus Freund:innen und Bekannten. Die Rede ist dann auch von einer kollektiven Einsamkeit. Diese beschreibt die fehlende Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder zur Gesellschaft (Luhmann 2022, S. 22). Auch der Begriff der sozialen Isolation wird oftmals verwendet. Er umschreibt das objektive Fehlen von sozialen Beziehungen und Kontakten (Hawkley/Cacioppo 2010, S. 1).
Einsamkeit als ein Aspekt von Radikalisierungsprozessen
Einsamkeit kann sich auf verschiedene Weise in Radikalisierungsprozessen zeigen beziehungsweise niederschlagen. Sie ist ein Push-Faktor in frühen Radikalisierungsphasen. Da sie das fundamentale Bedürfnis nach Zugehörigkeit („need to belong“, Baumeister/Leary 1995, S. 497) untergräbt, erhöht sie die Anfälligkeit, sich Gruppen anzuschließen, die schnelle Anerkennung, klare Rollen und intensive Kohäsion (vereinfacht: ein „Wir-Gefühl“) versprechen. Die emotionale Leerstelle wird durch das extremistische Milieu mit Sinn- und Zugehörigkeitsangeboten gefüllt, denn Einsamkeit verstärkt die Identitäts- und Sinnsuche. Gefühle persönlicher Bedeutungslosigkeit korrelieren mit der Bereitschaft, sich radikalen Ideologien anzuschließen, die moralische Überlegenheit vermitteln (Jasko et al. 2018, S. 13). Insofern gibt es signifikante Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und autoritären Einstellungen, Verschwörungsmentalität
Einsamkeit als Thema der Distanzierungs- und Ausstiegsberatung
In der Distanzierungsberatung ist Einsamkeit ein wiederkehrendes Thema, da in Ausstiegsphasen oft Teile des bisherigen Beziehungsnetzes wegbrechen (Barrelle 2015, S. 9). Die Beratung fungiert dann als erste kompensatorische Beziehungserfahrung: Durch verlässliche, vertrauensvolle Settings erleben Ratsuchende Wertschätzung und Akzeptanz (Schwing/Fryszer 2017, S. 324). Die Berater:innen werden so zur „sicheren Basis“, von der aus neue soziale Felder erkundet werden können.
Gerade der systemische Ansatz
Für alle Berater:innen seien die Beratungs- und Therapie-Tools zu Kränkung und Einsamkeit (Lammers/Ohls 2023) empfohlen, die eine Vielzahl von Methoden und von Arbeitsmaterialien konkret vorstellen.
Erkenntnisse zu Distanzierungsprozessen
Einsamkeit in Distanzierungsprozessen
Auch unter Berater:innen muss das Thema Einsamkeit sehr differenziert betrachtet werden. Zu diesem Schluss kommt die Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA), in Kooperation mit dem Beratungsnetzwerk Grenzgänger, in seinem qualitativen Forschungsprojekt „Einsamkeit als Herausforderung für die Islamismusprävention: Perspektiven von Berater:innen, Therapeut:innen und Wissenschaft“
Erschwerter Aufbau von Beziehungen nach Zugehörigkeit in extremistischen Gruppierungen
Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach einer Phase extremistischer Zugehörigkeit ist mit erheblichen sozialen Hürden verbunden. Die Wiederaufnahme vorheriger familiärer und freundschaftlicher Kontakte ist schwierig; der Aufbau neuer sozialer Beziehungen stellt ein noch größeres Problem dar. Denn die Klient:innen stehen nun vor der Herausforderung, Lücken in ihrer Biografie, die beispielsweise durch Auslandsaufenthalte oder Haftstrafen entstanden sind, in den neuen sozialen Kontexten oder bei der Arbeitssuche zu erklären, ohne Ablehnung oder Angst auszulösen. Ein offener Umgang resultiert oft in Ausgrenzungserfahrungen und Stigmatisierung, was bestehende Einsamkeitsgefühle verstärken oder neue auslösen kann. Aber auch ein Verschweigen und somit das Verbergen eines Teils der eigenen Identität kann Einsamkeit zur Folge haben, denn die Zeit in der extremistischen Gruppe hat aufgrund der intensiven Erfahrungen zu tiefgreifenden identitätsbezogenen Veränderungen geführt. Dass diese Erfahrungen aus Angst vor Stigmatisierung nicht mitgeteilt werden können oder, wenn mitgeteilt, auf Unverständnis, Angst oder Ablehnung stoßen, erschwert die Rückkehr in das vorherige soziale Umfeld oder eine Integration in neue Kontexte.
Distanzierungsberatung als Chance
Subjektive Wahrnehmung versus äußere Beobachtung
Während Einsamkeit in wissenschaftlichen Diskursen klar definierbare Merkmale aufweist, präsentiert sie sich in der Beratungspraxis mit Klient:innen der tertiären Islamismusprävention oft diffus und indirekt. Statt direkter Aussagen, wie „Ich fühle mich einsam“ fallen oft Umschreibungen wie „Keiner versteht mich“, „Ich fühle mich wie abgeschnitten von allen“, „Ich passe nirgendwo rein“ oder „Ich verbringe viel Zeit alleine“, die auf ein tieferliegendes Einsamkeitsgefühl hindeuten können. Alternativ kann Einsamkeit durch die Berater:innen vermutet oder von Angehörigen angesprochen werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die äußere Beobachtung nicht zwingend mit dem subjektiven Empfinden der Klient:innen übereinstimmt.
Systemische Berater:innen interpretieren Einsamkeit nicht primär als individuelles Defizit, sondern betrachten sie im Kontext von gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen sowie des sozialen Umfeldes der Klient:innen und damit als systemisches Phänomen. Sie verstehen das individuelle Einsamkeitserleben ihrer Klient:innen als ein subjektives Empfinden, das verschiedene Leidensstufen annehmen kann. Dabei ist es zentral, dass die Berater:innen berücksichtigen, dass Einsamkeit oft mit Schamgefühlen einhergeht, da sie als Tabu gilt und unter Umständen als Zeichen persönlichen Versagens interpretiert wird, sodass es den Betroffenen in der Regel schwerfällt, über diese Gefühle zu sprechen.
Distanzierungsberatung als geschützter Raum
In der Distanzierungsberatung kann hier gezielt angesetzt werden. Zum einen, indem die Klient:innen mit den Berater:innen offen über ihre Erlebnisse und Empfindungen sprechen können,
Darüber hinaus zeigt die Erfahrung aus der Distanzierungsberatung, dass es ratsam ist, die Klient:innen dazu zu befähigen, Einsamkeit als Teil des (aktuellen) Selbst anzuerkennen und parallel dazu andere Identitätsaspekte zu stärken. Auch die Aktivierung von Ressourcen, die Stärkung von Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl sowie das Erfüllen von Bedürfnissen nach Anerkennung und Zugehörigkeit erweisen sich in der Praxis als hilfreich. Zu diesem Zweck bietet sich ein breites Spektrum an Beratungsmethoden an. Die Methodenwahl erfolgt sowohl spezifisch je nach Klient:innengruppe (Inhaftierte, Geflüchtete, Rückkehrer:innen, Jugendliche, etc.) als auch in von den Berater:innen reflektierten, individuellen Vorgehensweisen. Folgende Methoden werden von den Berater:innen dabei häufig eingesetzt:
Achtsamkeitsübungen können helfen, Gefühle von Einsamkeit bewusst zu betrachten und zu akzeptieren, was zur Offenheit gegenüber anderen führen kann.
Biografiearbeit ermöglicht das Erkennen von Ursachen für Einsamkeit und die biografische Einordnung.
Kreative Ansätze: Malen und Schreiben können helfen, sich über andere Ausdruckswege mitzuteilen und in Kontakt zu kommen und so das Gefühl der Einsamkeit zu verringern und das Selbstwertgefühl zu stärken.
Rollenspiele/Perspektivwechsel, zum Beispiel „Einsamkeit auf den Stuhl setzen und mit ihr reden“.
Niedrigschwellige Angebote: Ungezwungene Zusammenkünfte, Ehrenamt, Sportvereine, Tierheime können erste Schritte zum Aufbau neuer Kontakte sein.
Fazit
Einsamkeit führt zwar nicht zwangsläufig zu Extremismus, aber sie trägt zu einer Vulnerabilität bei, die Radikalisierungsprozesse begünstigen und eine Hürde bei der Distanzierung darstellen kann. Es hat sich gezeigt, dass Einsamkeit im Zusammenspiel mit weiteren Kontextfaktoren zu betrachten ist und jede Hilfe – neben der Distanzierung von einer extremistischen Ideologie und dem Herstellen von sozialen Kontakten – auch die zugrunde liegenden emotionalen und sozialen Bedürfnisse sowie die weiteren Kontextfaktoren adressieren sollte. Gerade der systemische Ansatz aus der Beratungsarbeit bietet hier eine sinnvolle Unterstützung und Intervention. Zentral sind Maßnahmen, die Beziehungen stärken, denn diese zielen letztlich immer auf eine Verringerung von Einsamkeit. Die Stärkung von verbindenden Kontakten und des Gefühls von Zugehörigkeit und Anerkennung erhöht zudem die Resilienz gegen weitere beziehungsweise künftige extremistische Ansprachen. Dafür bietet die Distanzierungsberatung eine Vielfalt an Ansätzen und Methoden. Ganz konkret sei hier auf die Beratungs- und Therapietools zur Einsamkeit von Maren Lammers und Isgard Ohls (2023) sowie auf praxisorientierte Bücher zur (systemischen) Beratung hingewiesen (unter anderem Schwing/Fryszer 2018; Schlippe/Schweitzer 2016).