Inklusion: eine Schule für alle Kinder?
Unter dem Schlagwort "Inklusion" wird in Politik, Wissenschaft und Praxis darüber diskutiert, ob Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam unterrichtet werden sollen. Ein Überblick über kontroverse Fragen und die wichtigsten Stimmen in der Debatte.
Alle Kinder sollen gemeinsam zur Schule gehen – egal ob sie blind sind oder taub, im Rollstuhl sitzen oder Verhaltensprobleme haben, egal ob sie langsam lernen oder kein Handicap haben. Diese Schule für alle wird unter dem Schlagwort "Inklusion" diskutiert.
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Was heißt Inklusion?
Die Vereinten Nationen und die deutsche Politik
Im März 2009 trat in Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kraft. Artikel 24 der Konvention garantiert das Recht auf inklusive Bildung. Dafür "gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen (...)", heißt es im Text. Kinder mit Behinderungen dürften nicht vom "allgemeinen Schulsystem" ausgeschlossen werden.Die Bundesländer müssen die Konvention umsetzen
Bildung ist in Deutschland Aufgabe der Bundesländer. Nicht nur der Bund, auch die Länder haben die UN-BRK unterzeichnet. Sie müssen ihre Schulen nun so reformieren, dass die Vorgaben der Konvention erfüllt werden. Aber was bedeutet ein Schulsystem im Sinn der Konvention? Schon in diesem Punkt herrscht Streit.
Diejenigen, die Inklusion strikt befürworten, darunter Expertinnen und Experten für Völkerrecht, folgern aus dem Vertragstext die vollständige Abschaffung der Sonderschulen. Befürworter des gegliederten Schulsystems argumentieren dagegen, dass die Sonderschulen Teil des allgemeinen Schulsystems seien – und damit zur Inklusion im Sinn der Konvention beitragen.

Die Reform hat begonnen
Unterdessen hat die Reform begonnen. In einigen Bundesländern werden bereits Sonderschulen aufgelöst – die Schülerinnen und Schüler werden an Regelschulen eingeschult, die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen dorthin versetzt. Dabei geht es im ersten Schritt fast überall um Kinder mit Problemen des Lernens, der emotional-sozialen Entwicklung und der Sprache (die sogenannten LES-Förderschwerpunkte). Fast drei Viertel aller Diagnosen entfallen auf diese Förderbereiche, andere Behinderungen wie etwa Seh- und Hörbehinderungen sind viel seltener. Langfristig bedeutet Inklusion aber, dass alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden, ungeachtet der Art ihrer Behinderung.
Die Sonderschulpädagogik

Eine eigene Schule für jede Behinderungsart
Das Sonderschulsystem ist selbst stark untergliedert. Es gibt unter anderem eigene Schulen für blinde, gehörlose, körperbehinderte, geistig behinderte, lernbehinderte und sprachbehinderte Kinder. Die sonderpädagogischen Lehrkräfte sind speziell für den Umgang mit einzelnen Behinderungen ausgebildet; an den Universitäten gibt es dafür jeweils eigene Lehrstühle. So ist ein sehr differenziertes Parallelsystem entstanden.
Die Kinder sind meist unter sich
Die Betreuung an den Sonderschulen ist intensiv und gilt als fachlich hoch spezialisiert; eine Lehrkraft unterrichtet meist nur wenige Kinder. Diejenigen, die Sonderschulen befürworten, sprechen oft von einem Schutzraum, in dem die Kinder am besten gefördert werden könnten. Die Sonderschulen haben aber einige große Nachteile: Die Kinder mit Behinderungen sind fast immer unter sich. Oft liegen die Schulen am Stadtrand, weit entfernt von den Wohnorten der Kinder. Die Schülerinnen und Schüler werden früh zu Hause abgeholt und abends zurückgebracht. Nur jedes vierte Kind an einer Sonderschule macht einen Schulabschluss; entsprechend schwer ist für die meisten der Weg ins Berufsleben. Wer eine Sonderschule besucht, ist oft gesellschaftlich stigmatisiert – und bleibt es auch später.

Geht durch Inklusion Fachwissen verloren?
Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, muss die Ausbildung der sonderpädagogischen Lehrkräfte reformiert werden. Viele von ihnen fürchten aber, dass Fachwissen verloren geht, wenn die strikte Spezialisierung gelockert wird. Mit solchen Befürchtungen ist oft auch die Sorge verbunden, Privilegien zu verlieren. Denn zurzeit werden sonderpädagogische Lehrkräfte bezahlt wie Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, also deutlich besser als Lehrkräfte an Grundschulen. Gäbe es irgendwann nur noch einen Schultyp, müsste die Politik auch die Bezahlung angleichen. Das weckt Ängste – und Widerstand gegen die Inklusion.