Aktuelle Strukturprobleme des deutschen Bildungswesens
Das über lange Zeit international hoch geschätzte deutsche Bildungssystem ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten zunehmend in die Kritik geraten. Galt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die höhere Bildung, insbesondere die Universitäten und Forschungseinrichtungen, als vorbildhaft und genoss in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre hinein die duale Berufsausbildung von betrieblicher und schulischer Unterweisung fast ungeteilte Bewunderung im In- und Ausland, so hat sich insbesondere unter dem Eindruck unterschiedlicher OECD-Studien (nicht nur PISA) die Wahrnehmung deutlich eingetrübt. Die Hauptaspekte der nationalen und internationalen Kritik am deutschen Bildungssystem insgesamt:
die anhaltende Bildungsbenachteiligung der Kinder aus den unteren sozialen Schichten. Diese drückt sich ebenso in ihrer geringeren Beteiligung in der höheren Bildung (Gymnasien, Universitäten) wie in einem im Durchschnitt niedrigeren kognitiven Niveau im Vergleich mit Kindern aus den höheren Sozialschichten ausdrückt, wie sie in den PISA-Studien immer wieder nachgewiesen worden ist (vgl. Baumert/Schümer 2001 und weitere PISA-Berichte, Maaz/Baumert/ Trautwein 2010);
die geringe Durchlässigkeit von der Berufsbildung in die Hochschule, die trotz administrativer Lockerung der Zugangswege zur Hochschule bis heute mehr oder weniger starr bestehen bleibt: nach wie vor finden sich unter den Studierenden an deutschen Universitäten nur wenige, die ihre Studienberechtigung über berufliche Bildungswege erlangt haben;
die in den letzten beiden Jahrzehnten immer deutlicher zutage getretenen Zugangsbarrieren für Jugendliche mit maximal Hauptschulabschluss selbst zur beruflichen Bildung auf der mittleren Ebene der Fachkräfteausbildung im dualen und im Schulberufssystem und
schließlich die mangelhafte Integration von Kindern mit Migrationshintergrund oder ausländischen Jugendlichen ins deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem.
Diese Probleme, die das deutsche Bildungswesen seit langem begleiten und auf eine nachhaltige Lösung bis heute warten, lassen sich im Kern auf das zurückführen, was man das deutsche Bildungs-Schisma nennen kann: eine scharfe institutionelle Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, die schon früh in der deutschen Bildungsgeschichte entstand und bisher von keiner Bildungsreform ernsthaft angegangen worden ist.
Was ist das deutsche Bildungs-Schisma?
Mit dem Begriff "Bildungs-Schisma" ist die grundlegende Trennung von höherer Allgemeinbildung und Berufsausbildung unterhalb der Hochschulebene gemeint, die in dieser Form nur in Deutschland – annäherungsweise allenfalls noch in anderen deutschsprachigen Ländern (vor allem Österreich und Schweiz) – existiert. Die Abschottung von allgemeiner und beruflicher Bildung gegeneinander rührt daher, dass die beiden Bildungsbereiche vollkommen unterschiedlich organisiert sind. Sie haben sich im letzten Jahrhundert weitgehend isoliert voneinander nach je eigenen Regeln und Logiken entwickelt und weisen wenig organisatorische Verbindungen miteinander auf, so dass junge Menschen schwer vom einen in den anderen Bildungsbereich wechseln können.
Soziologen verwenden den Begriff "Institution", um soziale Gebilde zu beschreiben, die über lange Zeit Bestand haben und auf gemeinsamen Ideen und Vorstellungen darüber basieren, wie man bestimmte Dinge "am besten" organisieren sollte, und die so die Arbeitsprozesse und das Verhalten der in ihnen agierenden Mitglieder und Nutzer prägen. In diesem Sinne lassen sich z. B. politische Systeme, Wirtschaftsmodelle, Bildungseinrichtungen oder – wie in unserem Zusammenhang – eben auch ganze Bildungsbereiche als Institutionen bezeichnen. Institutionen geben sozialen Abläufen, die prinzipiell auf unterschiedlichste Weise gestaltet sein können, eine ganz bestimmte "institutionelle Ordnung", also eine Grundlogik, nach der alles organisiert wird. Stellen wir die institutionellen Ordnungen gegenüber, welche die allgemeinbildenden Schulen/Hochschulen auf der einen und die duale Berufsausbildung (als die in Deutschland dominierenden Form der Berufsbildung) auf der anderen Seite prägen, lässt sich sichtbar machen, in welcher Hinsicht sich die großen Ausbildungsbereiche unterscheiden (vgl. Tabelle) und warum ihre Abschottung gegeneinander schwer zu überwinden ist (einen kurzen Überblick über Entstehung und Funktionsweise der dualen Berufsausbildung gibt es Interner Link: hier):
Leitideen und Lernziele
Die beiden großen Bildungsbereiche folgen sehr unterschiedlichen Leitideen. Die höhere Allgemeinbildung steht in der deutschen Bildungstradition und der von ihr entwickelten Vorstellung der "gebildeten Persönlichkeit" bzw. – moderner gesprochen – der Perspektive, dass Schule das Individuum befähigen soll, sein Leben in der Gesellschaft autonom zu gestalten (vgl. Konsotium Bildungsberichterstattung 2006, S. 2). Grundlage dafür ist ein Kanon repräsentativen Wissens – ein mehr oder weniger universelles Curriculum, das sich in allen Ländern der westlichen Welt in ähnlicher Form findet und zunehmend durch eine Orientierung an der Wissenschaft geprägt ist.
Die Berufsausbildung ist gegenüber dieser umfassenden Bildungskonzeption auf der Leitidee beruflicher Handlungskompetenz gegründet, nach der Berufsausbildung die Fähigkeit vermitteln soll, berufliche Rollen in betrieblicher Arbeit wahrzunehmen und sich auf Arbeitsmärkten bewegen zu können (vgl. Baethge 2007, S. 99). Entsprechend orientieren sich die Curricula in der beruflichen Bildung im Wesentlichen an den fachlichen und sozialen Qualifikationsanforderungen der Erwerbsarbeit. Sie sind stärker auf die unmittelbare Anwendbarkeit des Gelernten ausgelegt als die allgemeinbildenden Curricula, damit aber auch begrenzter, was das Spektrum des systematischen Wissens und der kognitiven Kompetenzen angeht, die angeeignet werden.
Zuständigkeit und Finanzierung
Den unterschiedlichen Leitideen entsprechen zugleich sehr unterschiedliche organisatorische Settings. Das allgemeinbildende Schulwesen liegt in der Verantwortung des Staates, genauer gesagt im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer. Deren Bildungsadministrationen (Ministerium und Verwaltung) unterliegen wiederum der demokratischen Kontrolle durch die Landesparlamente. Ganz anders sieht es in der betrieblich dominierten Berufsbildung aus. Ihre Gestaltung erfolgt wesentlich "korporatistisch", d.h. durch die großen Interessenvertretungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, unter Beteiligung des Bundes. Auf der Bundesebene ist dabei in erster Linie das Wirtschaftsministerium zuständig, weil die duale Berufsausbildung bis heute als Teil der Wirtschaft- und der Arbeitsmarktpolitik und nicht der Bildungspolitik organisiert wird. Diesen Gegensatz zur Allgemeinbildung kann man als politischen Kern des deutschen "Bildungs-Schisma" bezeichnen.
Dem korrespondiert die Finanzierung: Das allgemeinbildende Schulwesen wird durch Länder und Kommunen öffentlich finanziert und ist in seiner Entwicklung von deren haushaltspolitischen Spielräumen abhängig. Die Berufsbildung wird hingegen primär von den Ausbildungsbetrieben privat finanziert, sodass Angebot und Qualität von Ausbildungsplätzen an die Ausbildungsbereitschaft der einzelnen Betriebe geknüpft sind. Die enge Bindung an die einzelbetriebliche Finanzierung macht das Ausbildungsangebot unmittelbar von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig – so stellen Betriebe z.B. in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs tendenziell weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung.
Organisation der Lernprozesse
Die Organisation der Lern- bzw. Ausbildungsverhältnisse lässt sich nach dem Kriterium der Praxisnähe charakterisieren. Allgemeinbildende Schulen sind Einrichtungen, die aus dem Lebens- und Arbeitsalltag weitestgehend ausgegliedert sind; sie widmen sich allein der Organisation von Lernprozessen. Im Gegensatz dazu findet das Lernen in der Berufsausbildung zu den größten Teilen in unmittelbarer Verbindung mit Arbeitsprozessen statt. Die Verbindung von Lernen und Arbeiten ist oft als die große Stärke der deutschen Berufsausbildung beschrieben worden: die unmittelbare Anschauung der Nützlichkeit des Gelernten und die Erfahrung des eigenen produktiven Beitrags im Arbeitsprozess setze eine hohe Lernmotivation bei Jugendlichen frei, während die Abgehobenheit schulischer Lernprozesse vom sonstigen Alltagsleben leicht demotivierend wirke. Kehrseite des engen Praxisbezugs ist dabei eine relativ starke Engführung der Lerngegenstände (s.o.).
Status der Lernenden und des Lehrpersonals
Die unterschiedliche rechtliche Rahmung der beiden Bildungsbereiche schlägt sich auch in der Definition des Status der Lernenden nieder. Das Ausbildungsverhältnis ist kein öffentlich-rechtlich geregeltes Schüler-Verhältnis wie in der Allgemeinbildung. Dem Recht der Arbeit und der Wirtschaft folgend, ist es vielmehr ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, in dem der Auszubildende auch einen Lohn, die sogenannte Ausbildungsvergütung, erhält. Entsprechende Unterschiede gibt es auch im Status und der Professionalität des Personals. Lehrkräfte sind zumeist Angestellte oder Beamte im öffentlichen Dienst und haben einen Hochschulabschluss, d.h. sie besitzen einen professionellen Status und relativ hohe Beschäftigungssicherheit. Demgegenüber sind betriebliche Ausbilder Angestellte des Ausbildungsbetriebs und müssen für ihre Ausbildungstätigkeit kein Studium absolviert haben, erwerben ihre Ausbildungsbefähigung in der Regel durch berufliche Erfahrung, die von Kursen ergänzt werden kann.
Das Bildungsschisma als Reformhindernis
Keine der beiden skizzierten institutionellen Ordnungen ist per se besser als die andere. Institutionelle Ordnungen dienen einfach den Zwecken, für deren Bearbeitung sie geschaffen worden sind. Erfordern Veränderungen in der gesellschaftlichen Umwelt eine Anpassung an neue Gegebenheiten, kann es zu internen Reformen kommen – im Fall der allgemeinbildenden Schule etwa zu Veränderungen im Lehrplan der höheren Bildung oder in der Verwaltung der Schulen ("Schulautonomie"), im Fall der dualen Berufsausbildung etwa zur Neuordnung von Berufsbildern. Solche internen Reformen hat es in beiden hier betrachteten Bildungsbereichen in den letzten vierzig Jahren in vielfältigen Formen gegeben.
Das Problem des Bildungs-Schisma wird durch solche Reformen allerdings nicht gelöst. Es erweist sich auch überhaupt erst dann als Problem, wenn die unterschiedlich ausgestalteten Bildungsbereiche sich zu überlappen beginnen und die Bildungspolitik vor der Aufgabe steht, zur Verbesserung des Gesamtsystems – etwa zur Verbesserung der Bildungsmobilität der nachwachsenden Generationen oder zur Erhöhung der Studierendenquote insgesamt (oder auch fachspezifischer Quoten z.B. in den Natur- und Ingenieurswissenschaften) – bereichsübergreifende Reformen durchzuführen und die institutionellen Abschottungen aufzubrechen. In dieser Situation werden die institutionellen Ordnungen der beiden Bereiche schnell zur Reformbarriere. Denn sie sind nicht beliebig veränderbar, sondern historisch gewachsene Gebilde, die als solche auch die Betrachtungsperspektiven und Interessen ihrer Träger und Nutzer prägen und langfristig formen. So halten etwa die Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen) an der Gestaltung der Berufsbildung oder Gymnasiallehrkräften an ihrem gesellschaftlichen Status oder auch die bürgerliche Bildungsschicht an einer privilegierten Bildung für ihre Kinder fest. Solche gruppenspezifischen Interessen und Betrachtungsperspektiven verleihen institutionellen Ordnungen ein starkes Beharrungsvermögen und machen grundlegende Reformen schwierig.
Die historischen Wurzeln des Bildungsschismas
Im Fall des Bildungs-Schismas reichen die Wurzeln der "Institutionalisierung" beider Bildungsbereiche in die vorindustrielle Zeit zurück, ohne dass sie zeitlich und inhaltlich mit Bezug aufeinander entstanden wären.
Für die duale Berufsausbildung liegt der Kern ihres Ausbildungsmodells, die arbeitsintegrierte betriebliche Lehre – also das Lernen des Auszubildenden durch Mitwirkung an den Arbeitsabläufen im Ausbildungsbetrieb – in der Interner Link: vorindustriellen handwerklichen Berufsausbildung. Sie wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts von der Industrie übernommen und an deren Bedürfnisse angepasst und bekam in der Fortbildung eine schulische Unterrichtsorganisation an die Seite gestellt (vgl. Greinert 1998), die später als Berufsschule ergänzend zum Betrieb theoretisches Wissen vermitteln sollte, aber immer der betrieblichen Ausbildung nachgeordnet war.
Die höhere (gymnasiale) Allgemein- und die Hochschulbildung entwickelten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts abseits der entstehenden Industrie und der bürgerlichen Gewerbe unter dem Eindruck des neuhumanistischen Bildungskonzepts (Humboldt). Dieses richtete sich auf die Bildung des Menschen "an sich", d.h. ohne Betrachtung seiner sozialen Herkunft und beruflichen Umgebung, und zielte explizit darauf, Lerninhalte, die sich auf lebenspraktische und berufliche Belange bezogen, aus dem Lehrplan fernzuhalten. Beide, Gymnasial- und Hochschulbildung, die bis heute eng aufeinander bezogen sind, waren als "zweckfreie" Bildung eines "sittlichen Individuums" konzipiert, auch wenn in der Realität die Universitäten im Wesentlichen den Beamtennachwuchs des Staates ausbilden und Gymnasien auf diese Ausbildung an der Hochschule vorbereiten sollten (vgl. Baethge 2007; Friedeburg 1987).
Als Resultat kann man zugespitzt formulieren: es etablierte sich das Schisma zwischen einer praxisfernen höheren Allgemeinbildung und einer bildungsfernen Berufsbildungspraxis. Die beiden Bildungsbereichen von ihrer historischen Herkunft eingebrannten Wahrzeichen wirken bis heute als schwer überwindbare Trennlinien nach und begründen die eingangs skizzierten Schwächen des Bildungssystems als Ganzes. Ihre Wirkungen sind auch nicht auf das Bildungssystem beschränkt, sondern greifen tief in die Gesellschaftsstruktur und die gesellschaftlichen Teilhabechancen der jungen Generation ein.
Bildungsexpansion und Bildungs-Schisma
Im Zuge der Interner Link: bildungspolitischen Aufbruchsstimmung der 1960er und 1970er Jahre wurde vor allem vonseiten der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften eine stärkere Zusammenführung von allgemeiner und beruflicher Bildung gefordert. Der "Deutsche Bildungsrat" – ein Gremium, das unter Mitarbeit von Politikern und Experten aus Wissenschaft und Praxis zahlreiche Gutachten und Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Bildungssystems vorlegte – erarbeitete auch entsprechende Reform-Konzepte. Doch weder die in der beruflichen Bildung engagierten Akteursgruppen, etwa die unternehmerischen Spitzenverbände und Kammern, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, noch die der höheren Allgemein- und Universitätsbildung verbundenen Akteursgruppen, etwa die Kultusadministrationen der Länder und die bürgerlichen Mittelschichten, waren für ein solches Vorhaben hinreichend aufgeschlossen. So fanden sich für die Umsetzung einer bereichsübergreifenden Reform keine politischen Mehrheiten. Die Erwartung, dass mit der Bildungsreform das Bildungs-Schisma und die in ihm begründeten sozialen Ungleichheiten in der Bildungsteilhabe aufgehoben und der geringeren gesellschaftlichen Bewertung der Berufs- gegenüber der Hochschulbildung entgegengewirkt würde, erfüllte sich nicht. Die Bildungsreform verlief vielmehr in der Traditionslinie des Bildungs-Schismas und privilegierte die höhere Allgemeinbildung, die in den Folgejahren einen starken Zuwachs an Lernenden verzeichnete. Die systemischen Strukturschwächen der Abschottung von beruflicher und allgemeiner Bildung wurden nicht angegangen, so dass am Ende die alten sozialen Spaltungen zwischen beruflich und akademisch Ausgebildeten erhalten blieben und durch neue ergänzt wurden.
Weiter zum Beitrag: Interner Link: Alte und neue Ungleichheiten in der Berufsbildung