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Die Geschichte des Lernens mit Lehre | Bildung | bpb.de

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Die Geschichte des Lernens mit Lehre

Ulrich Herrmann

/ 9 Minuten zu lesen

Die Ziele und Formen des Lernens in der Schule sind heute andere als früher. Neue Bildungsideale, innovative pädagogische Ansätze und wissenschaftliche Erkenntnisse gaben immer wieder Anlass, die gängige Lehr-Lern-Praxis zu überdenken. Über die Zeit verlor das Stoffpauken an Bedeutung, im Vordergrund steht nun der Erwerb von Kompetenzen.

Schüler im Russischunterricht 1956. Während der Lehrer die Lerninhalte an die Tafel schreibt, müssen die Schüler aufmerksam zuhören. (© dpa/ Mary Evans Picture Library)

Im Normalfall lernt ein Mensch immer, weil er sich ständig mit neuen Informationen und Situationen auseinandersetzen muss. Unsere Lerngeschichte beginnt mit dem "natürlichen" Lernen, ohne Personen als Lehrer. In überschaubar strukturierten Verhältnissen (z. B. in vorindustriellen Dorfgemeinschaften) lernen heranwachsende Menschen meist alles, was sie zum Überleben brauchen, ohne Lehrer und Schule. Wenn die Anforderungen an die (beruflichen) Tätigkeiten jedoch wachsen, das Leben immer komplexer und die Zukunft unsicherer wird, müssen das Ausmaß und die Intensität des Lernens zunehmen, um die Menschen auf ein selbstständiges Leben angemessen und erfolgreich vorzubereiten. Dieses Lernen wird in eigens dafür geschaffenen Institutionen und durch professionelle Lehrkräfte organisiert.

Die sogenannten höheren Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben, Rechnen und mathematische Operationen; Verstehen und Erklären von "Natur" nach den Modellen der Biologie, Chemie, Physik; Nachvollziehen philosophischer Probleme, sie alle setzen Fähigkeiten voraus, die nur durch gezielte Anleitung (Instruktion, Unterricht) vermittelt und nur durch methodisch-didaktisch angeleitetes Lernen angeeignet werden können. Jeder kennt dies aus eigener Erfahrung etwa beim Sport und beim Musizieren: Zu Anfang kann einem als Autodidakt ("Selbstbelehrer") durch Abschauen und Ausprobieren einiges gelingen, aber für anspruchsvollere Darbietungen kommt man nicht ohne systematische Anleitung und Übung aus. Vor allem gilt dies für die Beherrschung von Schriften und Zeichen, ohne deren Kenntnis uns Texte und Literaturen, Wissenschaften, Technik und viele Künste verschlossen bleiben. Im vorindustriellen Zeitalter, in der Landwirtschaft und im "alten Handwerk" wurden die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten in der Familie oder in einer Meisterlehre erworben. Heute muss hingegen selbst auf "einfachere" Berufe in mehrjähriger Ausbildung in Betrieb und Berufsschule vorbereitet werden.

Lernen durch Unterricht in Schulen

Unsere kulturelle und soziale Verständigung geschieht nicht mehr über einfache Gesten und Zeichen, sondern über komplizierte Symbolsysteme wie Sprache, Schrift und mathematische Zeichen. Wer sie in den früheren Kulturen beherrschte, besaß die Macht. Man denke nur an die "Priesterherrschaft", an die Herrschaftseliten mit ihren Tempel- oder Klosterschulen und an die Adelsakademien. In der modernen Leistungsgesellschaft wurde die Kenntnis dieser Symbolsystemen jedoch zur unverzichtbaren Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe, sodass heute alle Menschen in diese Systeme eingeführt werden müssen.

Der Weg dahin begann im 17. Jahrhundert zunächst in einem Lehr-Lern-System, dessen Grundüberzeugung lautete: Der Schüler lernt, was der Lehrer lehrt. Nach diesem Muster wurde der Elementarunterricht in den Kloster- und weltlichen Schulen abgehalten. Und auch das Vorlesen beziehungsweise Diktieren und das Nachschreiben an den Universitäten folgte bis zum 19. Jahrhundert dieser Logik. Ein württembergisches Lesebuch aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bringt dies so zum Ausdruck:

Zitat

Die Schulstunde schlägt. Die Schulkinder kommen. Sie sitzen ruhig auf ihre Plätze. [mundartlich] Der Lehrer kommt. Alle Kinder stehen auf und grüßen ihn. […] Die Kinder setzen sich. Der Unterricht beginnt. Der Lehrer lehrt und befiehlt. Die Kinder merken auf, gehorchen und lernen. Die paar Schulstunden gehen nützlich und schnell vorüber. Die Schule ist aus, und die Kinder gehen ruhig heim. Man sieht, dass der Unterricht gute Früchte getragen hat.

Ch. Raible (1874) Lesebuch für Volksschulen, 1. Schuljahr. Selbstverlag. Wäschenbeuren, Württemberg, S. 16, §23

Dabei zeichnet der biedere Lesebuchverfasser ein Wunschbild, und ob und was die Kinder gelernt haben, kann er natürlich nicht sagen. Damit steht er aber bis heute nicht allein. Noch immer ist der Irrtum weit verbreitet, besonders in den lehrer- und (lehr-)stoffzentrierten sogenannten Höheren Schulen, die Schüler würden lernen, was unterrichtet wird. Das mag ja zufallsweise so sein, tatsächlich lernen Schüler aber nur, was sie sich selbst aktiv angeeignet haben. Alles andere bleibt bestenfalls im Kurzzeitgedächtnis verfügbar und ist mit zeitnaher Auffrischung vor einem Test abrufbar, aber danach wird es vergessen.

Infobox10 Schulgebote aus einem württembergischen Lesebuch für die Volksschule (1874)

  1. Geh', liebes Kind, zur Schule gern,
    Bleib' ohne Noth davon nicht fern!

  2. Zur Schul' komm pünktlich ganz und rein,
    Laß unterwegs das Lärmen sein!

  3. Tritt zur Schul' mit Grußeswort,
    Setz' still dich hin auf deinen Ort!

  4. Beim Unterricht gib stets wohl Acht,
    Antworte laut und mit Bedacht!

  5. Stets sollst du deinen Lehrer ehren,
    Ihn lieben, treulich auf ihn hören!

  6. Mach' deinem Lehrer nie Verdruß,
    Damit er dich nicht strafen muß.

  7. Zu zanken, lärmen, plaudern, essen,
    Darfst in der Schul' dich nicht vermessen.

  8. Fromm, fleißig, aufmerksam zu sein,
    Das sei dein Schulziel, Groß und Klein!

  9. Und wenn die Schule nun ist aus,
    Geh' still und sittsam dann nach Haus!

  10. Daheim mach' deine Schularbeit
    Mit Fleiß und Treu zu jeder Zeit.

Quelle: Ch. Raible (1874) Lesebuch für Volksschulen, 1. Schuljahr. Selbstverlag. Wäschenbeuren, Württemberg, S. 16, §24

Die "Entdeckung" der Kindheit revolutioniert Vorstellungen vom Lernen

Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die Wirksamkeit der bis dahin etablierten Formen des Lehrens und Lernens ("Eintrichtern" und Auswendiglernen) zunehmend infrage gestellt. Progressiv denkende Pädagogen in der Gruppe der "Philanthropen" (Menschenfreunde) wie Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann und Peter Villaume beobachteten die Kinder und Schüler und fanden so Bedingungen und Verfahren erfolgreichen Lernens heraus. Ihr neues Verständnis von Lernen beruhte auf Förderung von Neugier ("Wissbegierde"), Ermutigung und Erfolgszuversicht. Vor allem begriffen sie Lernen als selbstständige Tätigkeit ("Selbsttätigkeit"). Wurde bis dahin die Situation des Kindes und Jugendlichen als Schwäche – weil Unfertigkeit – verstanden, vollzog sich jetzt in der Anthropologie (der Wissenschaft vom Menschen) ein Paradigmenwechsel. Ein neues Menschenbild setzte sich durch: Was als Schwäche des jungen Menschen erscheint, seine Unfertigkeit, ist in Wahrheit seine Stärke. Er kann nämlich in unbegrenztem Maße lernen und sich dadurch geistige und kulturelle Welten erschließen, die seine Herkunftsgebundenheit ins Unendliche überschreiten und erweitern können. Aus eben dieser Grundüberzeugung heraus denkt der Philosoph und Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt den Bildungsprozess des Menschen in solch euphorischen Begriffen wie Totalität, Universalität und Unendlichkeit (im Sinne von Unabschließbarkeit). Interner Link: Bildung – zwischen Ideal und Wirklichkeit

Das neue Konzept des Lernens ist eingebettet in ein neues Verständnis des Generationenverhältnisses: In der frühen bürgerlichen Leistungsgesellschaft werden Kindheit und Jugend als eigenständige und vollwertige Lebensphasen angesehen. Sie werden von nun an als Entwicklungsphasen wertgeschätzt, in denen der Grund gelegt wird für gesellschaftlichen Aufstieg (z. B. durch Schule und Studium Aufstieg in die entstehenden Funktionseliten einer privilegierten Beamtenschaft oder in die freien akademischen Berufe). Auch die Mädchen aus dem Bürgertum wurden als künftige Mütter und Erzieherinnen in die pädagogischen Überlegungen einbezogen. Ihre spezifische Aufgabe wurde darin gesehen, das „kulturelle Kapital“ der Familie zu sichern und zu mehren, also beispielsweise für eine gehobene dialektfreie Sprache, Strebsamkeit, sittsames Betragen und ein anständiges Erscheinungsbild der Kinder zu sorgen.

Die Devise "Aufstieg durch Bildung" ist eine der zentralen Verheißungen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie gilt für alle, auch wenn nicht allen der Aufstieg gelingen kann. Doch alle müssen sich durch Lernen um den Erfolg und ihren zukünftigen Platz in der Gesellschaft bemühen. Die Schule wiederum soll durch eine aufgeklärte Pädagogik für alle Kinder günstige Lernbedingungen schaffen.

Erfolgsbedingungen des Lernens – seit langem bekannt und noch immer aktuell

Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert erkannten Pädagogen, dass Lernen nur dann dauerhaft erfolgreich ist, wenn Aufgaben, Erwartungen und Umfeld mehrere förderliche Bedingungen erfüllen. Diese Grundsätze erfolgreicher Lehr-Lern-Prozesse sind bis heute gültig und zudem neurowissenschaftlich gut erklärbar.

  • Den Lernenden sollen praktische Herausforderungen als Lerngelegenheiten angeboten werden.
    Die Aufgaben müssen den Lernenden bewältigbar erscheinen und subjektiv Sinn machen, also an ihr aktivierbares Vorwissen anknüpfen. Sonst erlahmt das Interesse und damit die Lernwilligkeit.

  • Das Herangehen an diese Aufgaben soll den Lernenden so weit wie möglich selbst überlassen werden – mit angemessener Anleitung und Begleitung.
    Denn durch schrittweise Erfolge im Problemlöseprozess entwickelt sich dasjenige, was (häufig auch "intrinsische") Motivation genannt wird. Sie kann nicht von außen angeregt werden (das gilt nur für Neugier und Interesse), sondern ist ein interner neuropsychischer Prozess aufgrund von Erfolgserlebnissen.

  • Entmutigungen durch Sanktionieren von Fehlern müssen vermieden werden.
    Denn die normale Reaktion auf die Sanktionierung von Fehlern ist, dass sich der Lernende vorsichtshalber von den Fehlermöglichkeiten durch Vermeidungsverhalten oder sogar Untätigkeit zurückzieht, was ihm die Zuschreibung von Dummheit einträgt.

  • Nicht Intelligenz, sondern "Übung macht den Meister".
    Üben, Wiederholen und Vertiefen sind die Voraussetzungen erfolgreichen nachhaltigen Lernens. Die betreffenden neuronalen Netze werden verstärkt, ihre Nutzung beschleunigt und routinisiert, ihre Leistungsfähigkeit erhöht.

  • Anforderungen müssen individuell zugemessen werden.
    Unterforderung infolge von Langeweile bewirkt Lernverdruss und Überforderung durch Druck vermindert Lernwilligkeit oder verhindert sie sogar.

  • Lernzeiten müssen individuell bestimmbar sein.
    Zeitdruck erzeugt Versagensangst und dadurch die sprichwörtliche Blockade im Gehirn (was neurowissenschaftlich sehr schön nachweisbar ist).

Diese neue, pädagogisch und psychologisch durchdachte Lehr-Lern-Praxis wollte junge Menschen befähigen, sich aktiv mit den Herausforderungen einer ungewissen Zukunft auseinanderzusetzen. Denn am Anfang des 19. Jahrhunderts sah man mit dem Niedergang der altbekannten Ständegesellschaft und der einsetzenden Industrialisierung einem rapiden gesellschaftlichen Wandel entgegen. Deshalb sollten in der Schule weniger Inhalte ("Stoff") vermittelt als vielmehr Verhaltensweisen eingeübt und Kompetenzen erworben werden. Aufgrund der auf diese Weise gewonnenen Erfolgserfahrungen beim Lösen von Problemen, so die Erwartung, würden sich die jungen Menschen den neuen, unbekannten Herausforderungen besonders im Beruf zuversichtlich zuwenden können. Zum einen ging es um die "Verfleißigung des Menschen", also die Erziehung zu Leistungsbereitschaft und Arbeitswillen, um jeden Heranwachsenden in die Lage zu versetzen, seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten und nicht auf Almosen angewiesen zu sein. (Hier zeigte sich durchaus schon die heutige ökonomistische Sichtweise auf Bildung als individuelles und gesellschaftliches "Humankapital"). Ebenso ging es um die "Vielseitigkeit der Interessen": Zum einen würde die Festlegung auf wenige oder gar ein einziges Interessengebiet spätere Entscheidungsmöglichkeiten im Privaten und Beruflichen allzu sehr einschränken. Zum anderen würden vielseitige Interessen die Voraussetzung dafür schaffen, sich aus eigenem Antrieb immer wieder Wissen und Fertigkeiten anzueignen. Dies ist Pestalozzis und Humboldts Aspekt: Der Mensch als Werk seiner selbst.

Schulreform und die Rolle der Reformpädagogik

Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts setzten unterschiedliche anglo-europäische pädagogische Strömungen wie progressive education, éducation nouvelle, neue Erziehung – heute unter dem Begriff Reformpädagogik zusammengefasst – diese moderne Pädagogik in differenziert ausgearbeitete und erprobte Lehr-Lern-Arrangements um. Individuelle Lernchancen werden als individuelle Arbeits- und Aneignungsformen konkretisiert: in jahrgangsgemischten Gruppen, im individualisierten Arbeitsunterricht, in Kursen und Projekten, im vernetzten und fächerverbindenden Unterricht. Aber nicht der Unterricht stand im Zentrum, sondern der lernende Schüler. In der Einwanderungsgesellschaft der USA beispielsweise ging es um "interkulturelles Lernen", was andere Kommunikations- und Instruktionsformen erforderte als im herkömmlichen, an nationalen Sprach- und Bildungsnormen orientierten Unterricht: Gemeinsames Lernen musste durch gemeinsames Tun ermöglicht werden. Dafür wurden gemeinsame "tools" der Kommunikation und Verständigung entwickelt und genutzt (John Dewey: "learning by doing").

Die Reformpädagogik in Deutschland begab sich auf zwei Wegen in die Reform der Schule und zur Praxis des arbeitenden Lernens: durch die Kunsterziehung und den Arbeitsunterricht – also nicht auf dem Weg der Verbesserung von lehrerzentrierten Lehr-Lern-Arrangements, sondern durch die Freisetzung von Kreativität ("der Genius im Kinde") und Selbsttätigkeit ("der Schüler als Täter seiner Taten"). Ganz der Maxime von Maria Montessori folgend: "Hilf mir, es selbst zu tun."

Wenn heute zu Recht von Schulabsolventen Teamfähigkeit (soziale Kompetenzen) und vor allem Selbstorganisation (Methodenkompetenz) verlangt werden, dann reagieren immer mehr Schulen darauf, indem sie Arbeitsformen einführen, die ursprünglich aus der Reformpädagogik kommen. Für diese Arbeitsformen müssen allerdings bestimmte bauliche Voraussetzungen gegeben sein. Ebenso erfordern sie eine entsprechende Fortbildung der Lehrkräfte:

  • Der Ganztagsbetrieb hebt die Trennung von Lehrer-Lehrtätigkeit am Vormittag (Unterricht) und der Schüler-Lernarbeit am Nachmittag (Hausaufgaben) auf. Der Lehrer sieht die Schüler in der Schule bei der Arbeit und wird neben seiner Tätigkeit als Instruktor (bei Einführungen und Erläuterungen) zum Lern-Helfer. Die Professionalität des Lehrers zeigt sich dann nicht in einem möglichst perfekten "Erteilen von Unterricht", sondern im Entwickeln von Neugier auslösenden Frage- und Aufgabenstellungen samt Arbeits- und Kursmaterialien für seine Schüler.

  • Dadurch ist es einer Lehrkraft möglich, sich stärker als bisher den individuellen Lern- und Verstehensproblemen einzelner Schüler zuzuwenden. Außerdem lernt sie die Schüler im rhythmisierten Ganztag in mehreren Facetten ihrer Persönlichkeit und damit ihrer Potenziale kennen.

  • Der Tag und die Woche werden zeitlich rhythmisiert und das Schuljahr kann sich in größere Arbeitseinheiten gliedern, deren Abschluss die Präsentationen des Erarbeiteten bilden. Der arbeitend lernende Schüler rückt ins Zentrum des Schulalltags. Während der Schüler sich intensiv mit Aufgaben beschäftigt und Ergebnisse erarbeitet, wird er nicht immerzu durch Unterricht "abgelenkt". Dies alles setzt freilich voraus, dass die Schüler über entsprechend ausgestattete Arbeitsplätze verfügen, was in den öffentlichen staatlichen Schulen nur ausnahmsweise der Fall ist.

Die Prinzipien und die Arbeitspraxis der Reformpädagogik werden heute praktisch in allen Schularten und Schulstufen beachtet, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Bedeutung für den Lehr-Lern-Alltag. Kitas und Grundschulen sind heute fast vollständig reformpädagogisch geprägt, die Sekundarstufen I weiterführender Schulen weitgehend, Gymnasien weniger und deren Sekundarstufe II fast gar nicht (wobei es natürlich Ausnahmen gibt!). Doch die Entwicklung zu mehr Individualisierung und die vor allem seit PISA allgegenwärtige Forderung nach „kompetenzorientiertem“ Unterricht werden wohl dazu beitragen, dass die Prinzipien und Methoden der Reformpädagogik auch hier an Bedeutung gewinnen.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Ulrich Herrmann, geb. 1939 in Velbert/Rhld., war bis zu seiner Emeritierung 2004 Professor für Schulpädagogik an der Universität Ulm. Seine derzeitigen Arbeitsgebiete sind Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, Schulentwicklung, Neurodidaktik und die Ausgabe der Werke von Siegfried Bernfeld (bisher 5 Bände). Zuletzt erschien: Vom HJ-Führer zur Weißen Rose. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2012.