Um die Bildungsgerechtigkeit ist es im deutschen Schulsystem nicht besonders gut bestellt: Schüler:innen aus sozial schwächeren Haushalten haben deutlich schlechtere Bildungschancen als Kinder aus privilegierten Haushalten. Doch woran genau liegt das? In welchen Staaten ist die Problematik besonders ausgeprägt, in welchen kommt man der viel beschworenen Bildungsgerechtigkeit näher? Und was machen diese Länder anders? Über diese und andere Fragen spricht die Sozialwissenschaftlerin Dr. Anne Christin Holtmann in diesem Podcast – und berichtet von überraschenden Ergebnissen ihrer Doktorarbeit.
Gerechte Schulen – Wie können benachteiligte Schüler besser gefördert werden? Podcast von SWR2 – Ein Hörtipp vorgestellt im Dossier Bildung
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Warum Kinder aus sozial schwachen Familien schlechtere Bildungschancen haben und wie sie besser gefördert werden können, hat Anne Christine Holtmann erforscht. Ein Gespräch über ihre Ergebnisse.
Was Bildungsungerechtigkeit bedeutet
Nach den unerwartet schlechten PISA-Ergebnissen im Jahr 2001 wurde hierzulande sehr viel über den Zusammenhang von Schulleistungen und der sozialen Herkunft der Schüler:innen diskutiert. Deutschland war damals unter den teilnehmenden Ländern der PISA-Studie eines derjenigen, in denen dieser Zusammenhang am stärksten ausgeprägt war. Das heißt: Kinder von Eltern mit einem geringen Einkommen oder einem niedrigen Bildungsabschluss zeigten in den PISA-Tests deutlich geringere (sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche) Kompetenzen als Kinder aus gut situierten Familien. Dieser Umstand sei eine wesentliche Motivation für ihrer Doktorarbeit gewesen, so Holtmann. "Ich habe mich gefragt, ob es wirklich so ist, dass man die besten Schüler:innen nur gut fördern kann, wenn man sie auf verschiedene Schultypen aufteilt oder ob das auch möglich ist, wenn sie gemeinsam lernen".
Was man von erfolgreicheren Ländern lernen kann
Dass es Länder gebe, in denen der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungserfolg geringer ist, lässt für Holtmann erkennen, dass es so nicht sein muss – und dass sich ein Land in dieser Hinsicht verbessern oder auch verschlechtern kann. Jedoch könne man anhand von PISA nicht ohne weiteres sagen, warum genau ein Land nun besser sei als ein anderes. "Das ist ein bisschen wie in der Bundesliga", erläutert Holtmann. "Wenn man sieht, dass ein Verein Führer in der Bundesliga ist, dann weiß man halt noch nicht warum. Dann gibt es immer viele Theorien. Der eine sagt, es ist der Trainer, andere sagen, die haben gerade gute Spieler eingekauft". Und so sei es auch ein bisschen in diesem Bereich. Wenn ein Land bei PISA gut abschneide, heiße dies noch nicht, dass dieses Land gute Schulen habe. Es könne ja auch sein, dass die Kinder vor allem in den Familien gut gefördert würden.
Daher hat sich Holtmann mit ausgewählten Ländern näher beschäftigt, etwa mit Finnland, das in Sachen Chancengleichheit bei PISA zu den Vorzeigeländern gehört. Hier liegen die Kompetenzen der Kinder aus sozial schwächeren Familien sehr viel näher bei denen ihrer sozial besser gestellten Mitschüler:innen. Dies habe zum einen gesellschaftliche Gründe, resümiert Holtmann ihre Ergebnisse. Die finnische Gesellschaft weise ein relativ geringes Niveau an Ungleichheit auf, so dass soziale Unterschiede zwischen Familien nicht so stark seien. Zum anderen aber gleiche die finnische Schule herkunftsbedingte Nachteile vergleichsweise wirksam aus. Während etwa in den USA, die Holtmann ebenfalls näher in den Blick genommen hat, Kompetenzunterschiede zwischen Schüler:innen unterschiedlicher sozialer Herkunft im Laufe des Schuljahres größer würden, würden sie in Finnland kleiner. Daraus lasse sich schließen, dass die hohe Chancengleichheit in Finnland nicht nur auf gesellschaftlichen Umständen beruhe, sondern die Schulen hierzu einen aktiven Beitrag leisten.
Chancengleichheit und exzellente Leistungen stehen nicht in Konflikt
Das Ziel größerer Chancengleichheit, so Holtmann, werde in der bildungspolitischen Debatte oft missverstanden. Ein Mehr an Chancengleichheit laufe keineswegs darauf hinaus, dass die Lernergebnisse aller Kinder gleich würden oder sich die Leistungen der Schüler:innenschaft gar auf einem insgesamt niedrigeren Niveau einpendeln (weil die Leistungsstarken nicht mehr angemessen gefördert werden). Vielmehr bedeute Chancengleichheit schlicht, dass der familiäre Hintergrund nicht darüber entscheide, wie gut ein Kind in der Schule ist. Ein großes Verdienst der PISA-Studien habe darin bestanden zu zeigen, dass es eigentlich keinen Konflikt gebe zwischen
PISA hat in Deutschland zu vielen Reformen geführt
In manchen Ländern sei PISA gar nicht groß wahrgenommen worden, bemerkt Holtmann. Deutschland aber erlebte 2001 einen regelrechten „PISA-Schock“. In der Folge wurde Bildungspolitik zu einem Thema der Tagespolitik und es wurden im Schulsystem verschiedene Reformen umgesetzt – darunter etwa die Einführung von Ganztagsschulen oder die Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen in vielen Bundesländern, die nach Holtmanns Wahrnehmung ohne PISA wohl nicht so schnell gekommen wäre. Inzwischen habe sich Deutschland bei PISA zwar verbessert, sei jedoch immer noch weit entfernt von Ländern mit hoher Chancengleichheit, etwa den meisten skandinavischen Ländern, Japan, der Republik Korea oder Kanada.
Wo Reformen in Deutschland ansetzen könnten
Um die Dinge in Deutschland zum Positiven zu bewegen, braucht es nach Holtmanns Ansicht Veränderungen in zwei Bereichen: in der Familie und im Schulsystem. Zwar heiße es auch in der Bildungsforschung – häufig: "Wenn Bildungschancen von Familien abhängen, dann können wir ja nichts ändern". Das aber sei zu kurz gegriffen. Die Kluft zwischen armen und reichen, zwischen gebildeten und weniger gebildeten Familien sei beeinflussbar, etwa durch Sozial- und Steuerpolitik, durch Mindestlöhne und anderes mehr. In diesem Sinne sei Sozialpolitik auch eine Form der Bildungspolitik, so Holtmann. Im Hinblick auf das Schulsystem sei zunächst einmal festzuhalten, dass Schule für benachteiligte Kinder besonders zentral sei. Denn sie eröffne Chancen und Welten, die das Elternhaus oftmals nicht biete, beispielsweise den Zugang zu Literatur oder Musik, wenn man zuhause nicht von Büchern umgeben sei oder kein Instrument lerne. Oder die Intensivierung von Bekanntschaften außerhalb des eigenen sozialen Milieus. Eine größere soziale Durchmischung der Schulen ist deshalb für Holtmann ein Aspekt, dem Reformen hierzulande stärker Rechnung tragen müssten. Dies sei zwar auch eine Frage der Wohnungs- und Städtebaupolitik, doch auch die Schulpolitik könne dazu beitragen. Gerade stärker integrierte Schulformen böten hier eine Chance, wenn auch die Zusammenlegung von Schulformen allein nicht automatisch zu größerer sozialer Durchmischung führe. Aber auch z. B. Sommercamps, die verhindern, dass benachteiligte Kinder in den Sommerferien leistungsmäßig zurückfallen, seien sinnvoll. Denn gerade in der schulfreien Zeit, so ein weiteres Ergebnis von Holtmanns Studie, weitet sich die soziale Schere in der Kompetenzentwicklung der Kinder besonders stark.
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Dr. Benjamin Edelstein, geb. 1983, ist Politikwissenschaftler und forscht am Externer Link: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu schulpolitischen Themen, insbesondere im Kontext sozialer Bildungsungleichheit. Er ist Ko-Leiter des Externer Link: Expert:innenforums Startchancen, Redaktionsvorsitzender der Zeitschrift Externer Link: DDS - Die Deutsche Schule und Redakteur des Online-Dossier Bildung.
geb. 1994, studiert Philosophie im Master an der Humboldt-Universität in Berlin und arbeitet seit 2022 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in der Redaktion des Online-Dossier Bildung (bpb.de/bildung). Nach ihrem Bachelor-Abschluss arbeitete sie als Lehrerin für Philosophie am Gymnasium und als Informatik-Coach für Mädchen an Grundschulen.
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