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Bildung und soziale Ungleichheit – eine Einführung | Bildung | bpb.de

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Bildung und soziale Ungleichheit – eine Einführung

Benjamin Edelstein Simone Grellmann

/ 15 Minuten zu lesen

Bildungsungleichheit ist ein überaus komplexes Thema. Dieser Einführungsbeitrag gibt einen Überblick, reißt zentrale Fragen an und verlinkt auf die Beiträge im Themenbereich, in denen sie vertieft werden.

Schüler und Studenten laufen am Dienstag (17.11.2009) in einem Protestzug für bessere Studienbedingungen durch die Innenstadt von Nürnberg. (© picture-alliance/dpa, David Ebener)

„Meritokratie“
– Grundidee der demokratischen Leistungsgesellschaft

Du hast dein Leben selbst in der Hand! Dieses Versprechen ist für eine freiheitliche demokratische Gesellschaft grundlegend. Warum? Weil eine Demokratie auf der Freiheit und rechtlichen Gleichheit aller Individuen aufbaut, ihnen das Recht auf freie Selbstentfaltung und gesellschaftliche Teilhabe zusichert und jede Form der Diskriminierung verbietet. So steht es auch im deutschen Grundgesetz (Interner Link: siehe Art. 2 und 3 des Grundgesetzes). Welche berufliche Karriere man macht, wie viel man verdient und besitzt, wie viel Verantwortung, Macht oder Einfluss man hat, kurz: auf welcher Position innerhalb der sozialen Schichtung der oder die Einzelne im Laufe des Lebens landet, soll sich auf Grundlage eines freien und fairen Wettbewerbs entscheiden. Über Erfolg und Misserfolg, so die „meritokratische“ Leitidee (siehe Infobox), sollen allein Fähigkeiten und Fleiß entscheiden und nicht günstige oder ungünstige „äußere“ Umstände wie etwa die Vermögensverhältnisse der Familie und deren soziale Beziehungen oder Zuschreibungen etwa aufgrund des Geschlechts oder einer Behinderung (siehe Beitrag: Interner Link: Hopf & Edelstein).

Was heißt "Meritokratie"?

Der Begriff Meritokratie leitet sich vom lateinischen Wort meritum (Verdienst, Lohn, Würdigkeit) ab, wobei mit dem nachgestellten -kratie (vom altgriechischen kratos: Stärke, Macht, Herrschaft) stets ein für die Gesellschaft leitendes Prinzip gemeint ist. Wie also z. B. Demokratie (vom altgriechischen demos) wörtlich „Herrschaft des Volkes“ oder Plutokratie (vom altgriechischen plutos) „Herrschaft des Geldes“ bedeutet, lässt sich Meritokratie als „Herrschaft der Leistung“ übersetzen. Der Begriff bezeichnet also eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der als legitim angesehenen Verteilung von Einfluss, Macht und Gütern, die auf dem Leistungsprinzip beruht: Wer welche Positionen einnimmt (etwa betriebliche oder politische Leitungspositionen) und wer welche Güter in welchem Umfang erhält (etwa Bildungsmöglichkeiten oder ein hohes Einkommen), soll sich allein an der unter Beweis gestellten Leistungsfähigkeit des Individuums entscheiden.

Meritokratie beschreibt damit ein ganz grundlegendes Ideal der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die in diesem Sinne häufig auch als „Leistungsgesellschaft“ bezeichnet wird. Sie versteht sich als Gegenentwurf zu Gesellschafts- und Verteilungsformen, in denen Gruppen oder Personen aufgrund von angeborenen oder vererbten Eigenschaften – gemessen am Leistungsprinzip also unverdient – in den Genuss sozialer Privilegien kommen, wie z. B. in der Aristokratie (vom altgriechischen aristos, „von vornehmer Geburt“), die (adelige) familiäre Herkunft zur wesentlichen Voraussetzung für soziale Geltung und den Zugang zu prestigereichen Posten etwa in Staat und Verwaltung machte.

Geprägt wurde der Begriff Meritokratie maßgeblich durch den britischen Soziologen und Sozialpolitiker Michael Young, der im Jahr 1958 ein satirisches Buch mit dem Titel The Rise of Meritocracy veröffentlichte. In Reflexion der politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit entwarf er das dystopische Bild einer Gesellschaft, in der soziale Positionen und Macht tatsächlich allein auf individueller Intelligenz und Leistung basieren, was er zugespitzt mit der Formel IQ + Effort = Merrit (IQ + Anstrengung = Verdienst) zum Ausdruck brachte. In den Folgejahren fand der Begriff Eingang etwa in die politische Philosophie und Soziologie, wo er in der Regel allerdings ohne die kritischen Untertöne verwendet wird, die Young mit dem Konzept der Meritokratie ursprünglich verband. Zwar finden sich im wissenschaftlichen Diskurs weiterhin kritische Analysen, die etwa den Ideologiegehalt des Meritokratiegedankens problematisieren und auf die in ihm angelegte Rechtfertigung und Relativierung bestehender sozialer Ungleichheiten aufmerksam machen. Überwiegend wird der Begriff jedoch in neutral-beschreibender Absicht verwendet und dient als Kurzformel, die zentrale Wesenszüge der bürgerlichen (Leistungs-)Gesellschaft hervorhebt, insbesondere:

  • Verantwortungsvolle Positionen werden auf Basis nachgewiesener Kompetenz vergeben

  • Die Verteilung von Bildungschancen erfolgt entsprechend der naturgegebenen Fähigkeiten

  • Leistung und Anstrengungsbereitschaft bilden die wesentliche Grundlage sozialer Ungleichheit

  • Soziale Ungleichheiten, die aus der Verwirklichung dieser Prinzipien hervorgehen, sind legitim

Das Bildungssystem als Sortiermaschine

Hierbei spielt Bildung eine herausragende Rolle. Der Aufbau des staatlichen Bildungssystems mit standardisierten Abschlüssen, der im frühen 19. Jahrhundert in Gang gesetzt wurde, war nicht zuletzt mit der Absicht verbunden, Standesprivilegien abzuschaffen und stattdessen einen freien Wettbewerb um Berufs- und Lebenschancen zu organisieren. Schon ab den frühen Lebensjahren besuchen inzwischen die meisten Kinder in Deutschland mit Krippe, Kita oder Tagesbetreuung eine erste Bildungseinrichtung. Der anschließende Schulbesuch ist dann für alle verpflichtend. Dies gilt als historische Errungenschaft, da die Schulpflicht erstmals ausnahmslos allen Kindern grundlegende Bildung und damit gesellschaftliche Teilhabe ermöglichte (siehe Beitrag: Interner Link: Tenorth). Aber nicht nur das Lernen stand und steht im Mittelpunkt des Schulbesuchs, am Ende geht es immer auch um Leistungsauslese. Denn in der Schule werden alle Heranwachsenden auf Basis staatlich geregelter Verfahren der Leistungsbeurteilung in unterschiedlich chancenreiche Bildungswege kanalisiert.

Interaktive Grafik: Das deutsche Bildungssystem. Grafik: Benjamin Erfurth, 23.7.2013 (© bpb)

Prüfungen und Noten, (Nicht-)Versetzung in die nächste Klassenstufe, Zuordnung zu unterschiedlich anspruchsvollen Schulformen, Bildungsgängen oder Kursen – all dies und mehr bestimmt über die Anschlussmöglichkeiten des oder der Einzelnen, etwa über den Zugang zu konkreten Ausbildungs- und Studiengängen, die mehr oder weniger attraktive berufliche Karrierepfade anbahnen (siehe Infografik:Interner Link: Aufbau des deutschen Bildungssystems mit Übergängen und Bildungsabschlüssen). Der letztlich erworbene Bildungsabschluss (sei es ein Ausbildungs- oder Studienabschluss, ein Meisterbrief) gilt in unserer Gesellschaft als Gradmesser für individuelle Leistungsfähigkeit und Fleiß und somit als das maßgebliche Kriterium dafür, wer verdientermaßen welche soziale Position einnehmen soll.

Damit wird das Bildungssystem zu einer Art „Sortiermaschine“ der demokratischen Leistungsgesellschaft, die auf der Grundlage von staatlich zertifiziertem Bildungserfolg – in Gestalt von Noten, Zeugnissen und Abschlüssen – aus ursprünglich Gleichgestellten am Ende sozial Ungleiche macht. Und diese Ungleichheit, so der meritokratische Kerngedanke, sei annehmbar, ja sogar gerecht und wünschenswert. Denn sie beruhe eben auf dem gesellschaftlich anerkannten Leistungsprinzip und motiviere die Menschen, sich anzustrengen und ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Davon profitiere am Ende auch die Gesellschaft als Ganze, weil sie durch den freien Wettbewerb der Individuen produktiver, innovations- und anpassungsfähiger werde (siehe Beiträge: Interner Link: Werner, Interner Link: Wößmann, Interner Link: Allmendinger).

Das Problem der Bildungsungleichheit

All das setzt aber voraus, dass der Wettbewerb im Bildungssystem tatsächlich fair abläuft, dass also alle – unabhängig von ihren sozialen Voraussetzungen – gleichermaßen die Möglichkeiten erhalten, in den Wettbewerb einzusteigen und ihre Potenziale zu entfalten. Doch hier kommt das Problem der Bildungsungleichheit ins Spiel: Die Tatsache, dass etwa Kinder aus Armutsverhältnissen oder Arbeiter:innenfamilien (auch bei gleicher kognitiver Leistungsfähigkeit) mit Blick auf den Bildungserfolg systematisch schlechter abschneiden als Kinder aus sozial besser gestellten Familien, zeigt klar, dass das meritokratische Ideal längst nicht Realität ist. Nach wie vor gibt es im Bildungssystem schwer überwindbare soziale Barrieren und dies gilt über den gesamten Bildungsverlauf hinweg: Wer geht in die (weniger) attraktiven Kitas oder Schulen? Wer wechselt auf eine höhere Schulform oder verlässt die Schule ohne Abschluss? Wer setzt sich im Wettbewerb um attraktive Ausbildungsplätze durch? Wer wählt nach dem Abitur ein Studium und wer eher eine Ausbildung? Wer holt Abschlüsse nach und wer kann sich im Beruf vielfältig weiterbilden? In all solchen Fragen gibt es große soziale Unterschiede und die sind für das weitere Leben folgenreich (siehe Übersichtsbeitrag: Interner Link: Maaz, vertiefende Interviews zu bildungsbenachteiligten Gruppen mit: Interner Link: Hannover & Ollrogge, Interner Link: Lütje-Klose & Goldan, Interner Link: Dollmann & Kristen). Dabei geht es keineswegs nur um Beschäftigungschancen, Karrieremöglichkeiten und Einkommen. Das erreichte Bildungsniveau, so zeigen unzählige Studien, hat Auswirkungen in nahezu allen Lebensbereichen, von Wohnverhältnissen über Gesundheit und Lebenserwartung (siehe Interner Link: Hoebel u.a. im Datenreport 2021) bis hin zu gesellschaftlicher und politischer Partizipation (siehe Interner Link: Weßels im Datenreport 2021), sei es zivilgesellschaftliches Engagement (siehe Interner Link: Burkhardt u.a. im Datenreport 2021) oder Wahlbeteiligung.

In einer Gesellschaft, in der Bildungsungleichheiten stark ausgeprägt sind, liegen individuelle Potenziale brach und einem Teil der Menschen bleibt selbst jenes Mindestmaß an Bildung verwehrt, das erforderlich ist, um das eigene Leben erfolgreich und selbstbestimmt zu bestreiten. Wer keinen Bildungsabschluss vorweisen kann oder womöglich nicht einmal die Fähigkeit erlangt hat, einfache mathematische Probleme zu lösen oder einem Text Informationen zu entnehmen, ist in unserer „Wissensgesellschaft“ (siehe Beitrag: Interner Link: Poltermann) auf verlorenem Posten. Zudem erfordert die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft inzwischen in nahezu allen Lebensbereichen und Berufsfeldern einen kompetenten Umgang mit digitalen Medien und Informationen. Auch hier zeigt sich, dass ein erheblicher Anteil der Menschen (u.a. ein Drittel der 8.- Klässler:innen in Deutschland) nicht über die dafür notwendigen Fähigkeiten verfügt (siehe Beitrag: Interner Link: Gerick). Wissenschaftlich wird ein solcher Mangel an Grundbildung heute mit dem Begriff der „Bildungsarmut“ (siehe Beitrag: Interner Link: Allmendinger & Leibfried) beschrieben, der darauf hinweist, dass Bildung in modernen Gesellschaften – nicht anders als materielle Sicherheit – als elementares Gut verstanden werden muss, das gesellschaftlichen Verteilungsmustern unterliegt und für das sich eine Art Existenzminimum definieren lässt. Die Folgekosten von Bildungsarmut, auch das zeigen viele Studien, sind enorm, und zwar nicht nur für den Einzelnen oder die Einzelne, sondern auch für die Gesellschaft als ganze, sei es in Form von Sozialleistungen und entgangenem Wirtschaftswachstum, geringeren Steuereinnahmen, fehlenden Fachkräften oder auch Krisenerscheinungen der Demokratie – um nur einige Beispiele zu nennen. Gerade in jüngerer Zeit wird das Problem der Bildungsungleichheit daher nicht mehr nur unter dem Aspekt der gleichen Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsweg diskutiert. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass eine zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigende Grundbildung für jeden und jede gleichermaßen sichergestellt werden muss. Zumindest mit Blick auf ein solches Bildungsminimum ist also von einer gesellschaftlichen Bringschuld gegenüber dem Individuum die Rede.

In diesem Sinne gehen die Forderungen heute also über das altbekannte Ziel der Chancengleichheit hinaus in Richtung einer gleichen Grundbildung für alle, wie sie letztlich aber schon im menschenrechtlich verbrieften "Recht auf Bildung" (Interner Link: siehe Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) zum Ausdruck kommt, für das sich die Vereinten Nationen etwa mit ihrem Programm "Education for all" seit Jahrzehnten einsetzen (siehe Beitrag: Interner Link: Lohrenscheit). Wenn man sich vor Augen führt, dass hierzulande Jahr für Jahr mehr als sechs Prozent der Schulabgänger:innen ohne Abschluss bleiben und in Schulleistungsstudien deutschlandweit regelmäßig ein Viertel und mehr der Jugendlichen etwa im Lesen, in Mathematik oder im digitalen Bereich grundlegende Kompetenzen nicht erreicht, sind wir auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland von der Einlösung dieses Versprechens weit entfernt.

Chancengleichheit als Verteilungskonflikt

Die Chance auf eine gute Bildung wird – gerade auch in Deutschland – in erheblichem Maße von Faktoren und Umständen bestimmt, auf die der oder die Einzelne selbst keinen Einfluss hat. Aus dieser offenkundigen Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, so viel ist über Parteigrenzen hinweg Konsens, ergibt sich ein Auftrag an die Politik: Sie ist gefordert Mittel und Wege zu finden, Bildungsungleichheiten zwischen den sozialen Gruppen unserer Gesellschaft abzubauen oder anders formuliert: für mehr Chancengleichheit zu sorgen (siehe Beitrag: Interner Link: Hopf & Edelstein).
Hier aber endet der breite politische Konsens auch schon. Denn worin genau die Ursachen des Problems liegen, wie groß es tatsächlich ist und vor allem: mit welchen Reformansätzen und Maßnahmen ihm begegnet werden sollte – darüber wurde und wird bis heute in Wissenschaft, Politik und Praxis immer wieder heftig gestritten (siehe Beiträge: Interner Link: Preisendörfer, Interner Link: Kraus). Und das ist angesichts der fundamentalen Bedeutung des Bildungssystems als Verteilungsinstanz von Status und sozialen Privilegien nicht überraschend. Reformen, die den Abbau von Bildungsungleichheit zum Ziel haben, bringen Verteilungskonflikte mit sich. Die Plätze auf dem sprichwörtlichen Sonnendeck der Gesellschaft sind begrenzt und wer oben ist, will es auch bleiben. Die Bildungschancen benachteiligter Gruppen zu verbessern heißt jedoch unweigerlich, die Konkurrenz zu erhöhen. Und da haben all jene, die gegenwärtig zu den Bessergestellten gehören, durchaus etwas zu verlieren. Selbst wenn die allermeisten Bürger:innen die Ungerechtigkeit von herkunftsbedingten Benachteiligungen prinzipiell anerkennen – geht es um die Zukunft der eigenen Kinder, ist mit Eltern bekanntlich nicht zu spaßen. Dann heißt es im Zweifel häufig doch: Bitte keine Experimente! Zudem betreffen Reformen selbstverständlich nicht nur Kinder und Eltern, sondern auch die vielfältigen Berufsgruppen, die im Bildungssystem tätig sind, und deren Arbeitswelt. Nicht selten stellen Reformen althergebrachte Gewissheiten infrage, rütteln an etablierten Routinen, verändern die Verteilung von Ressourcen, Verantwortlichkeiten und Entscheidungsgewalt – das kann Unmut provozieren oder sogar politisch organisierten Widerstand, der Reformvorhaben ausbremsen oder sogar zu Fall bringen kann. Dafür gibt es in der Geschichte der Bundesrepublik zahlreiche Beispiele (siehe z.B. für die Nachkriegszeit Beitrag: Interner Link: Edelstein).

Die bildungspolitische Bearbeitung des Problems – kleinschrittig und nur wenig erfolgreich

Das Problem der Chancengleichheit politisch zu bearbeiten war und ist daher oft eine Gratwanderung, die aufgrund der Kulturhoheit der Bundesländer (siehe Beitrag: Interner Link: Hepp) jedes Land für sich in meist kleinen und vorsichtigen Schritten beging. Dabei sind die Ursachen von Bildungsungleichheit (siehe Beiträge: Interner Link: Maaz, Interner Link: Terhart) und daher auch die Hebel, die die Politik über die Jahrzehnte in Bewegung gesetzt hat, überaus vielfältig: Ausbau und Verbesserung der frühkindlichen Bildung, Schulstrukturreformen und Ganztagsschulen, Möglichkeiten zum Nachholen von Schulabschlüssen in Abendschulen oder im beruflichen Übergangssystem, staatlich geförderte Aufstiegsfortbildungen, BAföG und Stipendienprogramme, Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte ohne Abitur – all dies waren und sind Mosaiksteine im Bestreben um mehr Chancengleichheit. Inwieweit und in welcher Hinsicht sie erfolgreich waren, ist bis heute durchaus strittig. Klar ist: Die Sozialstruktur der Gesellschaft hat sich inzwischen massiv gewandelt und bildungspolitische Maßnahmen haben in diesem Prozess eine gewichtige Rolle gespielt. Wie in fast allen Ländern weltweit hat besonders in den Nachkriegsjahrzehnten eine massive „Bildungsexpansion“ stattgefunden, die sich bis heute fortsetzt (siehe Beiträge: Interner Link: Becker, Interner Link: Geißler).

Immer mehr Menschen erlangten, auch unter Nutzung der neuen Möglichkeiten, höhere Bildungsabschlüsse (siehe Interner Link: Infografik: Bildungsexpansion im Schulbereich) als ihre Eltern und mündeten in eine Vielzahl von qualifizierteren Berufen, die im Zuge der Modernisierung von Staat und Wirtschaft in immer größerer Zahl entstanden. In der Soziologie wurden diese Veränderungen im sozialen Gefüge mit einem Fahrstuhl verglichen: Getragen vom allgemeinen Wirtschaftswachstum seien alle sozialen Gruppen von ihrem Ausgangspunkt ein paar Stockwerke hinaufgefahren und hätten einen höheren Lebensstandard erreicht. Der relative Abstand zwischen den Sozialgruppen sei dabei aber kaum kleiner geworden. Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass gerade die unteren sozialen Milieus von den politischen Bemühungen wenig profitiert haben, sich die Aussichten von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen auf einen sozialen Aufstieg durch Bildung über die Jahrzehnte nicht wesentlich verbessert haben (siehe Beitrag: Interner Link: Pollack). Wer in prekären Verhältnissen geboren wurde, hat also auch heute wenig Chancen, es nach oben zu schaffen. Mit dem Zuzug von Arbeitsmigranten und ihren Familien im Zuge der Gastarbeiterabkommen, von Spätaussiedler:innen und Geflüchteten sind zudem immer wieder soziale Gruppen hinzugekommen (siehe Beitrag: Interner Link: Berlinghoff), die oftmals am unteren Ende der Gesellschaft starten (siehe Beitrag: Interner Link: Borgna). Und ungeachtet aller wirtschaftlichen Fortschritte wächst heute ein ganz erheblicher Anteil der Kinder in Armut auf (Interner Link: siehe Infografik: Welcher Anteil unter 15-Jähriger erhält Sozialleistungen) – das Problem der sozialen Bildungsungleichheit stellt sich also nach wie auf breiter Front.

Welcher Anteil unter 15-Jähriger erhält Sozialleistungen (SGB II)? (bpb, wzb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Schulreform – das zentrale politische Handlungsfeld gegen soziale Ungleichheit

In so ziemlich allen Bildungsbereichen hat die Politik Reformen unternommen, um das Problem der Bildungsungleichheit zu bearbeiten. Seit Anfang der 2000er Jahre ist dabei gerade auch die frühkindliche Bildung in den Fokus gekommen, die in der Bundesrepublik (anders als in der DDR) lange Zeit geringe Bedeutung hatte. Traditionell stand hier vor allem die Betreuung der Kinder im Vordergrund, die vor allem berufstätige Mütter entlasten sollte („Vereinbarkeit von Familie und Beruf“). Inzwischen besteht jedoch in der Wissenschaft und weitgehend auch über die politischen Lager hinweg Einigkeit, dass wesentliche Grundsteine für eine gelingende Bildungsbiografie schon ab dem frühesten Kindesalter gelegt werden. Nicht zuletzt geht es darum, die sprachlichen, kognitiven, motorischen und sozialen Fähigkeiten der Kinder von früh auf zu fördern. Daraus ergibt sich für die Kita – neben der Betreuung – auch ein ureigener Bildungsauftrag. Gerade weil die Kita früh ansetzt, werden hier die Chancen, sozial bedingte Benachteiligungen wirksam zu kompensieren und somit auch bessere Voraussetzungen für das schulische Lernen zu schaffen, auch seitens der Wissenschaft besonders hoch eingeschätzt (siehe Beitrag: Interner Link: Berth) – wenn die Qualität der Angebote stimmt (siehe Beitrag: Interner Link: Kuger & Peter).

Im Zentrum der Diskussionen und Bemühungen um eine Verbesserung von Chancengleichheit stand jedoch lange Zeit vor allem die Schule, als erste Stufe der formalen Bildung und diejenige Institution, die – weil verpflichtend – von allen jungen Menschen besucht wird und durch ihre Abschlüsse den weiteren Bildungs- und Berufsweg maßgeblich vorprägt (siehe Beitrag: Interner Link: Edelstein & Hopf): In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten richtete sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Rahmenbedingungen der Schulbildung. Zunächst wurde das Schulgeld an Realschulen und Gymnasien abgeschafft und in manchen Ländern auch eine Lernmittelfreiheit eingeführt. Damit nicht schon der Wohnort die Bildungschancen bestimmt, wurde in dieser Zeit nun auch in ländlichen Regionen darauf hingearbeitet, ein flächendeckendes Angebot aller Schulformen zu schaffen. Zudem wurden Maßnahmen ergriffen, um das Bildungsbewusstsein in benachteiligten Milieus zu stärken, darunter etwa bessere Informations- und Beratungsangebote für Eltern sowie aktives Werben um „begabte Arbeiterkinder". Ab Ende der 1960er Jahre bündelten sich diese Ansätze im Reformprogramm der Gesamtschule, von der man sich vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums entscheidende Fortschritte in Sachen Chancengleichheit versprach. Durch flexiblere Formen der Leistungsauslese (Niveaukurse statt getrennte Schulformen), größere Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen sowie längeres gemeinsames Lernen sollte sie mehr Zeit für kompensatorische Förderung, mehr Möglichkeiten zur Korrektur von Schullaufbahnen und nicht zuletzt mehr gemeinsame Lernerfahrungen für Kinder aller Sozialschichten bieten. Kurzum: Nicht mehr nur die Rahmenbedingungen, sondern Schule und Unterricht selbst sollten sich verändern, so die Idee.

Eine solch grundlegende Umgestaltung der Schulorganisation – die flächendeckende Einführung von Gesamtschulen anstelle der tradierten Schulformen – ging vielen zu weit. Insbesondere unter den Anhänger:innen des traditionellen Gymnasiums, aber nicht nur hier, regte sich dagegen erbitterter Widerstand. Nach Jahren hitziger parteipolitischer Auseinandersetzungen, Bürgerprotesten und Volksbegehren, wurden Gesamtschule zunächst nur in sozialdemokratisch regierten Ländern eingeführt, und zwar nicht als Alternative zum dreigliedrigen Schulsystem, sondern als eine weitere Schulform neben Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. Um eine Anerkennung ihrer Abschlüsse auch in konservativ regierten Ländern zu erwirken, musste sie zudem in den Verhandlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) in den frühen 1980er Jahren einen Kompromiss eingehen. In der schließlich zwischen allen Ländern geschlossenen und über fast 30 Jahre im Wesentlichen fortgeltenden Vereinbarung wurde eine stärkere Leistungsauslese festgelegt als ursprünglich von Fürsprecher: innen der Gesamtschule angedacht. Auch wenn es der Gesamtschule dennoch gelang, mehr Kinder zu höheren Abschlüssen zu führen, blieb der erhoffte Durchbruch in der Verminderung von Bildungsungleichheit aus. Die bildungspolitische Aufbruchstimmung der 1960er Jahre schlug in Ernüchterung um, politisch groß angelegte Programme für mehr Chancengleichheit gab es (vorerst) nicht mehr.

Schüler:innen mit einer anderen Familiensprache als Deutsch (bpb, wzb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Bildungsungleichheit, so viel ist inzwischen klar, erweist sich in Deutschland – und in unterschiedlichem Maße letztlich in allen Ländern der Welt – als Jahrhundertproblem, für das es keine einfachen und schon gar nicht nur bildungspolitische Lösungen zu geben scheint. Einige Probleme haben sich mit der Zeit sogar verschärft. Von der Hauptschule als einer auch für den Ausbildungsmarkt nur noch wenig anschlussfähigen Schulform haben sich immer größere Teile der Bevölkerung abgewendet, sie gilt vielen inzwischen als Schule der Bildungsverlierer:innen (siehe Beitrag: Interner Link: Trautwein, Baumert & Maaz). Aufgrund einer zunehmend ethnisch heterogenen Schüler:innenschaft bringen Kinder auch nicht immer die für ein erfolgreiches Lernen erforderlichen sprachlichen Voraussetzungen mit (siehe Interner Link: Infografik: Familiensprache).

Zudem bewirkt gerade in den Städten eine zunehmende Ballung sozialer Problemlagen in einzelnen Nachbarschaften (siehe etwa Interner Link: Infografik Kinderarmut in Grundschulbezirken), dass es mehr sozial belastete „Brennpunktschulen“ gibt, an denen sich problematische Lernmilieus herausbilden. Aber auch jenseits solcher Extreme haben Bildungsungleichheiten inzwischen eine stärker sozialräumliche Dimension: Waren die Bildungschancen lange Zeit im Wesentlichen von der besuchten Schulform bestimmt, hängen sie heute in erheblichem Maße auch von der einzelnen Schule und ihrem sozialen Umfeld ab (siehe Beitrag: Interner Link: Breidenstein). Schließlich scheint sich die Bildungsschere im Zuge der pandemiebedingten Schulschließungen und der einhergehenden schwierigen Lernbedingungen zuletzt noch weiter geöffnet zu haben (siehe Beitrag: Interner Link: Helbig, Interner Link: Dossier-Podcast zu Corona-Aufholprogrammen). Daher rückt das Problem der Bildungsungleichheit, das in seiner ausgeprägtesten Form als Bildungsarmut in Erscheinung tritt, inzwischen wieder stärker in den Fokus der Politik. Doch was tun?

Von der Systemreform zur Schulentwicklung

Zwar haben sich die politischen Frontstellungen in der Schulstrukturfrage inzwischen durchaus gelockert. Die problematischen Entwicklungen an vielen Hauptschulen und die demografisch bedingt insgesamt stark rückläufigen Schüler:innenzahlen haben dem tradierten Nebeneinander von Schulformen schon aus finanziellen Gründen vielerorts den Boden entzogen. Ab den 2010er Jahren waren daher viele Bundesländer regelrecht gezwungen, ihre Schulstrukturen pragmatisch anzupassen, also etwa Haupt- und Realschulen durch integrierte Schulformen zu ersetzen – in einer Reihe von Bundesländern gibt es neben dem Gymnasium heute nur noch diese zweite Schulform (siehe Beitrag: Interner Link: Tillmann). Aber auch in den neuen, nun zweigliedrigen Schulsystemen treten die bekannten sozialen Unterschiede wieder deutlich hervor: Auf der einen Seite stehen, weitgehend unverändert, die Gymnasien mit sozial vergleichsweise privilegierter Schüler:innenschaft, oft günstigen Lernbedingungen und vom aktuellen Lehrkräftemangel deutlich weniger betroffen; auf der anderen Seite die neu geschaffenen integrierten Schulformen, die weit größere gesellschaftliche Integrationslasten zu stemmen haben (nicht zuletzt auch Inklusion und Aufnahme von Geflüchteten), während sie als herausforderndere Arbeitsorte zugleich den Fachkräftemangel viel deutlicher spüren.

Auch angesichts der nüchternen Erkenntnis, dass es mit dem Ansetzen an systemischen Stellschrauben in der Vergangenheit nicht gelungen ist, Bildungsungleichheiten substanziell abzubauen, haben sich die bildungspolitischen Bemühungen in jüngerer Zeit von Fragen der Umgestaltung des Schulsystems auf die Ebene der Einzelschule verlagert. „Schulentwicklung“ lautet das Schlagwort für diese neue Reformstrategie, deren Wurzeln in der seit den 1990ern schrittweise erweiterten Eigenverantwortlichkeit der Einzelschule („Schulautonomie“) liegen. Statt in der Schulverwaltung erdachte, allgemeinverbindliche Reformmodelle umzusetzen, sollen die Schulen jetzt mit flexiblen und passgenauen Lösungen an den ganz konkreten Problemen und Herausforderungen vor Ort ansetzen (siehe Beitrag: Interner Link: Zeiß). Dabei rücken häufig das soziale Umfeld der Schule und außerschulische Akteure wie z. B. lokale Projektträger und Jugendfreizeiteinrichtungen als potenzielle Partner:innen der Schulentwicklung in den Blick („Sozialraumorientierung“). Auch Eltern werden in ihrer Rolle als Bildungs- und Erziehungspartner:innen wieder stärker wahrgenommen und sollen in neuen Formaten der Elternarbeit systematischer einbezogen werden (siehe Beitrag: Interner Link: Holzberger).

Inzwischen gibt es zahlreiche Bundesländer-Programme, die Schulen in sogenannten „schwierigen sozialen Lagen“ gezielt fördern, damit Schulleitungen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter:innen und andere Akteure vor Ort eigene Entwicklungsvorhaben planen und umsetzen können, häufig mit Unterstützung von Schulnetzwerken, Agenturen für Schulentwicklungsbegleitung und anderem mehr. Dieser Logik folgt nun auch das milliardenschwere „Startchancenprogramm“, mit dem Bund und Länder in den kommenden 10 Jahren bundesweit 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schüler:innen unterstützen wollen. Auch haben einige Bundesländer begonnen, den Schulen Ressourcen abhängig von ihren konkreten sozialen Bedarfen zuzuweisen, anstatt nach dem bis dahin gängigen „Gießkannenprinzip“ sämtlichen Schulen einer Schulform (in Abhängigkeit allein von der Zahl ihrer Schüler:innen) die gleichen Mittel zuzuweisen. Inwieweit diese bildungspolitischen Programme einen wirksamen Hebel zur Reduktion von Bildungsungleichheit darstellen, wird sich zeigen müssen.

Auch andere Politikbereiche in der Verantwortung

Klar ist aber schon jetzt: Mit Bildungspolitik allein, sei sie auch noch so klug konzipiert, wird das Problem auch zukünftig nicht zu lösen sein. Denn am Ende haben Bildungsungleichheiten ihre Wurzeln auch in den ungleichen materiellen Lebensverhältnissen, die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Kinder und Jugendliche, die in chronischen Mangelsituationen aufwachsen, deren Eltern von prekärer Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit betroffen sind, die in Armut, beengten Wohnverhältnissen und sozial abgehängten Nachbarschaften ohne glaubhafte Perspektiven leben, werden ihre Potenziale auch in einer noch so guten Schule selten so ausschöpfen können, wie es Kinder aus günstigeren Verhältnissen möglich ist. Da helfen auch die inzwischen etablierten Möglichkeiten, Lerngelegenheiten, die einem zunächst verschlossen geblieben sind, zu einem späteren Zeitpunkt noch wahrzunehmen, Bildungsabschlüsse nachzuholen und so am Ende doch noch höher hinaus zu kommen, nur bedingt weiter. Denn zum einen können solche Umwege aufwändig und mit den beruflichen und familiären Verpflichtungen des Erwachsenenlebens schwer in Einklang zu bringen sein. Zum anderen ist das Lernen in weiten Teilen eben ein „kumulativer“ Prozess, in dem (früh) erworbene Fähigkeiten nicht unwesentlich darüber mitbestimmen, was später im Leben mit vertretbarem Aufwand gelernt werden kann. Eine wirksame Politik der Bildungschancengleichheit muss deshalb früh im Lebensverlauf ansetzen und kann sich nicht auf den Bereich der Bildungsinstitutionen beschränken. Es bedarf vielmehr einer gesellschaftspolitischen Gesamtstrategie, in der auch Fragen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, des Städte- und Wohnungsbaus ebenso wie des Steuer- und Erbrechts konsequent mitgedacht werden, um die Lebensverhältnisse sozial benachteiligter Familien auch ganz unmittelbar zu verbessern (Beitrag: Interner Link: Butterwegge). Denn so richtig die wissenschaftliche Analyse ist, dass Bildungsarmut in unserer Gesellschaft eine zentrale Ursache für Armut ist, gilt doch nachweislich auch der umgekehrte Zusammenhang: Das Aufwachsen in Armut ist eine zentrale Ursache für Bildungsarmut.

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Dr. Benjamin Edelstein, geb. 1983, ist Politikwissenschaftler und forscht am Externer Link: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu schulpolitischen Themen, insbesondere im Kontext sozialer Bildungsungleichheit. Er ist Ko-Leiter des Externer Link: Expert:innenforums Startchancen, Redaktionsvorsitzender der Zeitschrift Externer Link: DDS - Die Deutsche Schule und Redakteur des Online-Dossier Bildung.

geb. 1979, studierte Sozial- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Erfurt und arbeitete in verschiedenen Projekten der Wissenschaftsvermittlung. Seit 2011 ist sie Projektkoordinatorin und Redakteurin des Online-Dossier Bildung (bpb.de/bildung) am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).