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Wie lernen Kleinkinder? Entwicklungspsychologische Erkenntnisse und ihre Bedeutung für Politik und Gesellschaft | Bildung | bpb.de

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Wie lernen Kleinkinder? Entwicklungspsychologische Erkenntnisse und ihre Bedeutung für Politik und Gesellschaft

Sabina Pauen

/ 17 Minuten zu lesen

Stimmt der alte Spruch "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"? Und ist es wahr, dass die ersten Lebensjahre besonders wichtig und prägend sind?

Vater spielt mit Sohn. Schon wenige Wochen nach der Geburt sind Kinder in der Lage, Lebewesen von unbelebten Objekten zu unterscheiden. (© picture-alliance/dpa)

Kinder sind unsere Zukunft - so lautet eine weit verbreitete Einsicht. Was daraus folgt, bleibt zunächst unklar. Stimmt der alte Spruch "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"? Und ist es wirklich wahr, dass die ersten Lebensjahre prägend sind? Wenn ja, dann müssen wir alle gemeinsam Sorge dafür tragen, dass gerade Säuglinge und Kleinkinder optimale Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung vorfinden. Worin aber würden solche Rahmenbedingungen bestehen? Welche Maßnahmen müssten wir treffen? Oder gibt es in Deutschland derzeit keinen Bedarf, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern? Um diese Fragen qualifiziert beantworten zu können, benötigt man Wissen darüber, was Kinder mit auf die Welt bringen, welche zentralen Bedürfnisse sie haben und wie sie Erfahrungen verarbeiten. Nachfolgend werde ich auf diese Punkte eingehen und dabei Erkenntnisse von Wirtschaftswissenschaftlern, Hirnforschern und Entwicklungspsychologen einbeziehen. Anschließend möchte ich einige politische und gesellschaftliche Implikationen diskutieren.

Lohnt sich die Investition in frühe Erziehung und Bildung wirtschaftlich?

Zur Klärung dieser Frage bedarf es umfangreicher Längsschnittstudien, die prüfen, wie sich verschiedene Umweltbedingungen langfristig auf den Lebensweg von Kindern unterschiedlicher Herkunft auswirken. Wegen des enormen Forschungsaufwandes, der mit solchen Vorhaben verbunden ist, gibt es bislang erst wenige Projekte entsprechender Art. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger James Heckman hat die Ergebnisse verschiedener solcher Studien kombiniert und unter einem ganz bestimmten Blickwinkel analysiert: Konkret wurden die Kosten für Bildungsmaßnahmen in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung ins Verhältnis gesetzt zu dem Betrag, den Menschen später zum Bruttosozialprodukt der Gesellschaft geleistet haben. Basierend auf entsprechenden Daten entwickelte Heckman das sogenannte Return-of-investment-Modell, welches besagt, dass jeder Geldbetrag, den eine Gesellschaft in die Erziehung und Bildung ihres Nachwuchses steckt, umso mehr Gewinn bringt, je früher er investiert wird. Die höchste rate of return (sechs bis zehn Prozent) wurde für Maßnahmen festgestellt, die sich auf Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit beziehen. Heckmans Analysen zeigen: Frühe Investitionen fördern den späteren Schulerfolg, reduzieren die Verbrechensrate, wirken sich positiv auf die Arbeitsproduktivität aus, verbessern den Gesundheitszustand und gehen mit verminderten Raten an Teenager-Schwangerschaften einher. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass vor allem Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen von frühen Bildungsangeboten zu profitieren scheinen. Qualifizierte Kinderbetreuung und andere Familienhilfen wirkten sich zudem positiv auf die Eltern aus, indem alleinerziehende oder minderjährige Mütter einen gesünderen und verantwortlichen Lebenswandel führten und eher einen Job fanden, wenn sie bei der Erziehung durch Fachpersonal unterstützt wurden. Ausgehend von diesen Ergebnissen lässt sich die eingangs formulierte Frage klar mit "Ja" beantworten: Investitionen in die ersten Lebensjahre lohnen sich (auch) aus wirtschaftlicher Sicht. Sie verbessern zudem die Chancengleichheit innerhalb einer Gesellschaft.

Gleichzeitig gilt es im Kopf zu behalten, dass jede Maßnahme, die darauf abzielt, den Lebensweg eines Kindes oder einer Familie zu beeinflussen, nur innerhalb bestimmter Grenzen wirksam werden kann, weil unsere genetische Ausstattung mit darüber entscheidet, wie wir uns entwickeln. So haben Längsschnittstudien gezeigt, dass sich eine Verbesserung der Intelligenzwerte selbst bei intensiver Förderung der Kinder nur in sehr begrenztem Umfang erzielen ließ. Weil es einer Gesellschaft aber nicht unbedingt um Testwerte geht, sondern vielmehr darum, dass ihre Mitglieder einen produktiven Beitrag zur Gemeinschaft leisten und dabei möglichst zufrieden sind, ändert diese Tatsache nichts an der Sinnhaftigkeit und Effektivität von Investitionen in frühe Bildung.

Was bringen Kinder mit auf die Welt?

Auch wenn unsere Intelligenz sowie Temperamentseigenschaften und Talente zumindest teilweise genetisch verankert sein mögen, gilt das Prinzip der "probabilistischen Epigenese", das Folgendes besagt: Jede Anlage wird nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit sichtbar. Es kommt stets darauf an, in welchem Maße Umweltbedingungen ihre Realisierung befördern oder hemmen. Zu genetischen Anlagen gehören dabei nicht nur Eigenschaften, bezüglich derer wir uns voneinander unterscheiden, sondern vor allem auch jene Ausstattungsmerkmale, die wir alle teilen. In diesem Zusammenhang lässt sich zum Beispiel fragen, wie unser Geist durch die Evolution auf das Leben nach der Geburt vorbereitet wurde. Hier hat die moderne Säuglingsforschung in den vergangenen 50 Jahren mit ausgefeilten Methoden eine ganze Reihe interessanter Erkenntnisse zutage gefördert, die sich auf angeborene Reizpräferenzen, unsere Lernfähigkeit und -bereitschaft, angeborenes Kernwissen und bereichspezifische Wissenserwerbsmechanismen beziehen. Nachfolgend werden die wichtigsten Erkenntnisse zu jedem Punkt kurz zusammengefasst.

Angeborene Wahrnehmungspräferenzen.

Bereits Neugeborene zeigen eindeutige Vorlieben für gesichterähnliche Konfigurationen. Sie präferieren starke Kontraste oder Muster gegenüber homogenen Farbflächen, und alles, was sich bewegt, interessiert sie brennend. Im akustischen Bereich reagieren sie besonders sensibel auf den Frequenzbereich der menschlichen Stimme. Sie ekeln sich vor einigen Gerüchen (zum Beispiel faulig) und bevorzugen bestimmte Geschmacksstoffe (zum Beispiel süß). Im taktilen Bereich reagieren sie auf Hautkontakt mit Entspannung und auf intensiven Druck mit Schmerz. Solche angeborenen Wahrnehmungspräferenzen tragen mit dafür Sorge, dass sich Babys vor allem jenen Reizen zuwenden, die für ihr Überleben wichtig sind (etwa andere Menschen) und die ihren Geist anregen. Von schädlichen Reizen wenden sie sich dagegen ab. Wie das Kind auf einen gegebenen Reiz reagiert, hat aber nicht nur etwas mit der Qualität dieses Reizes zu tun, sondern hängt auch davon ab, wie vertraut er ist.

Allgemeine Lernfähigkeit und -bereitschaft.

Stimuliert man den Bauch der Schwangeren erstmals mit einem vibratorischen Geräusch, so reagiert der Fötus zunächst mit einer Steigerung der Herzfrequenz und mit Zuckungen. Wird der gleiche Reiz mehrfach präsentiert, lässt diese Reaktion allmählich nach. Man spricht von "Habituation". Interessanterweise hält diese Habituationsreaktion bis zu 24 Stunden an; das Kind muss sich also irgendetwas "gemerkt" haben. Was für einfache Stimulierung gilt, trifft auch auf komplexe Reizmuster zu. So fanden Säuglingsforscher bereits in den 1980er Jahren heraus, dass Föten sich das Klangmuster ganzer Geschichten merken können. Wurden schwangere Mütter instruiert, die betreffenden Geschichten in den letzten Schwangerschaftswochen einmal am Tag laut vorzulesen, dann zeigten die Kinder unmittelbar nach der Geburt eine eindeutige Präferenz für ebendiese Geschichte gegenüber einer anderen. Die geschilderten Beobachtungen verdeutlichen, dass das Lernen bereits lange vor der Geburt beginnt.

Von Anfang an sind Babys neugierige Wesen. Ein Reiz, der bereits vollständig verarbeitet wurde, wird kaum noch beachtet und ruft nur noch minimale Zuwendung hervor. Erst wenn im Anschluss an eine Habituationsphase ein abweichender Reiz präsentiert wird, lässt sich erneut eine Orientierungsreaktion beobachten. Diese Fähigkeit, Reize zu verarbeiten und sich gezielt neuen Reizen zuzuwenden, ist nach aktuellem Forschungsstand ein wichtiger Hinweis auf die spätere Intelligenz. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein intelligentes Kind immer nur auf Neues reagiert. Wiederholungen und Routinen bieten Babys überhaupt erst die Möglichkeit, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die Welt als berechenbar zu erleben und Vorhersagen zu machen. Kleine Kinder profitieren von Stabilität im Alltag. Sie vermittelt ihnen Sicherheit und schafft so eine wichtige Voraussetzung dafür, die Welt neugierig zu erforschen.

Angeborene Wissenserwerbsmechanismen und bereichsspezifisches Kernwissen.

Schon wenige Wochen nach der Geburt sind Kinder in der Lage, Lebewesen von unbelebten Objekten zu unterscheiden und scheinen dabei nicht nur auf äußere Merkmale zu achten: Während das Verhalten von Lebewesen bereits im ersten Lebensjahr als intentional und zielgerichtet verstanden wird, interpretieren Babys das "Verhalten" von unbelebten Gegenständen auf andere Weise - hier wenden sie Wissen über mechanische Kausalität an. So gehört es offensichtlich zu ihrem angeborenen Kernwissen, dass sich unbelebte Objekte normalerweise auf kontinuierlichen, linearen Pfaden bewegen, wenn keine externe Kraft auf sie einwirkt. Vieles spricht zudem dafür, dass schon Säuglinge über Ursache und Wirkung nachdenken und Mittel-Ziel-Relationen analysieren.

Weil menschliches Verhalten von besonderer Bedeutung für Babys ist, wird derzeit diskutiert, ob Kinder biologisch darauf vorbereitet sind zu merken, wann ein Gegenüber ihnen gezielt etwas beibringen möchte. Dies würde erklären, wie wir innerhalb kürzester Zeit ein hohes Maß an kulturellem Wissen aufbauen. Ab etwa einem Jahr verstehen Säuglinge, dass ein Erwachsener, der sie zunächst direkt anschaut und freundlich anspricht, um sich anschließend einem Gegenstand zuzuwenden, verallgemeinerbares Wissen über diesen Gegenstand vermitteln will. Fehlen entsprechende Grußsignale und der Erwachsene wendet sich vor den Augen des Kindes direkt dem Gegenstand zu, ohne vorher Blickkontakt aufgenommen zu haben, dann wird die Situation vom Kind nicht als Lehr-Lernkontext interpretiert. Das Kind analysiert, welche Beziehung der Erwachsene zu dem fraglichen Gegenstand hat, aber es kommt nicht unbedingt auf die Idee, generalisierbares Wissen über den Gegenstand zu erwerben. Gerade für die Vermittlung von sprachlichem Wissen dürfte dieser Mechanismus wichtig sein.

Ein sehr bedeutsamer Wissenserwerbsmechanismus der frühen Kindheit ist auch das Imitationslernen. Schon Neugeborene sind in der Lage, einfache mimische Gesten von anderen Menschen nachzuahmen. Bereits nach wenigen Wochen erweitert sich diese Fähigkeit auf komplexe körperliche Gesten. Auch im Umgang mit Objekten zeigen Säuglinge früh (ab Ende des ersten Lebensjahres) Imitationsverhalten. Sie beobachten sehr genau, was Erwachsene oder andere Kinder mit einem Gegenstand tun und versuchen, die entsprechenden Handlungen spontan nachzuahmen - besonders, wenn sie ihnen in den oben beschriebenen Lehr-Lernkontexten gezeigt werden.

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass Säuglinge aufnahmefähige, neugierige Wesen sind, die auf Anregung durch ihre Umgebung angewiesen sind, um ihre geistige Leistungsfähigkeit voll entfalten zu können. Sie interessieren sich einerseits für alles Neue, andererseits suchen sie nach Regelmäßigkeiten und Vorhersagbarkeit. Erst in der Kombination finden sie optimale Entwicklungsbedingungen vor. Dies wirft die Frage auf, welche Bedeutung frühen Erfahrungen für den weiteren Lebensweg zukommt.

Erste Lebensjahre: prägend für die weitere Entwicklung

In der frühen Kindheit werden ohne jeden Zweifel wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt. Sonst wären die eingangs geschilderten Befunde zum Return-of-investment-Modell nicht plausibel. Wie wir zudem aus zahlreichen Studien wissen, haben es Menschen, die in dieser Phase vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht werden, schwer, später stabile Beziehungen einzugehen, in der Schule Erfolg zu haben, gesund zu bleiben und gesellschaftlich erfolgreich zu sein. Ohne frühe positive Erfahrungen ist es auch kaum möglich, der nächsten Generation entsprechende Erfahrungen zu vermitteln. Probleme können sich also über Generationen fortpflanzen.

Dass das Fehlen einer stabilen Bezugsperson in der Säuglings- und Kleinkindzeit schicksalhafte Auswirkungen hat, postulierten bereits Forscher wie Sigmund Freud (1856-1939), Erik Erikson (1902-1994) oder John Bowlby (1907-1990). Beispielsweise betonte Freud, dass die Mutter das erste und wichtigste Liebesobjekt jedes Menschen sei. Erikson baute auf Freuds Arbeiten auf und konstatierte, dass das Kind in seinen frühen Beziehungen zu Mutter und Vater lernt, ob es der Welt mit Urvertrauen oder Urmisstrauen begegnen soll, ob es optimistisch und mit innerer Stärke in die Zukunft blicken kann oder ob eher Skepsis und Vorsicht sein Handeln leiten sollten. Auch Beobachtungen des Arztes René Spitz (1887-1974), der sich mit der Entwicklung von Heimkindern beschäftigt hat, belegen, dass gestörte Beziehungserfahrungen nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung eines Kindes haben können. Er stellte fest, dass Säuglinge, die körperlich ausreichend versorgt wurden, aber emotional vernachlässigt blieben, teilweise verstarben. Spitz schloss daraus, dass menschliche Nähe und Zuwendung für eine gesunde Entwicklung essenziell seien. Wie auch eine aktuelle, gut kontrollierte Längsschnittstudie bestätigt, entwickeln sich rumänische Waisenkinder, die innerhalb des ersten halben Jahres in eine Pflegefamilie vermittelt werden konnten, im Unterschied zu einer vergleichbaren Gruppe von Kindern, die im Heim blieben oder erst nach den ersten sechs Lebensmonaten in einer Pflegefamilie untergebracht werden konnten, hinsichtlich einer Vielzahl unterschiedlicher Parameter wesentlich besser. Dies zeigte sich nicht nur am Verhalten, sondern auch an der Gehirnentwicklung und -aktivität. Dabei gilt es zu beachten, dass die Betreuung in rumänischen Heimen weitgehend lieblos und ohne individuelle Zuwendung erfolgt, sodass die Kinder keine Bindung mit einer festen Bezugsperson aufbauen konnten. Diese Verhältnisse sind auf Deutschland nicht übertragbar.

Die vergleichende Verhaltensforschung von John Bowlby weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Etablierung stabiler Beziehungen biologisch programmiert zu sein scheint und dass sowohl Tiere als auch Menschen ihrer Umwelt nur dann offen begegnen können, wenn sie die Rückendeckung eines vertrauten Bezugspartners spüren. Zwar gibt es keine überzeugenden Hinweise darauf, dass unmittelbar nach der Geburt eine biologische "Prägung" auf eine bestimmte Person (zum Beispiel die Mutter) stattfindet, aber es hat sich gezeigt, dass schon Neugeborene ihre Bezugsperson bereits wenige Tage nach der Geburt wiedererkennen können. Durch den Umstand, dass es in der Regel die Mutter ist, die das Kind füttert und pflegt, merkt das Kind im Idealfall rasch, auf wen es sich verlassen kann, wenn es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse geht.

Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass Kinder im ersten halben Jahr lernen, primäre Bezugspersonen von anderen Menschen zu unterscheiden. Freuen sie sich mit drei bis vier Monaten noch über jeden Fremden, der sie anlächelt, und lassen sie sich von unterschiedlichsten Personen beruhigen, so zeigen die meisten Babys mit sieben bis neun Monaten eindeutige Vorlieben für die primären Bezugspersonen. Wie stark diese Tendenz ausgeprägt ist, hängt mit davon ab, in welchem Umfang das Kind im Alltag mit unterschiedlichen Menschen Kontakt hatte und ob seine Erfahrungen dabei bislang überwiegend positiv waren. Viele Kinder zeigen eindeutiges Bindungsverhalten und sind trotzdem sehr neugierig auf andere Menschen. Dies gilt insbesondere für Gleichaltrige. Sobald Kinder durch wachsende Mobilität und Selbstständigkeit eine gewisse Unabhängigkeit entwickelt haben, wollen sie mit anderen Kindern spielen. Der Kreis der Bezugspersonen und der Spielpartner erweitert sich. Wie verschiedene Studien belegen, scheinen Kinder, die in den ersten Lebensjahren vielfältige soziale Kontakte mit anderen Kindern und verschiedenen Erwachsenen haben (wie dies zum Beispiel in der Krippe der Fall ist), später ein höheres Maß an Sozialkompetenz aufzuweisen als Kinder, die keinem entsprechenden Umfeld ausgesetzt waren.

Anders als Freud ursprünglich annahm, kann nicht nur die Mutter, sondern jede Person, die für das Kind sorgt, zum Bindungspartner werden. Auch scheinen Kleinkinder nicht darauf fixiert zu sein, Bindung nur zu einer einzigen Person aufzubauen, sondern gehen intensive Beziehungen zu einer Reihe von vertrauten Menschen in ihrer Umgebung ein. Babys müssen also nicht zwangsläufig einen Großteil ihrer Zeit bei der Mutter verbringen, um sich gut entwickeln zu können. Was sie faktisch brauchen, ist ein soziales Umfeld von Menschen, die sich feinfühlig und liebevoll um sie kümmern und zu denen sie Vertrauen aufbauen können. Dies ist nur dann gewährleistet, wenn die Anzahl von Erwachsenen, die das Kind betreuen, begrenzt ist, die Bezugspersonen über längere Zeit die gleichen bleiben, wenn ein Betreuer nicht zu viele Kinder parallel im Blick haben muss oder anderweitig überfordert ist, und wenn die Bezugspersonen in der Lage sind, die Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren.

Allerdings brauchen sie nicht bei jedem kleinsten Mucks des Kindes sofort zu springen. Wie Studien unter Verwendung von Video-Mikroanalysen dokumentieren, verursacht ein Erwachsener, der dem Kind buchstäblich jeden Wunsch von den Lippen abliest und immer sofort passend reagiert, sogar Stress beim Kind. In direkten Interaktionen dürfen sogenannte matches (spiegelnde Antworten des Erwachsenen) ebenso vorkommen wie mismatches. Wichtig ist nur, dass auf ein mismatch kurze Zeit später wieder ein interactive repair folgt, sodass sich beide Interaktionspartner insgesamt gut verstehen. Erlebt ein Baby eine angemessene Mischung von matches, mismatches und Interactive-repair-Sequenzen, so wirkt sich dies positiv auf seine kognitive und emotionale Entwicklung aus.

Ist die primäre Bezugsperson nicht in der Lage, einen insgesamt positiven Interaktionsstil mit dem Kind zu etablieren, so kann sich dies langfristig nachteilig auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Klinische Studien belegen, dass Kinder von Müttern, die an psychischen Störungen leiden, ein erhöhtes Risiko tragen, später selber verhaltensauffällig zu werden und sich geistig nicht so gut zu entwickeln wie Kinder von Müttern ohne entsprechende Probleme. Schon vier Monate alte Säuglinge zeigen Auffälligkeiten im Blickkontakt mit wenig sensitiven Müttern: Sie schauen häufig weg und bemühen sich weniger, Kontakt zu ihren Müttern herzustellen. Auch dieser Befund spricht also dafür, dass frühe Beziehungserfahrungen prägend für den weiteren Lebensweg sein können. Er zeigt darüber hinaus, dass nicht die Präsenz der Mutter per se, sondern vielmehr die Qualität der Interaktion einer primären Bezugsperson für die Entwicklung entscheidend ist.

Stand lange Zeit ausschließlich die Frage nach der prägenden Wirkung früher Beziehungen im Fokus der Forschung, so interessiert man sich heute dafür, ob andere Umweltreize ebenfalls nachhaltigen Einfluss auf die weitere Lerngeschichte eines Menschen haben können. Säuglingsstudien dokumentieren in diesem Zusammenhang, dass Neugeborene zunächst sensibel für sämtliche Laute aller Sprachen sind, diese Sensibilität aber bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres verlieren und fortan nur noch die Laute besonders häufig gehörter Sprache(n) unterscheiden können. Im visuellen Bereich wurde gezeigt, dass Ähnliches auch für die Gesichterverarbeitung gilt: Während wenige Wochen alte Säuglinge individuelle Affen- und Menschengesichter gleichermaßen gut differenzieren können, sind sie bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres auf ihre eigene Spezies gepolt und betrachten alle Affengesichter als nahezu gleich - so wie dies auch bei uns Erwachsenen der Fall ist. Diese beiden Befunde mögen exemplarisch belegen, dass wir Menschen schon in den ersten Lebensmonaten Tendenzen zeigen, uns auf die Besonderheiten der Umwelt, in die wir geboren wurden, einzustellen und unsere anfängliche Bereitschaft, alles gleichermaßen differenziert zu verarbeiten, eingrenzen. Dieser Anpassungsprozess ist nicht unbedingt als Verlust zu werten - die Informationsverarbeitung wird dadurch auch effizienter. Indem wir Erfahrungen kategorisieren und gewichten, prägt unsere Lerngeschichte, wie wir neue Erfahrungen verarbeiten - und zwar von Geburt an.

Frühkindliche Hirnentwicklung

Wenn wir von prägenden Erfahrungen in der frühen Kindheit sprechen, dann liegt auf der Hand, dass solche Prägungen mit Veränderungen der Hirnstruktur einhergehen. Wie kann das geschehen? Menschenkinder werden weitgehend unreif geboren. So weist das Gehirn eines im siebten Monat frühgeborenen Kindes noch nicht einmal jene Furchung der Oberfläche auf, die für Neugeborene charakteristisch ist. Aber auch das termingerecht geborene Kind verfügt noch über ein unreifes Gehirn; sein Hirnvolumen wird sich innerhalb der ersten Lebensjahre verdreifachen. Diese Volumenzunahme ist nicht etwa auf einen Anstieg der Neurone zurückzuführen - ihre Anzahl bleibt nach der Geburt weitgehend konstant. Aber die Nervenzellen müssen zunächst noch wachsen, sich vernetzen und mit einer isolierenden Myelinschicht versehen werden, um voll einsatzbereit zu sein. Diese Prozesse der postnatalen Reifung sind nur teilweise genetisch festgelegt.

Der Reifungsprozess beim Menschen weist dabei eine wichtige Besonderheit auf: Sobald die Neurone ihren endgültigen Platz gefunden haben, beginnen sie, Kontakt mit anderen Neuronen aufzunehmen. Dafür bilden sie Schaltstellen, die sogenannten Synapsen. Im Unterschied zu den meisten anderen Tieren wird beim Menschen zunächst ein Überschuss an Synapsen gebildet. Dieser Überschuss baut sich dann innerhalb eines für jede Hirnregion charakteristischen Zeitraumes wieder ab. Für den visuellen Kortex spielt sich das vor allem im ersten Lebensjahr ab. Für den Frontalkortex, der mit höheren geistigen Leistungen in Verbindung gebracht wird, erfolgt der Anstieg und Abbau von Synapsen deutlich langsamer und ist erst nach der Pubertät abgeschlossen.

In der Neuropsychologie wird heute diskutiert, ob der Anstieg und Abfall der Synapsendichte in bestimmten Hirnarealen zusammenfällt mit "sensiblen Perioden" der Entwicklung, in denen Erfahrungen prägende Wirkung haben. Auch wenn die Forschung, die Prägungsprozesse beim Kind systematisch mit Hirnreifungsprozessen zusammenbringt, bislang noch in den Kinderschuhen steckt, birgt die Beobachtung zeitlicher Parallelen doch eine bestechende Logik in sich. Man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse die noch junge Disziplin der Entwicklungsneuropsychologie hier noch zutage fördern wird.

Was bedeuten die Erkenntnisse für Politik und Gesellschaft?

Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, dass das Lernen schon vor der Geburt beginnt. Kaum haben Kinder das Licht der Welt erblickt, fühlen sie sich zu ganz bestimmten Reizen hingezogen, die biologisch für sie besonders bedeutsam sind. Rasch lernen sie, Personen und Gegenstände wiederzuerkennen, Kategorien zu bilden und kausal zu denken. Dabei helfen ihnen bereichsspezifische Wissenserwerbsmechanismen und möglicherweise auch angeborenes Kernwissen. Um sich der Umwelt offen und neugierig zuwenden zu können, braucht das Baby den Rückhalt von Menschen, zu denen es Vertrauen aufbauen konnte, weil sie seine Signale sensibel wahrnehmen und angemessen darauf eingehen. Konstanz bei den Betreuungspersonen, eine hohe Beziehungsqualität und regelhafte Abläufe im Alltag helfen dem Kind, rasch einen stabilen biologischen Rhythmus zu finden und der Welt mit Zutrauen zu begegnen. Damit sind wichtige Vorkehrungen dafür getroffen, Lernangebote unterschiedlichster Art aufzugreifen und sowohl unter Anleitung als auch selbständig Neues zu erfahren.

Weil sich das Gehirn von Säuglingen und Kleinkindern noch in der Entwicklung befindet, ist es sehr wahrscheinlich, dass frühe Erfahrungen in vielfacher Hinsicht prägende Wirkung haben. Gehirnreifung findet in ständigem Austausch und in Anpassung an die Umwelt statt und schließt sowohl Auf- als auch Abbauprozesse ein. Beide Arten von Veränderungen ermöglichen Fortschritte. Allerdings sollte man junge Kinder nicht aus der Angst heraus, neuronale Verbindungen würden wieder abgebaut, mit einem Überangebot an Anregungen konfrontieren. Vielmehr muss es darum gehen, möglichst gut zu erfassen, wann welche Art von Lernprozess bei einem Kind abläuft und wie man diese Prozesse am besten unterstützen kann.

Kinder sind unsere Zukunft - dieser Satz wird durch die moderne Entwicklungspsychologie, durch Studien von Wirtschaftswissenschaftlern und Hirnforschern klar untermauert. In keiner Phase des Lebens ist der Mensch mehr auf andere Menschen angewiesen als in der frühen Kindheit. Weil frühe Erfahrungen nachhaltige Effekte auf die Gestaltung des weiteren Lebenswegs haben, liegt eine große Verantwortung in unseren Händen. Folglich muss die Politik sich um günstige Rahmenbedingungen für die Gestaltung der ersten Lebensjahre kümmern. Nutzt sie diesen Einfluss in positiver Weise, so kann sie höchst effizient für mehr Chancengleichheit, Produktivität, Gesundheit und sozialen Frieden in der Gesellschaft sorgen.

Nicht umsonst wird derzeit so heiß um das Betreuungsgeld und den Ausbau der Krippenplätze diskutiert. Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zeigen, dass es nicht unbedingt darauf ankommt, von wem das Kind wo betreut wird. Entscheidend ist vielmehr, wie viel Stabilität, emotionale Sicherheit sowie geistige und soziale Anregung am jeweiligen Ort von den Bezugspersonen geboten werden. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis müssen wir einerseits klären, ob eine häusliche Betreuung diesen Ansprüchen gerecht werden kann - gerade mit Blick auch auf jene Gruppen der Gesellschaft, deren Kinder normalerweise schlechtere Chancen haben, einen guten Platz in der Gesellschaft zu finden. Wir müssen uns aber unbedingt auch fragen, wie Krippen auszustatten sind. Sich Gedanken über die Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte zu machen, scheint dabei von außerordentlicher Wichtigkeit zu sein. Es gilt, vor allem über die Ausbildungswege und -inhalte für Krippenerzieher, über Qualitätssicherung und wissenschaftliche Begleitforschung zu diskutieren.

Hinterfragt werden sollte aber auch, ob es Sinn ergibt, einem allgemeinen Förderwahn zu verfallen und bereits Krippenkinder mit musikalischer Früherziehung, Sprachunterricht und weiteren Bildungsmaßnahmen zu strapazieren. Auch wenn es sicher wichtig ist, ein anregendes Lernumfeld zu schaffen, braucht es dafür nicht unbedingt Spezialkurse, besondere Spielmaterialien und schon gar kein Elitetraining. Viel wichtiger scheint die Art des Umgangs von Erwachsenen mit dem Kind. Eltern und Krippenerzieher sollten möglichst gut über frühkindliche Entwicklung Bescheid wissen, erkennen können, welche Entwicklungsschritte beim Kind gerade "dran" sind und das Kind fördern, wenn es dazu bereit ist.

Wir befinden uns momentan an einem Wendepunkt in der deutschen Familienpolitik. Krippenplätze werden flächendeckend ausgebaut, und das bisher in Westdeutschland vorherrschende Betreuungskonzept, nach dem Kinder bis zum dritten Lebensjahr ausschließlich in der Familie (von der Mutter) versorgt werden, steht zur Diskussion. Das bedeutet, dass wir in den nächsten Jahren einen bunten Mix an Betreuungskonzepten erleben werden. Mütter, Tagesmütter, Väter und Krippenpersonal werden sich um Säuglinge und Kleinkinder kümmern. Zahlreiche Förderprogramme sind auf dem Markt und bieten Babykurse aller Art. Krippen probieren unterschiedliche Bildungsprogramme aus. Diese Vielfalt an Lebenswelten bietet optimale Voraussetzungen dafür, durch eine anspruchsvolle Begleitforschung zu klären, worin tatsächlich die besten Rahmenbedingungen (oder Gefahren) für die weitere Entwicklung der Kinder bestehen. Im Sinne der nächsten Generation(en) sollten wir diese Chance unbedingt nutzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Statt ausführlicher Verweise sei stellvertretend auf zwei weiterführende Titel verwiesen: Sabina Pauen, Vom Säugling zum Kleinkind. Entwicklungstagebuch zur Beobachtung und Dokumentation der frühkindlichen Entwicklung, Heidelberg 2011; dies., Was Babys denken, München 2006.

  2. Siehe hierzu auch den Beitrag von Gerald Hüther in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Sabina Pauen für bpb.de

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Dr. phil. nat. habil., geb. 1963; Professorin für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie an der Universität Heidelberg, Psychologisches Institut, Hauptstraße 47–51, 69117 Heidelberg.
E-Mail Link: sabina@pauen.net