Dr. Phillip Wagner (© Phillip Wagner)
Dr. Phillip Wagner (© Phillip Wagner)
Sandra Hermes: Herr Wagner, schulische Demokratiebildung in Geschichte und Gegenwart ist einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Was hatten und haben Demokratie und Schule überhaupt miteinander zu tun?
Phillip Wagner: Historisch gesehen haben Demokratie und Schule gar nicht so viel miteinander zu tun. Denn Schule – und das ist eigentlich bis heute so – ist keine wirklich demokratische Institution. Bis Mitte der 1970er Jahre schloss z.B. das „besondere Gewaltverhältnis“ als Rechtskonstruktion Schülerinnen und Schüler in der Bundesrepublik von bestimmten Grundrechten aus. Um die Beziehung zwischen Demokratie und Schule zu verstehen, muss man zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Seitdem versuchen Staaten über die schulische Bildung auf nachkommende Generationen zuzugreifen. Ziel ist es, sie in ihrem Sinne zu formen und sie in ihre politischen und wirtschaftlichen Ordnungen zu integrieren. So versuchten z.B. die Nationalstaaten im 19. Jahrhundert ihre jugendliche Bevölkerung durch Alphabetisierungskampagnen überhaupt erst zu loyalen und funktionierenden Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu machen. Vor diesem Hintergrund haben dann auch die deutschen Demokratien im 20. Jahrhundert – zuerst in der Zwischenkriegszeit und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – begonnen, auf die nachfolgende Generation zuzugreifen und sie für die freie Grundordnung zu befähigen.
Sandra Hermes: Gab es noch andere Motivationen für demokratische Bildung an Schulen?
Phillip Wagner: Es ging außerdem darum, unerwünschte politische Bewegungen abzuwehren sowie die politischen Impulse der Jugend einzuhegen. In der Zwischenkriegszeit, direkt nach der russischen Revolution, wandten sich in Westeuropa viele Regierungen zum Beispiel gegen die kommunistischen Parteien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es komplizierter. Noch immer versuchte man kommunistische Gruppen durch politische Bildung das Wasser abzugraben. Doch gab es gleichzeitig unterschiedliche politische Bewegungen, die um die politische Bildung an Schulen konkurrierten. Dabei entwickelten die christlichen Demokraten Programme für politische Bildung und Demokratiebildung, die sich stark von denen der demokratischen Sozialisten unterschieden.
Sandra Hermes: Gab es in der Nachkriegszeit dennoch ein gemeinsames Ziel?
Phillip Wagner: Ja, es ging darum, eine möglichst große Zahl von Personen in die Demokratie zu integrieren. Dennoch haben alle Bewegungen dabei auch zwischen verschiedenen Gruppen unterschieden. Diese wurden so auf verschiedene Rollen in der Demokratie vorbereitet. Dieses Spannungsfeld zwischen Integration und Differenzierung macht es in der Demokratiegeschichte so spannend, sich die Schule anzusehen. Schließlich zeigt sie im Kleinen – gewissermaßen – wie Gesellschaft funktioniert. An Schule und Schulpolitik lassen sich gesellschaftliche Konflikte daher sehr gut nachzeichnen.
Hinzu kommt aber noch ein weiteres Spannungsfeld. Die Initiativen von Staat, Parteien und gesellschaftlichen Großorganisationen trafen immer auf einen gewissen Eigensinn der Menschen. Vor allem die Jugend übernimmt nie komplett das, was staatliche Institutionen oder politische Parteien von ihnen wollen und bringt auch eigene Ansprüche gegen die Erwachsenenwelt vor.
Sandra Hermes: Wer hatte und hat außerdem ein Interesse daran, wie Demokratie in der Schule vermittelt wurde und vermittelt wird?
Phillip Wagner: Es geht dabei immer darum, wie die nachfolgende Generation, und manchmal auch die eigenen Kinder, in staatlichen Institutionen ausgebildet und erzogen werden. Daher wollen beim Thema Schulbildung viele unterschiedliche Player mitreden: Nicht nur politische Parteien oder die staatlichen Kultusbehörden, die für schulische Regelungen und die einzelnen Lehrpläne zuständig sind, sondern die Lehrergewerkschaften und Fachverbände mit ihren ganz eigenen politischen Agenden für ihre Unterrichtsfächer, die Erziehungs- und Sozialwissenschaften, die die pädagogischen Konzepte entwickeln, die Eltern und verschiedene Elternvereine, die sehr stark auf das Elternrecht pochen, die großen Kirchen, die sich stets in der Bildung engagiert haben, und schließlich die Schülerinnen und Schüler, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen, weltanschaulichen und politischen Milieus kommen und sich nicht einfach nur anpassen an das, was die dann gelehrt bekommen, sondern eine ganz eigene Art haben, damit umzugehen – teils desinteressiert, teils auch mit offenem Widerstand und Protest.
Sandra Hermes: Wann begann Demokratiebildung an deutschen Schulen?
Phillip Wagner: In der Weimarer Republik gab es erste Versuche, eine Art Didaktik der Staatsbürgerkunde zu entwickeln, allerdings ohne, dass ein eigenes Fach eingerichtet wurde. Außerdem gab es demokratische Rituale und erste demokratische Mitbestimmungsinstitutionen für Schülerinnen und Schüler. Aber auch diese Entwicklungen waren sehr begrenzt, da die Institutionen der Schülervertretung nicht die Erwartungen der Kultusbehörde erfüllten und es auch kein Unterrichtsfach gab, in dem die demokratischen Inhalte gelehrt werden konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den Besatzungszonen Demokratiebildung wieder eingeführt, aber gegen ein eigenes Unterrichtsfach gab es von Seiten der Lehrkräfte sehr große Vorbehalte. Dabei waren die Argumente nicht antidemokratisch. Man machte sich eher Sorgen, dass ein neues Unterrichtsfach anderen Fächern Stunden wegnimmt.
Dennoch hat sich politische Bildung in der Schule der Nachkriegszeit in anderen Bereichen entwickelt. Die alliierten Besatzungsbehörden und die westdeutschen Kultusministerien förderten Schülerzeitungen und Selbstverwaltungsgremien. Sie wurden als Orte betrachtet, in denen Schülerinnen und Schüler lernen sollten, sich in die Schule einzubinden, sich und andere Kinder und Jugendliche politisch zu informieren und auch gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern Schule zu gestalten.
Sandra Hermes: Die praktische Demokratie war also da, bevor Demokratiebildung als Unterrichtsinhalt dazu kam?
Phillip Wagner: Ja, genau. Allerdings muss man zwei wichtige Einschränkungen machen. Zum einen war diese Mitbestimmung nur in Einzelfällen als echte Interessensvertretung gedacht. Die Mehrzahl der Pädagoginnen und Pädagogen – und auch der Kultusbeamtinnen und -beamten – waren in der Nachkriegszeit sehr skeptisch, wenn die Schülerinnen und Schüler sich dann wirklich zu Wort gemeldet haben. In Nordrhein-Westfalen und West-Berlin haben Schülerinnen und Schüler Petitionen an die Kultusbehörde geschrieben und auf Reformen gedrängt. In West-Berlin verlangte die Behörde daraufhin eine öffentliche Entschuldigung für die Kritik. Mitbestimmung, verstanden als Interessenvertretung, war also etwas sehr Ungewohntes zu dieser Zeit.
Und zum anderen wurde die Einrichtung von Schülerzeitungen und Mitbestimmungsgremien für Schülerinnen und Schüler nach 1945, bzw. 1949, fast ausschließlich an den damals noch wenigen Gymnasien gefördert. Bis auf wenige Ausnahmen gab es keine vergleichbaren Institutionen an Haupt-, Real- oder Berufsschulen, womit es de facto kaum schulische Mitbestimmung für Arbeiterkinder und Kinder aus Elternhäusern der unteren sozialen Schichten gab.
Sandra Hermes: Wurde diese Ungleichbehandlung begründet?
Phillip Wagner: Ja, und zwar mit der erforderlichen geistigen Reife, und damit, dass Berufsschülerinnen und -schüler zu wenig Zeit und Muße dafür hätten.
Im Gymnasium ging man auch samstags in die Schule und hatte freie Nachmittage – also viel Zeit, um sich zu engagieren. Berufsschuljugendliche waren dagegen schon als Lehrlinge beruflich tätig und besuchten meistens nur zwei, allerhöchstens drei Tage die Woche überhaupt die Schule. Sie hatten dadurch weniger Optionen, in der Mitbestimmung aktiv zu sein oder eine eigene Zeitung herauszubringen. Zudem gab es trotz des Nationalsozialismus auch in der Nachkriegszeit und den 1960er Jahren gerade an Gymnasien relativ viele reformpädagogisch orientierte Lehrerinnen und Lehrer, die einer partnerschaftlichen Schülermitverwaltung offen gegengestanden. Sie sollte zwar keine Interessenvertretung für Schülerinnen und Schüler sein, aber eine gemeinsame Gestaltung des Schulalltags, beispielsweise von Schulfesten oder Schulfahrten, ermöglichen.
Ein Verwaltungsbeamter des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums sagte Ende der 1950er Jahre, dass die Schülerverwaltung eine Institution für die Elite der Demokratie sei, weil dort die zukünftige Funktionselite der Demokratie lerne, wie Mitbestimmung funktioniere. Demokratiebildung differenzierte also auch nach sozialem Status. Dadurch waren große Teile der Jugendlichen in Westdeutschland nach 1945 von der Einübung von Mitbestimmung ausgeschlossen.
Sandra Hermes: Wann wurde Demokratiebildung auch in den Unterricht integriert?
Phillip Wagner: Auslöser war die sogenannte antisemitische Schmierwelle 1959/60, bei der die Schändung der Kölner Synagoge und des jüdischen Friedhofs durch jugendliche Mitglieder der Deutschen Reichspartei – einer kleinen, rechtsradikale Partei in Westdeutschland – zu zahlreichen Nachfolgetaten in ganz Europa und sogar in den USA geführt hatte. In der Folge kam es zu einem diplomatischen Eklat für Westdeutschland. Die Kultusbehörden und Konrad Adenauer persönlich sahen sich gezwungen, einzuschreiten. Sie sorgten dafür, dass endlich ein eigenständiges Fach Gemeinschaftskunde und eine entsprechende Lehrerbildung – heute würde man von Politikdidaktik sprechen – eingerichtet wurde, um dort politische Themen zu vermitteln und zu verhandeln. Dabei ging es den Verantwortlichen aber nicht nur um die Bekämpfung des Antisemitismus und der Überbleibsel des Nationalsozialismus, sondern auch um die Immunisierung der Bevölkerung gegenüber der DDR und der Sowjetunion. Schließlich war um 1960 die Zeit der großen Krisen zwischen Ost und West: seit 1958 schwelt die Berlin-Krise, 1961 kam der Mauerbau, im darauffolgenden Jahr die Kubakrise. Die Jugend sollte in der Schule auf das Feindbild des Kommunismus eingeschworen werden.
Sandra Hermes: Gab es im weiteren Verlauf der Geschichte andere gesellschaftliche Umbrüche, die die Inhalte und die Art und Weise der Demokratiebildung in Schulen verändert haben? Zum Beispiel die Studentenbewegung?
Mehrere tausend Schüler und Lehrer demonstrieren am 18.12.1976 in Essen für mehr Meinungsfreiheit und freie politische Betätigung der Schülervertretungen. (© picture-alliance, Klaus Rose)
Mehrere tausend Schüler und Lehrer demonstrieren am 18.12.1976 in Essen für mehr Meinungsfreiheit und freie politische Betätigung der Schülervertretungen. (© picture-alliance, Klaus Rose)
Phillip Wagner: Die Studentenbewegung hat nicht allein zu einem Umbruch der politischen Bildung geführt. In der Pädagogik hatte sich schon vorher eine kritische Erziehungswissenschaft herausgebildet, deren Erziehungsziele auch Kritikfähigkeit, Engagement und Widerstandsfähigkeit waren. Diese Entwicklung war sowohl eine Reaktion auf die Beschneidung der Meinungsfreiheit in der sogenannten
Nach 1968 bildeten sich zwei Lager. Ein linkes Lager, das auf die Erziehung zu Kritik und Engagement setzte, und ein liberal-konservatives Lager, das sehr skeptisch auf die Forderungen nach einer Demokratisierung aller Lebensbereiche reagierte und die Auffassung vertrat, dass man erst mal zu den Werten des Grundgesetzes erziehen und die Demokratie gegen die potenziell destabilisierenden Auswirkungen der verschiedenen politisierten Jugendbewegungen absichern muss. Ein Konflikt, der sich in den 1980er-Jahren rund um die gesellschaftlichen Kontroversen um den NATO-Doppelbeschluss weiter zuspitzte.
Sandra Hermes: Wie wirkte sich diese Gemengelage auf die Demokratiebildung aus?
Phillip Wagner: Man diskutierte, wie loyal man zur Bundesrepublik sein und wo Kritik in der Demokratie aufhören müsse. Der 1976 verabschiedeten Beutelsbacher Konsens konnte seine Wirkung allerdings erst in der 1990er Jahren entfalten, als westdeutsche Experten für politische Bildung und Kultusbeamten die politische Bildung in den neuen Bundesländern etablierten.
Sandra Hermes: Sie hatten schon eine Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern angesprochen, wenn es um die Einrichtung von Gremien der Mitbestimmung ging. Gab es in der Vermittlung von politischer Bildung im Unterricht mehr Gleichberechtigung? Etwa in Bezug auf die Bundesländer?
Phillip Wagner: Politische Bildung in Schulen war und ist eine Angelegenheit der einzelnen Bundesländer, weil diese in Deutschland für die Schulbildung zuständig sind. Wie sie gelehrt wurde, unterschied sich daher von Land zu Land sehr stark. In Nordrhein-Westfalen war die politische Bildung bis Mitte der 1960er Jahre stark von christlichen Konzepten der Kulturkritik und der Subsidiarität beeinflusst. Kulturkritik meint, dass man sehr skeptisch gegenüber den Entwicklungen in einer modernen Konsumgesellschaft war, Subsidiarität, dass man das Elternrecht als Argument anführte, um die politische Bildung klein zu halten. Man betrachtete das Elternhaus als den Ort, wo die Kinder eine moralische, sittliche und damit auch eine demokratische Erziehung erhielten und politisch sozialisiert wurden. Da wollte man nicht eingreifen.
Dem gegenüber gab es in West-Berlin eine Form von politischer Bildung, die die Schulung der politischen Urteilsmacht und der Mitbestimmung in den Fokus rückte. Der West-Berliner Senat versuchte politische Bildung, über das Gymnasium hinaus, in allen sozialen Schichten zu verbreiten. Diese Politik hatte in Berlin einen starken Bezug zum Kalten Krieg. Schließlich hatte man den weltanschaulich politischen Gegner mit Ost-Berlin direkt vor der Haustür und vor dem Mauerbau war es immerhin noch relativ einfach möglich, in den Ostteil der Stadt zu fahren.
Sandra Hermes: Machte politische Bildung einen Unterschied in Bezug auf das Geschlecht?
Phillip Wagner: Ja. In der Nachkriegszeit wurden Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Rollen in der Demokratie vorbereitet. Vor allem in den Bundesländern, in denen Mädchen und Jungen noch getrennt voneinander unterrichtet wurden. In Nordrhein-Westfalen wurde an Mädchenschulen eine andere Form von demokratischem Denken und Handeln eingeübt als an den Gymnasien, an denen Jungen unterrichtet wurden. Junge Frauen sollten in den 1950er-Jahren vor allen Dingen zu einer karitativen Mitwirkung an der Gesellschaft herangebildet werden, also wohltätig sein und sich gegen konkrete soziale Missstände engagieren, etwa indem sie sich um sozial benachteiligte oder geflüchtete Familien kümmerten, die es in den 1950er Jahren sehr häufig gab. Bei den jungen Männern ging es viel stärker darum, sie für politische Themen und Mitbestimmung in gesellschaftlichen Belangen zu sensibilisieren.
Sandra Hermes: Gab es in der Schülerschaft auch Protest gegen diese verschiedenen Formen der Ungleichbehandlung?
Phillip Wagner: Ja, es gab Widerstand, aber Umfang und Details sind sehr schlecht überliefert. Schließlich geht es um den Protest eben der Gruppen, die in der Nachkriegszeit keine eigenen Schülerzeitungen hatten, in denen wir heute etwas über ihren Widerstand nachlesen könnten. Wir müssen dafür Quellen heranziehen, die nicht von den protestierenden Schülerinnen und Schülern selbst verfasst wurden. Solche Spuren des Protests finden sich vereinzelt in Berichten der Schulaufsichtsbehörden. Dort liest man z.B. über Schülerinnen und Schüler in Berufsschulen, vor allem Jugendliche aus der Arbeiterschicht, die eine Diskrepanz feststellten zwischen dem idealisierten Bild von Demokratie, das im Unterricht vermittelt wurde, und ihren Erfahrungen mit Demokratie im Alltag: etwa undemokratische Ausbildungsverhältnisse, in denen der Lehrherr nach Gutdünken über die Lehrlinge entscheiden konnte – gerade auch in Kleinbetrieben, wo es kaum Möglichkeiten für Beschwerde oder gar Mitbestimmung gab.
Sandra Hermes: Würden Sie sagen, dass Schülerinnen und Schüler in der Demokratiebildung auch heute noch ungleich behandelt werden?
Phillip Wagner: Ja, bestimmte Mechanismen von Inklusion und Exklusion sind auch heute noch in der politischen Bildung wirksam. Einerseits gibt es den Anspruch auf Gleichheit in Sachen Demokratiebildung, andererseits auch eine Ungleichbehandlung. Es wird zum Beispiel gefragt, inwieweit Kinder aus vermeintlich bildungsfernen Schichten über ausreichend demokratische Fähigkeiten verfügen und Kinder aus migrantischen Kontexten überhaupt in die Demokratie eingegliedert werden können. Immer wieder wird der Ruf nach einer politischen Bildung laut, die die vermeintlichen demokratischen Defizite der migrantischen Bevölkerungsschichten in den Mittelpunkt rückt und Schulen als Akteure einer Art wehrhaften Demokratie gegen Fundamentalismus und Antisemitismus in Stellung bringt. Migrantische und eher linke Bildungsexperten warnen vor dieser Stigmatisierung. Sie verstärke die Unterschiede, statt vorhandene, demokratische Potenziale der Kinder und Jugendlichen zu nutzen.
Vorläufer dieser Debatte gab es schon in den 1970er Jahren. Damals ging es um die Frage, wie die Kinder der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in die Demokratie integriert werden sollen. Und zwar in einer Zeit, in der nicht klar war, ob diese Jugendlichen jemals die deutsche Staatsbürgerschaft – und damit ein Wahlrecht – erhalten würden.
Sandra Hermes: Und wie ist man damals damit umgegangen?
Phillip Wagner: Sehr ambivalent. Schließlich hatten auch die Herkunftsländer ein Interesse daran, dass die Jugendlichen die Kultur und die Sprache ihrer Eltern lernten, um sich auf eine potenzielle Rückkehr vorzubereiten. Außerdem setzten sich europäischen Institutionen stark dafür ein, dass man Jugendliche weiterhin auch in ihrer Muttersprache ausbildet. Programme, die auf die Integration gerichtet waren, hatten oft einen sehr paternalistischen Touch, weil es darum ging, die Jugendlichen in die deutsche Demokratie einzugliedern, ohne ihre eigenen demokratischen Potenziale ernst zu nehmen. All das zusammen führte dazu, dass die Kinder und Jugendlichen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft separiert wurden und sich die Nachkommen der zweiten und dritten Generation immer noch zwischen den Kulturen sehen. Ihre Hybridität wird jedoch nicht als Ressource gesehen, die eine Demokratie auch bereichern kann.
Sandra Hermes: Sie hatten zuvor von der Wende in Deutschland gesprochen – gab es Unterschiede in der politischen Bildung in ostdeutschen und westdeutschen Bundesländern?
Phillip Wagner: Das ist ein wirklich schwieriges Thema, weil das zum Teil noch gar nicht so richtig erforscht wurde und wenn, dann häufig von Leuten, die selber an dieser Transformation der ostdeutschen politischen Bildung mitgewirkt haben. Mit aller Vorsicht kann man sagen, dass nach 1989/90 die westdeutsche politische Bildung mehr oder weniger auf die ostdeutschen Bundesländer übertragen wurde. Das geschah jedoch nicht als Überwältigung ostdeutscher Akteure durch die westdeutsche Bildungspolitik. Vielmehr haben Akteure aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR schon früh wichtige Positionen in der Bildungspolitik in Ostdeutschland übernommen und darauf gedrängt, westdeutsche Programme zu übernehmen – jedoch nicht eins zu eins. Sie wollten sich diese selbst aneignen, aber auch möglichst schnell und umfangreich von westdeutschen Erfahrungen lernen. Westdeutsche Experten, etwa aus der Bundeszentrale für politische Bildung oder aus den Fachverbänden, standen einer direkten Übertragung oft skeptisch gegenüber. Sie warben dafür, dass die ostdeutschen Akteure ihren eigenen Weg zur Demokratie und zur politischen Bildung gehen.
Die Programme, die dann entwickelt worden sind, hatten – paradoxerweise – dennoch einen sehr westdeutschen Blick auf die DDR und nahmen, wie ich finde, die Handlungsmacht der ostdeutschen Bevölkerung und den Eigensinn in der Diktatur kaum wahr. So gab es etwa eine sehr große Bandbreite von Forderungen aus der Bürgerrechtsbewegung um 1989/90, wie die Zukunft der DDR aussehen soll. Ob es eher in die Richtung eines demokratischen Sozialismus gehen soll oder ob ein vereinigtes Deutschland eine neue – gemeinsame – Verfassung braucht. Diese Debatten, haben aber in der politischen Bildung der 1990er Jahre keine große Rolle gespielt. Es ging in erster Linie darum, westliche Entwicklungen nachzuvollziehen, westdeutsche Institutionen kennenzulernen und die Funktionsweise der Marktwirtschaft verständlich zu machen. Dadurch sind bestimmte Einseitigkeiten entstanden, die zu Kritik führten. Schon 1991 wurde vor einer „McDonaldisierung“ der politischen Bildung gewarnt. Der daraus erwachsene Widerstand, äußert sich – vermutlich – bis heute in der vielfach aus den ostdeutschen Bundesländern berichteten Skepsis gegenüber einer angeblich „staatlich verordneten“ politischen Bildung.
Sandra Hermes: Auch die Diskussion um die Frage, ob Lehrkräfte – gerade im Politikunterricht – der Neutralität verpflichtet sind, ist historisch betrachtet nicht neu. Gibt es im Rückblick Strategien, wie diesem Spannungsverhältnis zwischen Haltung und Neutralität erfolgreich begegnet wurde?
Phillip Wagner: Ja, die Debatte um Neutralität und Haltung gibt es schon länger. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren haben sich die beiden großen Parteien, SPD und CDU, teils gegenseitig abgesprochen, demokratisch zu sein. Während die SPD häufig versucht hat, die CDU und deren bildungspolitische Interventionen an den rechten Rand zu rücken, zweifelte die CDU an, ob Teile der SPD noch innerhalb des demokratischen Grundkonsens operieren oder vielmehr eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft anstreben.
Wir können da nicht direkt aus der Geschichte lernen. Die Neutralitätsdebatte zwischen SPD und CDU konnte – auch durch den Beutelsbacher Konsens – kaum beruhigt werden und schwelte noch in den 1980er Jahren in der politischen Bildung weiter. Heute haben sich außerdem die Grundkonstanten stark verändert. Die Debatte ist noch kontroverser, wird durch Social Media befeuert und ist dadurch bestimmt, dass noch mehr Akteure mitreden. In den 1970er und 1980er Jahren hatten wir die etablierten Medien, die eine Gatekeeper-Funktion ausgeübt, und die Debatte dadurch etwas begrenzt haben. Was wir aber dennoch aus der Geschichte lernen können, ist, dass wir die Debatte um Begriffe wie Neutralität und Demokratie trotzdem führen müssen – und zwar sehr offensiv. Und dass jede Generation diese Begriffe aufs Neue mit Sinn füllen und sie an neue Herausforderungen anpassen muss.
Demokratie ist – in den Worten des schottischen Politikwissenschaftlers Walther B. Gallie – ein essenziell umstrittenes Konzept. Es ist ein Zeichen liberaler Gesellschaften, den Streit um Demokratie offen zu lassen. Das spiegelt sich auch in den Methoden, Inhalten und Didaktiken der politischen Bildung wider. Deswegen vollziehen sich in den Debatten um politische Bildung immer auch bekannte Grundkonflikte der Demokratie mit – also etwa um Befreiung und Normierung, um Inklusion und Exklusion, die Debatte darum, was der Staat darf und was Eigensinn der Bevölkerung sein soll. Das sehen wir heutzutage, wenn es zum Beispiel um die Frage geht: Was sind die Grenzen des Neutralitätsgebots von Schule? Schule soll nicht parteipolitisch eingreifen, aber trotzdem den demokratischen Wertekonsens vermitteln und gegen antidemokratische Bewegungen verteidigen. Aber wie wir antidemokratische Bewegungen definieren, wo das beginnt und wo es aufhört, das ist aktuell umstritten.
Klar ist, demokratische Bildung sollte immer das Ziel haben, die Jugend zu befähigen, ihre Meinung frei zu äußern, aber auch dazu da sein, die Grenzen von Demokratie – und damit die Grenzen des Sagbaren – zu definieren.