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… und du bist raus. Wann ein Ausstieg ein Ausstieg ist

Johannes Radke

/ 12 Minuten zu lesen

Ein Thema, zwei Ansichten. Fabian Wichmann aus Berlin hilft Neonazis beim Ausstieg. Andrea Hübler aus Dresden betreut Opfer rechter Gewalt und trifft vor Gericht regelmäßig Täter, die vermeintlich oder tatsächlich ausgestiegen sind. Die beiden Experten diskutieren, wann ein Ausstieg ein echter Ausstieg ist und ob ehemalige Neonazis in der Bildungsarbeit tätig sein dürfen.

Fabian Wichmann betreut Neonazi-Aussteiger im Rahmen der Initiative Exit-Deutschland.

Politikwissenschaftlerin Andrea Hübler arbeitet seit 2009 als Beraterin für Betroffene rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt beim RAA Sachsen e.V. in Dresden. Neben der Beratung ist ihr Schwerpunkt das Monitoring rechter Gewalt.

Fabian Wichmann hat Erziehungswissenschaft studiert, lebt in Berlin und ist seit 2007 beim Zentrum Demokratische Kultur tätig. Dort betreut er seit 2010 Neonazi-Aussteiger im Rahmen der Initiative Exit-Deutschland.

Herr Wichmann, woran merken Sie, dass ein Neonazi es mit dem Ausstieg ernst meint?

Fabian Wichmann: Beim allerersten Telefonat oder einer Mail kann man das nicht wissen. Man kann ja in die Leute nicht reinschauen. Selbst über die ersten Treffen hinweg ist das manchmal nicht klar. Daher ist es wichtig, in Erfahrung zu bringen, welche Ausstiegsmotivation die Person zur Kontaktaufnahme veranlasst hat.

Wie findet man das heraus?

Wichmann: Wir müssen uns da auf unsere Erfahrung verlassen und gleichzeitig die Informationen, die wir von der Person bekommen, überprüfen und nachrecherchieren. Dabei werden die Fälle in Fallbesprechungen im Vier-Augen-Prinzip diskutiert. Natürlich müssen wir mit einem gewissen Vertrauensvorschub arbeiten. Am Ende merkt man es am Kommunikationsverhalten, daran, wie offen die Person ist und ob verbindliche Absprachen auch eingehalten werden.

Brechen Sie im Zweifelsfall auch eine Ausstiegsbegleitung ab?

Wichmann: Das kommt schon vor. Aber da müssen einige Faktoren zusammenkommen. Ein Beispiel ist: Es meldet sich jemand, der ein großes Hakenkreuz-Tattoo auf dem Rücken hat und möchte eigentlich nur, dass wir ihm die Entfernung bezahlen. Das ist dann eine falsche Erwartungshaltung an uns. Natürlich gibt es auch Fälle, bei denen wir, durch Spenden finanziert, innerhalb eines Ausstiegsprozesses helfen, rechtsextreme Tätowierungen zu entfernen. Aber eben nicht auf Zuruf ohne einen betreuten Ausstieg.

Wie definieren Sie einen gelungen Ausstieg?

Wichmann: Ein Ausstieg bedeutet nicht nur, dass man bestimmte Verhaltensformen, Personenkreise und Kleidungsstile meidet. Das ist nur ein Bestandteil. Für uns ist ein Ausstieg die Überwindung und das Ablegen der Ideologie sowie eine kritische Reflexion dieser. Das kann je nach Person mehrere Jahre dauern. Wir haben Aussteiger, die wir aufgrund von spezifischen Sicherheitslagen bis zu neun Jahre begleitet haben. Grundsätzlich haben wir aber in der Regel lange Kontakt zu den von uns begleiteten Personen.

Frau Hübler, fehlt ihnen bei dieser Definition da etwas?

Andrea Hübler: Der wichtigste Punkt ist auf jeden Fall erstmal angesprochen: Ein Ausstieg ist immer ein langjähriger Prozess der Selbstreflexion. Man kann nicht einfach von heute auf morgen sagen "Jetzt bin ich Aussteiger" und fertig. Es geht darum, sich damit auseinanderzusetzen, was diese Ideologie bedeutet und sie schließlich abzulegen.

Aber was mich ärgert, ist die Verwässerung des Begriffs "Ausstieg". Das erleben wir als Opferberatung vor Gericht ständig. Da versprechen regelmäßig rechtsextreme Gewalttäter, sie würden ab jetzt nie wieder eine rassistische Gewalttat begehen und bezeichnen sich deshalb als Aussteiger. Aber das rassistische Denken teilen sie nach wie vor. Das ist meines Erachtens kein Ausstieg.

Wenn jemand in seiner Zeit als Neonazi Gewalttaten begangen hat, gehört für einen echten Ausstieg dann auch dazu, auf die Opfer zuzugehen und sich zu entschuldigen?

Hübler: So eine Erwartungshaltung finde ich falsch. Das ist meist eine Zumutung für das Opfer. Vielleicht hat die Person gar kein Interesse, den Täter wiederzusehen und will auch keine Entschuldigung annehmen. Das ist ihr gutes Recht. Durch ein Treffen mit einem Opfer der eigenen Taten kann kein Aussteiger eine Absolution erwarten. Entscheidend ist die eigene Auseinandersetzungen mit den Taten und das Wahrnehmen der Opferperspektive. Was habe ich getan? Was habe ich bei der Person damit ausgelöst? Darum geht es. Der Täter muss im Zweifelsfall damit leben, dass er Menschen sehr geschadet hat und sie ihm das nie mehr verzeihen werden. Auch das gehört zum Prozess der Auseinandersetzung.

Was hilft einem Opfer denn wirklich?

Hübler: Das Wichtigste ist, dass ein Täter, der sagt, er steigt aus, es wirklich ernst meint und Verantwortung für seine Taten übernimmt. Ein angeblicher Ausstieg wird viel zu oft als Freibrief vor Gericht benutzt. Wir hatten gerade vor wenigen Wochen wieder einen besonders ärgerlichen Fall. Da stand ein junger, organisierter Neonazi wegen eines Angriffs auf eine Flüchtlingsunterkunft vor Gericht und hat sehr glaubhaft geschildert, dass er inzwischen ausgestiegen ist. Mit Erfolg: Er kam aus der Untersuchungshaft und erhielt lediglich eine Bewährungsstrafe. Einen Tag später haben wir ihn auf einer Antiasyl-Demonstration mit seinen alten "Kameraden" gesehen. Das macht sehr wütend. Wie sollen wir das den von uns betreuten Opfern erklären?

Wichmann: Solche Fälle sind auch für Aussteigerprojekte sehr schwer. Sie geraten dadurch in Misskredit. Deshalb geben wir nie Persilscheine für Hafterleichterung oder ähnliches heraus.

Hübler: Gilt das auch für eure Partnerorganisationen? 2011 gab es da einen Fall in Sachsen, wo ein Aussteiger-Betreuer im Gerichtssaal als Zeuge aufgetreten ist und gesagt hat, er lege seine Hand für den Beschuldigten ins Feuer. Das war genauso ein Persilschein. Zu einem ernst gemeinten Ausstieg gehört aber die Verantwortungsübernahme für die eigenen Taten.

Wichmann: Ich kenne den konkreten Fall jetzt nicht. Den müsste man sich dann nochmal genau anschauen, auch was die weitere Entwicklung des Falls anbelangt. Aber klar, wenn ich jemanden schon lange begleite und der kommt in eine Situation, wo meine Aussage vor Gericht notwendig ist, würde ich das natürlich machen. Aber eben nicht, wenn sich jemand an uns wendet, weil er in wenigen Tagen einen Prozess hat und uns schnell als Leumundszeuge benutzen will.

Muss ein Aussteiger alle Brücken hinter sich einreißen, also komplett über die "Kameraden auspacken", um sich damit bewusst den Rückweg in die Szene zu verbauen?

Wichmann: Das kommt immer darauf an, zu welchem Zweck. Wir brauchen auf jeden Fall Informationen, um die Person und die Situation bewerten zu können. Sofern es nicht um die Planung konkreter Straftaten geht, ist der Aussteiger aber nicht verpflichtet, irgendwelche Informationen an Dritte weiterzugeben, und auch wir tun dies nicht ohne das Zutun der betreffenden Person. Diese vollständige Offenlegung von Strukturen gegenüber Dritten oder anderen Institutionen ist für uns kein Kriterium für den Ausstieg. Das gefährdet im Zweifelsfall sogar den Ausstieg und widerspricht dem generellen Datenschutz.

Hübler: Aber nach einer längeren Zeit eines Ausstiegsprozesses wäre genau das doch der glaubwürdigste Bruch mit der Vergangenheit.

Wichmann: Ja, das passiert auch im Rahmen von Texten, Fortbildungen oder in einer anderen geeigneten Form. Aber es ist nicht so, dass das für uns eine Voraussetzung eines Ausstiegs ist. Wir begleiten die Personen ja auch vor Gericht im Rahmen von Zeugenaussagen und müssen schauen, dass sie sich mit ihren Aussagen nicht noch in brenzlige Situationen, was die Gefährdungslage anbelangt, manövrieren.

Hübler: Und wenn ein Aussteiger sagt: "Ich werde nie alles offen legen, weil man Kameraden nicht verpfeift"?

Wichmann: Das sagt höchstens jemand in den ersten Wochen, aber nicht mehr nach drei Jahren Ausstiegsprozess. Dann ist die Distanz groß genug. Es kann natürlich sein, dass jemand trotzdem bestimmte Infos nicht herausgibt. Nicht wegen der "Kameradschaft", sondern weil er ein starkes freundschaftliches Verhältnis zu bestimmten Personen aus der Szene hatte. Das sind dann aber persönliche Geschichten, unabhängig von der Ideologie oder Strukturen.

Hübler: Aber wenn jemand nach mehreren Jahren Ausstieg immer noch darauf besteht, Informationen zurückzuhalten, ist das für mich ein Zeichen mangelnder Distanzierung.

Wichmann: Wir haben das in dieser konkreten Form, dass jemand etwas Bestimmtes nicht erzählen will, so auch nicht. Aber ich kann natürlich nicht wissen, ob es etwas gibt, was derjenige uns nicht erzählt.

Herr Wichmann, wie überprüft Exit denn, dass jemand nicht rückfällig wird? Wenn es keinen hundertprozentigen Bruch mit dem eigenen Umfeld gab, besteht doch immer die Gefahr, dass jemand in die alten Kreise zurückkehrt.

Wichmann: Das bekommen wir über die Begleitung und die Gespräche eigentlich schnell mit. Es gibt Personen, mit denen sind wir seit neun Jahren in Kontakt und wissen heute auch, was sie machen.

Wie oft treffen sie die Aussteiger?

Wichmann: In der konkreten Ausstiegsphase treffen wir uns ein bis zwei Mal monatlich oder öfter. Wenn es später ruhiger wird, weniger, und wenn der Ausstieg vollzogen ist, bleiben wir telefonisch in Kontakt oder reagieren bei konkretem Bedarf.

Frau Hübler, dürfen Aussteiger irgendwann selbst in der Bildungsarbeit tätig sein?

Hübler: Unter bestimmten Voraussetzung irgendwann vielleicht schon. Was aber gar nicht geht, sind diese Fälle, wo jemand einen Ausstiegsprozess beginnt und nach wenigen Wochen gleich in einer Talkshow sitzt oder, schlimmer noch, vor Schulklassen auftritt. Das ist ein langjähriger Prozess. Wenn man da schon innerhalb des ersten halben Jahres jemanden in eine Schulklasse setzt, ist das weder für die Person, noch für die Schüler sinnvoll.

Warum?

Hübler: Weil es extrem kontraproduktiv ist. In dem Stadium ist die Reflexion noch nicht so weit, dass ich von mir selbst, meinen Handlungen und meiner Ideologie abstrahieren kann, dass ich das in einem pädagogischen Konzept weitervermitteln könnte. Grundsätzlich fordern wir, keine Aussteiger ohne fundiertes und erprobtes pädagogisches Gesamtkonzept in Schulklassen zu bringen.

Haben Sie schlechte Erfahrungen gemacht?

Hübler: Ja, wir kennen das sehr gut. Da sind Projekttage an einer Schule, und weil den Lehrern nichts einfällt, wird schnell ein Aussteiger geholt. Der darf dann "ganz authentisch" erzählen, wie spannend das in der rechtsextremen Szene war. Alles ohne Vor- und Nachbereitung. Das ist gefährlich. Im schlimmsten Fall steigert das bei manchen Schülern nur die Attraktivität dieses Milieus.

Herr Wichmann, wie geht Exit damit um? Bei Ihnen arbeiten auch ausgestiegene Neonazis, oder?

Wichmann: Als festen Angestellten im Team haben wir aktuell nur einen Aussteiger. Wir haben Aussteiger, die Aufklärungsvorträge in Schulen halten oder uns in anderer Form ehrenamtlich unterstützen. Unsere Erfahrungen und das Feedback der Schüler haben aber gezeigt, dass die Vorträge positiv im Sinne der Prävention wirken.

Wie entscheiden Sie, wann jemand von der Rolle des Betreuten in die Rolle des Angestellten wechseln kann?

Wichmann: Das kann, ab einem bestimmten Stadium, Teil des Ausstiegsprozesses sein. Der Europarat hat eine Empfehlung an die Mitgliedsländer herausgegeben, Aussteiger als Mitarbeiter einzubeziehen. Auch fachliche Arbeitsgruppen der europäischen Kommission wie die RAN-EXIT-Arbeitsgruppe diskutiert diese Fragen entsprechend.

Hübler: Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich die Leute einbeziehe oder in der Bildungsarbeit einsetze.

Wichmann: Natürlich ist dafür nicht jeder geeignet, da gebe ich Ihnen Recht. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt kann das Auftreten vor Schulklassen Teil des Ausstiegsprozesses für eine Aufarbeitung und Element der Prävention sein. Die muss dann aber entsprechend kontextualisiert werden. Aussteiger und konkret deren Erfahrungen können als lebende Counter-Narrative eingesetzt werden. Natürlich geben wir den Lehrern auch Handwerkszeug, damit solche Veranstaltungen vor- und nachbereitet werden. Diese Papiere werden aber leider nur in den wenigsten Fällen angefragt.

Hübler: Aber dann muss man doch festlegen: Wenn das Vor- und Nachprogramm nicht umgesetzt wird, bekommt ihr auch keinen Aussteiger von uns, weil es dann kontraproduktiv ist.

Wichmann: Das würde ich so nicht sagen.

Hübler: Aber nach welchen Kriterien wird denn festgelegt, ob jemand geeignet ist, an Schulen aufzutreten? Mir fehlen da verlässliche Qualitätsstandards, um sagen zu können: Ja, ich halte das für einen sinnvollen Ansatz. Aus meiner Perspektive ist die Gefahr, dass Schaden angerichtet werden kann, zu groß. Hinzu kommt, dass man sich fragen muss, wie sich potenzielle Opfer rechter Gewalt in der Klasse fühlen, wenn ein Ex-Nazi erzählt, was er für Gewalttaten verübt hat.

Wichmann: Die Idee, dass man über einen Aussteigervortrag schlafende Hunde weckt, halte ich für eine Fehlwahrnehmung. Ich glaube nicht, dass Jugendliche im Jahr 2016 dem Thema Rechtsextremismus ganz naiv gegenüberstehen. Ich sehe einen authentischen Aussteigerbericht beispielsweise als Möglichkeit, diese verklärte Vorstellung von Kameradschaft aufzulösen und eine kritische Reflexion anzustoßen. Zu zeigen, dass diese angebliche Treue und Kameradschaft in der Szene so nicht existiert.

Hübler: Dann könnte aber doch die Antwort sein: "Nur weil deine Freunde Kameradenschweine waren, muss das nicht bei allen rechtsextremen Gruppen so sein." Überhaupt sehe ich dieses Argument, jemand sucht echte Kameradschaft, die man in der Szene aber gar nicht findet, kritisch. Viel mehr müsste man doch den angeblichen Wert der Kameradschaft und was damit verbunden ist in Frage stellen.

Wichmann: Aber das ist doch ein Bestandteil davon. Der erste Impuls für Jugendliche einzusteigen, ist nicht nur Ideologie. Ein attraktives Moment ist: Da gibt es eine Gruppe, die verspricht mir bestimmte Sachen. Und wenn ich jetzt der Zielgruppe glaubhaft erklären kann, dass sie das, was sie dort suchen, da nicht finden werden, ist das eine Dekonstruktion dieser Idee. Wenn das ein Aussteiger erzählt, der es selbst erlebt hat und nicht ich als Außenstehender, ist es glaubhaft.

Wie entscheidet Exit, welche Ausstiege öffentlich gemacht werden?

Wichmann: Das diskutieren wir individuell am Fall. Es gibt Fälle, da raten wir den Betreuten, den Ausstieg öffentlich zu machen. Wenn beispielsweise der lokale Kameradschaftsführer plötzlich weg ist, geht es kaum anders. Außerdem haben wir dann die Chance, im Sinne der Sichtbarmachung des Themas Ausstieg, dass auch noch weitere Mitglieder seiner Gruppe eventuell aussteigen. Solche Fälle hatten wir in der Vergangenheit.

Wann sollte ein Neonazi den Ausstieg für sich behalten?

Wichmann: Jemand, der keine wichtigen Funktionen hatte, kann sich mitunter "rausschleichen" oder eine passende Begründung formulieren, ohne, dass das auffällt. Er kann Jahre später seinen Ausstieg immer noch bekanntgeben, wenn der brenzlige Teil vorbei ist. In der Regel bleibt der Ausstieg einer Person, die längere Zeit in der Szene aktiv war, aber nicht unentdeckt. Das ist fast nicht möglich.

Wie stark werden Aussteiger bedroht?

Wichmann: Das ist ganz unterschiedlich. Die von uns betreuten Personen können ihre eigene Gefährdung und Situation meist sehr gut selbst einschätzen. Wir müssen dann die Informationen bewerten, objektivieren und entsprechende Maßnahmen mit der Person besprechen und umsetzen. Manche bekommen lediglich "seichte" Drohungen über soziale Netzwerke oder Anrufe. Andere erhalten Morddrohungen und werden körperlich angegriffen. Wir haben Leute unter besonderer Polizeibeobachtung und auch Aussteiger, die mit neuem Namen in eine andere Stadt ziehen mussten. Die konkrete Gefährdung kommt immer auf die rechtsextreme Gruppe und die Funktion an, die die Person dort einnahm und dem damit verbundenen möglichen Gefährderwissen.

Hübler: Bei uns hat sich einmal jemand gemeldet, der von seinen früheren "Kameraden" bedroht wurde.

Konnten Sie ihm helfen?

Hübler: Wir haben ihn an ein Aussteigerprojekt vermittelt. Wir selbst konnten nicht einschätzen, wer er ist und welche Rolle er genau gespielt hat. Außerdem gilt als Grundregel, dass Opfer- und Aussteigerberatung nie unter einem Dach sein dürfen. Eine Opferberatungsstelle ist ein Schutzraum. Es darf dort nicht passieren, dass ein Betroffener möglicherweise einem Täter über den Weg läuft.

Was ist der häufigste Grund dafür, auszusteigen?

Wichmann: Es gibt da eigentlich nie diesen einen Moment. Das ist sehr individuell und meist eine Gemengelage von Unzufriedenheit, Zweifel an der Ideologie und Enttäuschung, sowie der Wunsch, etwas in seinem Leben zu verändern, das in einem konkreten Zusammenhang mit der Weltanschauung steht. Es gibt immer eine Phase, wo jemand über einen längeren Zeitraum reflektiert und Fehler in seinem Denken und Handeln sieht. Er bemerkt Sachen, die so nicht mehr funktionieren oder stellt Fragen, auf die er innerhalb der Szene keine Antworten bekommt. Dinge, die nicht in die Ideologie passen. Oder die persönliche Frage, was habe ich eigentlich erreicht in meinem Leben? Bis er daraus aber konkrete Handlungen, also den Bruch mit der Szene ableitet, kann es mehr als ein Jahr dauern.

Wenn ein Täter vor Gericht steht – sollten Richter nicht belegbare Ausstiege in ihrem Urteil ignorieren?

Hübler: Ja, und es sollte auch im Nachhinein Konsequenzen geben, wenn herauskommt, dass der Verurteilte seinen Ausstieg nur vorgespielt hat und er dafür ein milderes Urteil erhalten hat. Das ist nur nahezu unmöglich.

Wie können vorgespielte Ausstiege enttarnt werden?

Hübler: Es würde schon reichen, wenn die Staatsanwaltschaft sich vor dem Prozess ernsthaft informiert, wen sie da vor sich hat. Da geht es schließlich auch um die Ermittlung der rechten Tatmotivation, die nach Gesetz strafschärfend wirken muss. Die Richter müssten nur die Akten aufmerksam lesen. All das Wissen zu einer Nazigruppe, also Organisierungsgrad, Gewaltbereitschaft etc., muss vorhanden sein.

Müssen auch die Profile in sozialen Medien einbezogen werden, um herauszufinden, ob ein Täter seinen Ausstieg nur vorgetäuscht hat?

Hübler: Ja, unbedingt. Gerade auch nach der Verurteilung, wenn ein vermeintlicher Ausstieg eine Bewährungsstrafe begründete. Die Konsequenzen kann dann die Jugendgerichtshilfe durchsetzen, ein Vorteil des erzieherischen Ansatzes des Jugendstrafrechts. Da muss aber das Personal auch entsprechend geschult sein, um die Profile entsprechend zu prüfen. Davon sind wir leider noch weit entfernt.

Fussnoten

ist freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt Rechtsextremismus und Jugendkultur. Er betreut für ZEIT-Online seit Juli 2009 den Störungsmelder. Gemeinsam mit Toralf Staud hat er das ZEIT-Portal "Netz gegen Nazis" gestartet und an dem "Buch gegen Nazis" mitgeschrieben.