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Rechtsextreme Jugendkulturen | Rechtsextremismus | bpb.de

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Rechtsextreme Jugendkulturen Neonazistische Orientierungen im urbanen Raum. Am Beispiel Berlins.

Bianca Klose u.a.*

/ 22 Minuten zu lesen

Rechtsextreme Ausdrucksformen und Positionen dringen über alle Poren jugendtypischer Lebenswelten in den Alltag ein. Manchmal verdichten sie sich sogar zu rechtsextremen Erlebniswelten im urbanen Raum. Ein Überblick am Beispiel Berlins.

Neonazis bei einer Demonstration in Berlin im Dezember 2007. (© Holger Kulick)

Ein nicht unerheblicher Teil der rechtsextremen Szene besteht jenseits rechtsextremer Organisationsformen. Fußballspiele, Kneipenabende und Treffen in öffentlichen oder privaten Räumen zu ''ganz normalen Anlässen'' wie Geburtstagen oder täglicher Freizeitgestaltung sind wichtige Bestandteile einer von Rechtsextremen mitbestimmten Alltagskultur in Berliner Kiezen und Nachbarschaften. Die Zahl von Frauen und Männern mit rechtsextremen Einstellungen übersteigt die Zahl politischer Aktivist/innen bei weitem. Rechtsextreme Einstellungen finden sich auch bei Personen, die zwar nie eine Anbindung an die Szene hatten, sich aber in einem gesellschaftlichen Umfeld bewegen, in dem Vorurteile gegen Minderheiten zum Alltag gehören. Hinzu kommen Personen, die sich nach einer aktiven Phase in rechtsextremen Strukturen ins Private zurückgezogen und Familien gegründet haben, ohne dass sie dabei ihre rechtsextremen Einstellungen aufgegeben haben.

Wie bei Erwachsenen entstehen rechtsextreme Orientierungen auch bei Jugendlichen in der Regel über alltagskulturelle Einflüsse in ihrem sozialen Umfeld. Während die Bedeutung von rechtsextremer Musik für die alltagskulturelle Verankerung rechtsextremer Orientierungen bei Jugendlichen spätestens seit dem Verfahren gegen die Band ''Landser'' in der Öffentlichkeit und auch in den Fachdiskussionen bekannt ist, wird die Existenz facettenreicher rechtsextremer Erlebniswelten im urbanen Raum nicht in vergleichbarem Maße thematisiert. Die ausdifferenzierten alltagskulturellen Angebote der Rechtsextremen, die ab einem gewissen Grad der Ausprägung als rechtsextreme Erlebniswelten bezeichnet werden können, spielen jedoch eine wesentliche Rolle für die Ausbreitung des Phänomens Rechtsextremismus unter Jugendlichen – und sie bilden einen wichtigen Rahmen für die politische Arbeit der organisierten Rechtsextremen in Berlin.

In diesem Text werden die wichtigsten Bestandteile und Entwicklungen innerhalb dieser rechtsextremen Erlebniswelten dargestellt. Darüber hinaus werden die rechtsextremen Strukturen und Aktionsformen dargestellt, über die rechtsextrem-Orientierte politisiert und in die rechtsextreme Szene eingebunden werden.

Rechtsextreme Erlebniswelten: Jugendkulturelle Pluralisierung und Subversion

In den 90er Jahren entwickelten sich rechtsextrem-orientierte Jugendcliquen und Identitäten vor allem im Umfeld der in Deutschland rechtsextrem dominierten Skinheadkultur.(2) Eine rechtsextreme Orientierung konnte daher häufig bereits am Erscheinungsbild von Jugendlichen und deren Vorlieben für bestimmte Bands und Lifestyle-Elemente wie szenetypische Kleidung und Frisuren erkannt werden. Mitte der 90er Jahre setzte jedoch eine kulturelle Pluralisierung rechtsextremer Jugendkulturen ein, die das äußere Erscheinungsbild und die Entstehungsweisen rechtsextremer Orientierungen im urbanen Raum deutlich verändert und ausdifferenziert hat.

Diese Entwicklung ist zum einen darauf zurückzuführen, dass rechtsextreme Aktivist/innen das Potenzial von Alltagskultur für die Verbreitung rechtsextremer Inhalte erkannt und gezielt Strategien kultureller Subversion angewendet haben. Ursprünglich nicht-rechte oder sogar gegen rechts gerichtete ästhetische Ausdrucksformen wurden gezielt angeeignet und im rechtsextremen Sinne umgedeutet. Zum anderen ist die Pluralisierung aber auch ein Ergebnis des Bedarfs von Jugendlichen selbst, die sich zwar von rechtsextremen Inhalten angezogen fühlten, sich gleichzeitig aber nicht auf bestimmte rechtsextrem besetzte jugendkulturelle Ausdrucksformen festlegen lassen wollten.

Die Beschränkung auf eine relativ homogen erscheinende rechtsextreme Sub-Kultur wurde damit überwunden. Die strategischen und finanziellen Interessen von Rechtsextremen greifen hier mit den eigenständigen Bedürfnissen von Jugendlichen ineinander und führen im Wechselspiel zu einer schleichenden Ausbreitung rechtsextrem-orientierter Alltagskultur. Heute existieren rechtsextrem mitbestimmte Lifestyle-Bewegungen mit eigener Kulturindustrie und eigenen Sprachformen in fast allen Jugendkulturen. Rechtsextrem(-orientiert)e Ausdrucksweisen haben somit keinen subkulturellen Charakter mehr, sondern sind Teil des jugendkulturellen Mainstreams geworden. Die breite Angebotspalette führt teilweise zu einer rechtsextremen Ästhetisierung des Alltäglichen, in dem die Gesinnung auf kultureller Ebene ausgelebt werden kann, ohne an politischen Aktionen teilzunehmen.

Musik als Einstiegsdroge und Medium der Ideologisierung im Alltag

Musik hat als Medium zur Verbreitung rechtsextremer Inhalte nach wie vor eine herausgehobene Bedeutung. Die strategische Grundüberlegung, die hinter dem Engagement rechtsextremer Strukturen in diesem Bereich steht, ist denkbar einfach: Durch populäre Musik und eingängige Melodien lassen sich rechtsextreme Botschaften leichter an Jugendliche vermitteln als mit herkömmlichen politischen Mitteln: ''Eine Gruppe zu hören, die man gut findet macht viel mehr Spaß als eine politische Versammlung. So erreichen wir viel mehr Leute''. (3)

Rechtsextrem(-orientiert)e Musik gibt es heutzutage in unterschiedlichsten Formen und Stilrichtungen. Rechtsextreme Texte und Gesinnungen finden sich inzwischen nicht nur im klassischen Rechtsrock, sondern auch im Metal, Darkwave, Techno, HipHop sowie in der Schlagermusik und bei Liedermachern. Durch den Prozess der Pluralisierung lässt sich rechtsextrem(-orientiert)e Musik heute nicht mehr in erster Linie am Stil, sondern vor allem durch die Aussagen in den Texten und den Gestus der Musiker/innen als solche identifizieren. (...) Inhalte und Choreographien'' rechtsextremer Liedtexte machen Jugendlichen Identifikationsangebote zur Bewältigung von Krisensituationen und betten diese in einen ideologischen Bezugsrahmen ein. Dieser soll den Hörenden das Gefühl vermitteln, dass sich die realen Komplikationen der modernen Welt und der eigenen Lebenslage erklären und auflösen lassen – und zwar im Sinne rechtsextremer Weltbilder und Erklärungsansätze.(...) Die Botschaft lautet: "Du bist nicht allein, deine Misere ist Teil unseres Kampfes" Aufgelöst wird dieser Zustand erst im "richtigen" Deutschland. Dort wird sich die jetzige Verliererposition in eine Zugehörigkeit zur Elite verwandeln. Somit können sich die Hörenden als Teil einer Zeitgeistbewegung wähnen. (...)

Kleidung, Codes und Symbole – Jugendkultureller Lifestyle

Mit der Ausbreitung rechtsextremer Musikangebote in unterschiedlichsten Musikrichtungen hat Rechtsextremismus auch Eingang in die damit jeweils verbundenen jugendkulturellen Szenen gefunden. Besonders augenscheinlich sind Pluralisierung und Subversion des rechtsextremen Lifestyles bei Stilen, die zunächst nicht mit rechtsextremen Weltbildern vereinbar scheinen, wie dem HipHop oder Reggae. Da sie Schwarzen Traditionen entstammen, scheinen sie mit dem für den Rechtsextremismus konstitutiven Rassismus grundsätzlich nicht vereinbar zu sein. Und doch bieten rechtsextreme Versände ihren Kund/innen z.B. Kleidungsstücke an, die an den HipHop-Style erinnern. Rechtsextrem-orientierte Jugendliche können heute aus einer breiten Palette von Stilen wählen. Sie können ihre Orientierung nach außen eindeutig demonstrieren, wie dies z.B. in der rechtsextremen Skinheadkultur der 90er Jahre üblich war, müssen dies aber nicht mehr zwangsläufig. In Berlin eignen sich Rechtsextreme zunehmend auch linkskulturelle Ausdrucksformen an und deuten sie um: Vom schwarzen Kapuzenpulli über die Ikone Che Guevara bis hin zum ''Pali-Tuch''.(4) Durch die Übernahme kultureller Codes, Outfits, aber auch von Aktionsformen der linken Autonomen der 80er Jahre gelingt es Teilen der Berliner Rechtsextremen, sich einen sozialrevolutionären Anstrich zu geben. Auch sie nutzen die besondere Attraktivität, die das Rollenmodell des coolen und militanten Rebellen ''gegen Bullen und Staat'' für Jugendliche besitzt. Die Übernahme von kulturell links besetzten Outfits ist aber auch Teil eines ''Versteckspiels'' organisierter Rechtsextremer, das auf die Verwirrung von Polizei und Zivilgesellschaft setzt, die mit rechtsextremer Jugendkultur für lange Zeit vor allem den rechtsextremen Skinhead verbanden.(5)

Kulturelle Subversion kann auch umgekehrt verlaufen, indem rechtsextrem konnotierte Stile, die nicht von jedem/r auf den ersten Blick als solche wahrnehmbar sind, von Rechtsextremen gezielt lanciert werden und sich so allmählich im Alltag ausbreiten. Ein Beispiel hierfür ist die Bekleidungsmarke ''Thor Steinar''. Trotz einer antifaschistischen Aufklärungskampagne über die der rechtsextremen Szene nahe stehenden Produzenten und den engen Zusammenhang der verwendeten nordischen Runensymbolik mit rechtsextremen Weltbildern wird diese Marke in gängigen Bekleidungsgeschäften verkauft und gelangte zu einer breiteren Akzeptanz auch bei nicht-rechtsextremen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Finden rechtsextrem konnotierte ästhetische Formen größere Verbreitung, werden sie als äußerlich wahrnehmbares Bekenntnis zur rechtsextremen Szene zunehmend unbrauchbar. Für diesen Identifikations- und Bekenntnisbedarf wird Bekleidung mit eindeutigen Aufdrucken wie ''Nationaler Sozialist'', ''White Power'' oder Marken wie ''Walhalla'', "Masterrace'' oder ''Consdaple'' nach wie vor angeboten und genutzt.

Als Bekenntnis zu einer rechtsextremen Orientierung werden auch Codes und Symbole genutzt, insbesondere dann, wenn es um strafrechtlich relevante Inhalte geht, die es zu chiffrieren gilt. Sie tauchen in Liedtexten, auf CD-Cover, als Aufdrucke oder Aufnäher, Schmuck, Jackenembleme, Autokennzeichen oder Grußformeln auf. Sie haben wie in jeder anderen Jugendkultur den zusätzlichen Reiz, dass mit ihnen Botschaften an Gleichgesinnte gesendet werden können, ohne dass Nicht-Eingeweihte dies mitbekommen. Dem politischen Gegner gegenüber, der sie erkennt, dienen sie als Provokation, da die Jugendlichen für das entsprechende Bekenntnis nicht strafrechtlich belangt werden können.

Als zumeist nur Insidern bekannte Codes werden u.a. Zahlenkombinationen verwendet, die sich auf die Buchstaben des Alphabets beziehen, also z.B.''18'' für Adolf Hitler oder ''28'' für das internationale neonazistische Musiknetzwerk ''Blood & Honour'', dessen deutsche Sektion 2000 verboten wurde. Zur rechtsextremen Symbolik in diesem Sinne gehören außerdem nicht-verbotene Symbole mit nationalsozialistischer Tradition, wie die ''Schwarze Sonne'' als Kult-Symbol der SS oder solche mit Bezügen zur ''heidnisch-germanischen Tradition'' in NS-Interpretation wie der ''Thorshammer'' oder Kleidungsstücke mit Bekenntnissen zu dem heidnischen Gott ''Odin statt Jesus''.

Rechtsextrem-orientierte Jugendliche haben somit inzwischen viele Wahlmöglichkeiten bezüglich ihrer kulturellen Identifikation. Sie können sich für verschiedenste Musikrichtungen interessieren, ihre Haare tragen wie sie wollen und entscheiden, ob sie ihre Orientierung nach außen manifestieren wollen oder nicht. (...) Sie können dementsprechend entweder kulturelle Patchwork-Identitäten leben oder sich umfassender mit Rechtsextremismus identifizieren. (...)

Szeneläden, Kneipen und Clubs

Auch Szeneläden, die rechtsextreme Lifestyle-Accessoires anbieten (Bekleidung, Tattoos u.ä.), und Kneipen oder Clubs, die als Anlauf- und Treffpunkte fungieren, spielen eine wichtige Rolle für die alltagskulturelle Verbreitung und Verankerung rechtsextremer Orientierungen. In den meisten Berliner Bezirken existieren Läden, die mit ihrem Angebot auch rechtsextreme Nachfrage bedienen. Manche werden von Rechtsextremen betrieben, andere von Personen aus Mischszenen wie dem Rocker- oder Hooliganmilieu (6), wieder andere von Anbietern, die angesichts einer Nachfrage, die über das rechtsextrem(-orientiert)e Klientel hinausgeht, mit ihrem Angebot ein ausschließlich kommerzielles Interesse verfolgen. Ob ein Laden als rechtsextremer Szeneladen fungiert, hängt unabhängig von der Motivation der Betreiber/innen davon ab, ob die Angebotspalette fast ausschließlich oder mehrheitlich auf eine rechtsextrem(-orientierte)e Kundschaft ausgerichtet ist.

Neben rechtsextrem(-konnotiert)er Kleidung sind Accessoires, Fußball-Fanbekleidung, Symbole und Abzeichen mit Bezug zum Nationalsozialismus, Musikdatenträger, Poster und Fanzines Bestandteile des Warenangebots rechtsextremer Szeneläden. In Einzelfällen werden straf- oder jugendschutzrechtlich relevante Artikel als so genannte "Bückware" auf Nachfrage hervorgeholt. (...) Rechtsextreme Szeneläden bieten Jugendlichen direkten Zugang zum gesamten Repertoire rechtsextrem(-orientiert)en Lifestyles. Zudem können Jugendliche hier Kontakte untereinander oder – über die Betreiber/innen und andere Besucher/innen – in die Szene knüpfen. Wenn die Betreiber selbst rechtsextrem sind und kein rein privates kommerzielles Interesse verfolgen, fließen Teile des Erlöses in die rechtsextreme Szene zurück.

Neben solchen Szeneläden existieren in Berlin auch eine Reihe von Kneipen und Clubs als Anlauf- und Treffpunkte für rechtsextrem(-orientiert)e Jugendliche. In Kneipen mit einer Mischung aus "normaler" und rechtsextrem(-orientiert)er Klientel müssen rechtsextrem(-orientiert)e Jugendliche sich keine Sorgen machen, wegen ihrer Einstellung oder der von ihnen getragenen rechtsextremen Markenkleidung am Eingang abgewiesen oder von Besucher/innen angesprochen zu werden. In diesen Milieus mischen sich "Stinos" (Abkürzung für "Stinknormale") oder politisch unaufmerksame Jugendliche jeglicher sonstigen kulturellen Identifikation mit Rechtsextrem(-orientiert)en. Deren Orientierungen und Identifikationen werden nicht als problematisch wahrgenommen, weil Vorurteile gegen Minderheiten ("Fidschis", "Bimbos", "Penner", "du Jude" als Schimpfworte) auch unter anderen Jugendlichen weit verbreitet sind. Auf diese Weise werden rechtsextreme Orientierungen zum normalen Bestandteil des jugendlichen Alltags.

Darüber hinaus existieren in Berlin Kneipen und Clubs, die regelmäßig von Szeneangehörigen besucht und z.T. von ihnen betrieben werden. Diese Kneipen sind häufig Anlaufpunkte vor und nach rechtsextremen Aufmärschen, Veranstaltungsorte für Partys der rechtsextremen Szene Berlins und Brandenburgs sowie Ausgangpunkte für gewalttätige Übergriffe. Hier können rechtsextrem(-orientiert)e Jugendliche gezielt Kontakte zu organisierten Rechtsextremen suchen und finden. Die Entstehung solcher Infrastrukturen "von Rechtsextremen für Rechtsextreme" ist ebenfalls das Ergebnis des Zusammentreffens eines in den rechtsextremen Jugendkulturen vorhandenen Bedarfs und gezielter rechtsextremer Strategie: (...)

Fazit: Ausbreitung rechtsextremer Orientierungen im vorpolitischen Raum

Rechtsextreme Orientierungen und Identifikationen unter Jugendlichen entwickeln sich dadurch, dass rechtsextreme Weltbilder auf verschiedensten Wegen in jugendtypische Lebenswelten einsickern: über Musik, angesagte Kleidungsstile, das Internet, Kneipen und Szeneläden. Rechtsextreme Erlebniskultur und rechtsextreme Infrastruktur schaffen ein soziokulturelles Milieu, in dem Mädchen und Jungen sowie junge Erwachsene beiderlei Geschlechts in unterschiedlichen Abstufungen "rechte", "rechtsextrem-orientierte" oder "rechtsextreme" Lebensstile und Identitäten entwickeln können. In diesem Milieu werden Unterhaltung, soziale Kontakte und Jobs gesucht und gefunden. Rechtsextreme Kultur lässt sich damit nicht mehr nur in einschlägigen Veranstaltungen, wie z.B. Konzerten ausleben, sondern durchdringt die verschiedensten alltäglichen Lebensbereiche. Anders als bei so genannten "Parallelwelten" sind rechtsextrem mitbestimmte Erlebniswelten nicht von der Außenwelt abgeschottet, sondern sie haben relativ durchlässige Grenzen. Diese sorgen für personellen Nachwuchs und machen deren Attraktivität aus. (...)

Die große Nachfrage nach kulturellen Angeboten mit rechtsextremen Inhalten wird durch die große Verbreitung rechtsextremer Musik ebenso deutlich wie durch die Erfolgsgeschichte des Modelabels "Thor Steinar". Mit der Ausdehnung rechtsextrem mitbestimmter Alltagskultur geht ein finanzieller Nutzen derjenigen einher, die die Szenen mit immer neuem Material versorgen. Durch das Ineinandergreifen von Angebot und Nachfrage wird sowohl die rechtsextreme Szene im engeren Sinne finanziell und infrastrukturell unterstützt, als auch die Langlebigkeit und nachhaltige alltagskulturelle Verankerung rechtsextremer Erlebniswelten gefördert. Rechtsextreme Orientierungen und Identifikationen entstehen also im vorpolitischen Raum. Dennoch werden sie politisch wirksam, weil sie das soziale Klima in den jugendkulturellen Milieus verändern und (mit)bestimmen, was angesagt und cool ist. In diesen Milieus können sich Rechtsextrem-Organisierte "wie Fische im Wasser" bewegen und versuchen, Jugendliche und junge Erwachsene stärker zu politisieren und einzubinden.

Politisierung und Rekrutierung

Die Bedeutung des politisch organisierten Kerns der rechtsextremen Szene im Rahmen rechtsextremer Erlebniswelten besteht darin, dass er Angebote macht, durch die rechtsextreme Orientierungen und Teil-Identifikationen von Jugendlichen zu auch subjektiv eindeutigeren politischen Identitäten und Lebensweisen werden können. Im Hinblick auf die Politisierung und Rekrutierung von Jugendlichen sind insbesondere jene rechtsextremen Strukturen relevant, deren Organisations- und Aktionsformen aktionsorientiert sind und in denen das Mitmachen daher Erlebnischarakter gewinnt. In Berlin sind dies die miteinander kooperierenden Kameradschaften jüngerer Prägung und teilweise auch NPD/JN-Strukturen. In diesem Abschnitt werden diese rechtsextremen Strukturen sowie ihre Aktionsformen und Strategien dargestellt.

Aktionsorientierte Strukturen: Kameradschaften, Junge Nationaldemokraten (JN)

Prototyp aktionsorientierter rechtsextremer Strukturen sind die so genannten Kameradschaften. Dieses Organisationsmodell wurde in bewusster Abgrenzung zu den bis dahin existierenden überregionalen parteilichen und parteiähnlichen formellen Strukturen entwickelt. Hintergrund der konzeptionellen Weiterentwicklungen waren repressive Maßnahmen und eine Reihe von Organisationsverboten, mit denen der Staat auf ein Erstarken des rechtsextremen Lagers nach der Wiedervereinigung reagierte. (...) Im Vergleich zu Parteien sind Kameradschaften eher informelle Zusammenschlüsse einer überschaubaren Anzahl von Personen, die dezentral, regional und weisungsunabhängig agieren, meist keine ausgeprägte formelle Hierarchie haben und deutlich aktionsorientiert sind.

Innerhalb des Kameradschaftsspektrums in Berlin sind es insbesondere Aktivist/innen und Kader mit langjähriger Erfahrung innerhalb der rechtsextremen Szene, die rechtsextrem-orientierte Jugendliche und junge Erwachsene politisieren und einbinden. Dieses rechtsextreme Personenspektrum steht für das Konzept des "autonomen Nationalismus", mit dem eine Neuausrichtung in Stilen, Aktionsformen und Strategien verbunden ist. Sie haben die Monokultur des klassischen rechtsextremen Skins hinter sich gelassen, spielen Mainstream- und linke Musik auf Demonstrationen und Kundgebungen und eignen sich traditionell linke Symbole, Kleidungsstile und Aktionsformen an, wie z.B. einen militanten "Nationalen Black Block" in Anlehnung an den links-autonomen "Schwarzen Block" oder die Durchführung symbolischer Hausbesetzungen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, ihre Strukturen kulturell für Jugendliche zu öffnen, die zwar "national" denken, sich bisher aber weder von einer rechtsextremen Skinheadästhetik noch von den an die HJ (Hitler Jugend) oder den BDM (Bund Deutscher Mädel) angelehnten Stilen angesprochen fühlten. (...) In der Adaption linker Symbolik und Aktionsformen sehen ältere Rechtsextreme bloße Einfallslosigkeit, zu der jugendliches Konsumverhalten geführt habe. Im Berliner Raum hat sich in dieser Diskussion die jüngere Generation gegenüber den älteren bzw. traditionellen Rechtsextremen durchgesetzt. Dieser Trend gilt in diesem Maße jedoch nicht für alle anderen Großstädte und die Flächenländer.

Im Unterschied zu den Berliner Kameradschaften älteren Typs ist für die derzeit tonangebende rechtsextreme Kameradschaftsszene auch hervorzuheben, dass sich rechtsextreme junge Frauen in einer eigenen Mädelgruppe organisierten. Für rechtsextrem-orientierte Mädchen/junge Frauen existieren somit konkrete Role Models der eigenständigen, selbstbewussten und politischen Aktivistin, die das traditionelle Rollenmodell der weiblichen Begleiterin rechtsextremer Männer ergänzt und erweitert.

2005 wurden die für die kulturelle und strategische Erneuerung des Rechtsextremismus maßgeblichen Kameradschaften "Kameradschaft Tor" und "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO) vom Berliner Innensenator verboten. Das Verbot sorgte für eine kurzzeitige Destabilisierung, blieb aber ohne langfristige Wirkung, weil zwar die Organisationen aufgelöst wurden, das Personenspektrum aber weiterhin aktiv war. Zudem sorgte die über Jahre gewachsene Kooperation zwischen den Angehörigen verschiedener Kameradschaften jüngeren Typs und der NPD für eine schnelle Neuformierung, insbesondere im Rahmen der wieder belebten Strukturen der "Jungen Nationaldemokraten" (JN). So wurden in zeitlicher Nähe zu den Verboten in mehreren Bezirken Stützpunkte der NPD-Jugendorganisation gegründet, die seitdem maßgeblich durch Aktivist/innen der verbotenen Kameradschaften getragen werden.

Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)

Auch die Mutterpartei NPD selbst ist im Hinblick auf die Einbindung und Rekrutierung von Jugendlichen bedeutsam. Sie agiert in Berlin als eine Art "legaler Arm" des aktionsorientierten Rechtsextremismus. Für die Annäherung an das event- und aktionsorientierte Kameradschaftsspektrum steht stellvertretend der Berliner NPD-Parteivorsitzende Eckart Bräuniger, der auf eine längere Karriere in militanten rechtsextremen Strukturen zurückblicken kann und über gute Kontakte ins rechtsextreme Musiknetzwerk verfügt. (...)

Wie eng die Kooperationsbeziehung zwischen NPD und Kameradschaften in Berlin sind, zeigte sich auch während der Wahlkämpfe 2005 und 2006, in denen die NPD von Personen aus dem Kameradschaftsspektrum u.a. bei der Durchführung von Wahlkampfständen und Plakatier-Aktionen unterstützt wurde. Umgekehrt zeigten Parteivertreter/innen Präsenz auf Demonstrationen des militanten Kameradschaftsspektrums.

Darüber hinaus nimmt die NPD in der Öffentlichkeit eine anwaltschaftliche Rolle gegenüber rechtsextremen Aktivist/innen ein. Dies schließt auch die Legitimierung von militantem Auftreten und Störungsversuchen von Veranstaltungen demokratischer Akteure ein. Auf diese Weise trägt die NPD einerseits zur Stärkung derjenigen rechtsextremen Strukturen bei, die rechtsextrem-orientierte Jugendliche über Aktionen einbinden und politisieren. Andererseits versucht sie dabei aber auch, von der Attraktivität zu profitieren, die Kameradschaften jüngerer Prägung für Jugendliche haben.

Als Wahlpartei wendet sich die NPD mit jugendgerechten Medien auch direkt an die Zielgruppe der Erst- und Jungwähler/innen. So wurden im Vorfeld der Bundestagswahlen 2005 nach Angaben der NPD in Berlin und Brandenburg ca. 200.000 Musikdatenträger als Werbematerial für die rechtsextreme Partei vor Schulen verteilt. Im Wahlkampf 2006 rief die NPD die Kampagne "Als erstes wählst du national!" aus und legte einen Schwerpunkt auf die Mobilisierung von Erst- und Jungwähler/innen, zu denen aufgrund der Herabsetzung des Wahlalters für die Bezirksverordnetenwahlen auch die 16- bis 18-jährigen Jugendlichen gehörten. Im Rahmen dieser Bemühungen wurde Wahlwerbung der NPD gezielt an private Haushalte bzw. Adressen der Erstwähler/innen verschickt.

Die Wahlergebnisse zeigen, dass es unter Jugendlichen kein Tabu mehr ist, einer rechtsextremen Partei die Stimme zu geben. Unter den 18 bis 25-Jährigen war die NPD mit 5,1% der Stimmen am erfolgreichsten, insbesondere bei jungen Männern mit 7,3% im Vergleich zu 2,9% bei den jungen Frauen. In Berlin ist der NPD der Einzug in vier Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) nicht zuletzt auch mit den Stimmen der jüngeren Wähler/innen gelungen. (...)

Strategien und Aktionsformen

Der moderne Rechtsextremismus aus NPD/JN und Kameradschaftsspektrum hat sich nicht nur kulturell weiterentwickelt, sondern auch strategisch modernisiert. Er bietet rechtsextrem-orientierten Jugendlichen und Nachwuchsaktivist/innen inzwischen ein breiteres Repertoire jugendgerechter Aktionsformen an.

Ab 1996 griffen Freie Kameradschaften und NPD die Grundideen des bereits 1992 vom Nationalen Hochschulbund veröffentlichten Strategiepapiers "Schafft national befreite Zonen" auf und integrierten sie in ihre Konzepte. Dabei gelangte der lokale Raum als Aktivitätsschwerpunkt in den Focus der Rechtsextremen. Vor dem Hintergrund real vorhandener Dominanzen rechtsextremer Alltags- und Subkulturen vor allem in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands sowie der häufig mehr als nur klammheimlichen Zustimmung der Bevölkerung zu gewaltsamen Angriffen auf Flüchtlingsheime und "Ausländer/innen" sollten zunächst lokale Einflusszonen erarbeitet werden, von denen Schritt für Schritt eine Verbreiterung erreicht und schließlich ganz (Ost-)Deutschland "zurückerobert" werden sollte. Auch wenn sich vieles, was heute als Teil der Strategie "national befreiter Zonen" gilt, eher aus einer Art "Alltagspraxis" ergeben hat, kann doch inzwischen von einer relativ kohärenten Gesamtstrategie der Rechtsextremen gesprochen werden, die in der 3-Säulen-Strategie der NPD "Kampf um die Straße, Kampf um die Köpfe und Kampf um die Parlamente" zusammengefasst wurde.

Im Zusammenhang mit der Frage, auf welche Weise rechtsextrem-orientierte Jugendliche stärker politisiert und rekrutiert werden, ist an dieser umfassenden Strategie dreierlei hervorzuheben: Aktuelle rechtsextreme Strategien und Aktionsformen zielen darauf, sich in den Nachbarschaften, Kiezen und Kommunen sozialräumlich zu verankern, Zustimmung in der als "deutsch" definierten Bevölkerung zu erringen und als "nicht-deutsch" definierte Menschen sowie politische Gegner einzuschüchtern und auszugrenzen.

In diesem Kontext stehen Aktionsformen, mittels derer der öffentliche Raum besetzt und als "eigenes Territorium" reklamiert wird, militante und gewalttätige Aktionen gegen politische Gegner/innen und Minderheiten durchgeführt werden sowie Überzeugungsarbeit im Hinblick auf die umworbene herkunftsdeutsche Mehrheitsgesellschaft geleistet wird.

Besetzung des öffentlichen Raums: Demonstrationen, Territorialverhalten

Im Rahmen des "Kampfes um die Straße" finden auch in Berlin jedes Jahr zahlreiche rechtsextreme Demonstrationen statt (...). Teil einer Demonstration zu sein, vermittelt rechtsextrem-
orientierten Jugendlichen ein konkretes Gemeinschaftsgefühl, die Identifizierung mit der Szene wird gestärkt. Durch das Skandieren von Parolen, Gespräche mit anderen rechtsextrem(-orientiert)en Teilnehmer/innen und Reden von rechtsextremen Funktionär/innen werden Weltanschauungen vermittelt und gefestigt. Demonstrationen haben für Jugendliche enormen Erlebnischarakter. In rechtsextremen Internetforen ist immer wieder nachzulesen, dass Teilnehmer/innen besonders auf Auseinandersetzungen mit der Polizei und politischen Gegner/innen hoffen, die körperliche Auseinandersetzung wird gesucht. Insbesondere werden auch einzelnen rechtsextrem-orientierten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen Funktionen übertragen, wie Front- oder Seitentransparente zu tragen, als Ordner/in zu fungieren oder den Lautsprecherwagen zu schieben. Durch die Übernahme von Funktionen wird ihnen das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden, durch die Übernahme von Verantwortung im Rahmen von politischen Aktionsformen wachsen sie nach und nach in die Strukturen der rechtsextremen Szene hinein.

Allerdings wird die Straße nicht nur zu besonderen Anlässen wie Demonstrationen besetzt, vielmehr werden Nachbarschaften und Kieze gerade im Alltag als "eigenes" Territorium beansprucht. Rechtsextreme schaffen dafür die Voraussetzungen, indem sie sich in bestimmten Wohnquartieren konzentrieren und versuchen, Infrastrukturen (...) aufzubauen. Derartige Infrastrukturen bieten nicht nur die Möglichkeit des sozialen Kontakts zwischen Rechtsextremen und Rechtsextrem-Orientierten, sie strahlen auch auf das soziale Klima im Kiez aus. Bemerkt wird dies meist zuerst von Menschen, die Opfer rechtsextremer Gewalt werden könnten, weil sie nicht in das rechtsextreme Weltbild passen. Aus ihrer Perspektive bedeutet die Existenz von Wohnorten und Treffpunkten von Rechtsextrem(-orientiert)en eine erhöhte Gefahr, Opfer verbaler oder physischer Übergriffe zu werden, weil sich gewaltbereite Personenkreise vermehrt in solchen Sozialräumen aufhalten.(...)

Die rechtsextreme Infrastruktur fungiert als Basis für die gezielte oder schleichende "Besetzung" des öffentlichen Raumes. Rechtsextrem(-orientiert)e Jugendliche und junge Erwachsene werden im Sinne einer solchen Besetzung des öffentlichen Raums aktiv, indem sie durch Tags und Aufkleber die Sozialräume als "eigenes" Territorium markieren. Diese in großer Zahl anzubringen, ist Teil der erlebnis-orientierten Aktionsformen, durch die rechtsextrem-orientierte Jugendliche in politische Aktionen eingebunden werden. Sich nachts gemeinsam auf den Weg zu machen, ausgerüstet mit Dosen, Stiften und Aufklebern, um die Gegend zu markieren, ist auch aus anderen maskulinen Jugendszenen als attraktiv bekannt und ist von daher nicht als etwas genuin Rechtsextremes anzusehen. Die wichtigste Unterscheidung zu anderen maskulinen Jugendszenen besteht darin, dass dies im rechtsextremen Kontext mit dem ziel-orientierten Aufbau eines Bedrohungsszenarios gegen Minderheiten und politische Gegner/innen verbunden ist. Durch das Mitmachen bei solchen Aktivitäten werden rechtsextreme Identifikationen verstärkt. (...)

In vielen Berliner Bezirken tauchen regelmäßig Tags mit rechtsextremen Inhalten und Symboliken auf(...)Neben Tags tauchen in Berlin wöchentlich Aufkleber der rechtsextremen Kameradschaften und der NPD auf. Die meisten NPD-Aufkleber sind auf diversen Internetseiten für einen geringen Preis bestellbar und werden für teils flächendeckende Klebeaktionen gerade auch von Rechtsextrem-Orientierten verwendet. Der Zugang zu Aufklebern der Kameradschaften ist wesentlich schwieriger und bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Urheber/innen in die organisierte Szene eingebunden sind. Tauchen in einem Sozialraum immer wieder neue Aufkleber und Graffitis auf, ist davon auszugehen, dass eine oder mehrere rechtsextreme Personen in der Gegend wohnen, oder dass der Sozialraum von diesen Rechtsextremen als ihr "Revier" betrachtet wird.

Militanz und Gewalt: "Anti-Antifa"-Arbeit

Oft bleibt es nicht bei der symbolischen Inanspruchnahme bestimmter Kieze. Vielmehr wird versucht, politische Gegner/innen gezielter einzuschüchtern und es wird Gewalt gegen Minderheiten und politische Gegner/innen ausgeübt. Ein zentrales Aktionsfeld der Berliner Kameradschaften ist die so genannte Anti-Antifa-Arbeit. Hierzu gehört das Ausspionieren von engagierten Jugendlichen und Erwachsenen aus Politik und Zivilgesellschaft. Rechtsextreme "Anti-Antifa"-Aktivist/innen fotografieren die politischen Gegner/innen auf deren Demonstrationen und anderen Veranstaltungen, versuchen herauszufinden, wo sie wohnen und setzen Bilder mit Namen und Adressen auf spezielle Internet-Seiten. Diese Bestrebungen mündeten in den letzten Jahren immer wieder in militanten, teils gezielten, teils spontanen Angriffen auf vermeintliche und wirkliche Gegner/innen. Solche "Aufgaben" übernehmen neben langjährigen Szeneangehörigen auch Nachwuchsaktivisten, die sich offenbar von dem militanten Aspekt dieser Aktionsform in ihrem männlichen Rollenverständnis besonders angesprochen fühlen. Vereinzelt kommt es auch zu einer Beteiligung von Aktivistinnen an derartigen gewalttätigen Aktionsformen. Diese jungen Frauen handeln dabei entgegen der üblichen rechtsextremen Rollenzuweisung. Aber auch Angehörige von Mischszenen, wie z.B. aus dem Hooliganmilieu, können über solche militanten Aktionen an die rechtsextreme Szene angebunden werden. Bernd Wagner spricht in diesem Zusammenhang von einem "Machtkontext", der vielfältige Persönlichkeitstypen anzieht. Der Machtfaktor wird durch die öffentlich stattfindende oder "demonstrative Gewalt" sichergestellt und so werden unterschiedliche Jugendliche angezogen, um sie potenziell als Nachwuchs für rechtsextreme Strukturen zu gewinnen.(8)

Rechtsextreme Frauenorganisationen, ideologische Erziehung und traditionelle Jugendarbeit

In der Fachwelt werden nicht zufällig seit einiger Zeit Präventionsstrategien im Kita- und Grundschulbereich diskutiert. Denn auch Kinder und jüngere Jugendliche können rechtsextremer Beeinflussung auf dem Wege einer ideologisch gefärbten Erziehung ausgesetzt sein, wie auch zunehmende Berichte von Erzieher/innen oder Grundschullehrer/innen über Ereignisse mit rechtsextremem Hintergrund belegen.

Neben gänzlich privaten Sozialisationsinstanzen wie Familien älter gewordener Rechtsextremer spielen hier auch rechtsextreme Organisationen wie die Gemeinschaft Deutscher Frauen (GDF) und die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) eine Rolle. Die rechtsextremen Gegner/innen der Demokratie haben erkannt, dass eine möglichst frühzeitige Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen eine große Wirkung in ihrem Sinne erzielen kann.

Die rechtsextreme Frauenorganisation GDF ist eine der einflussreichsten rechtextremen Frauengruppen der letzten Jahre. Sie wurde 2001 von einschlägig bekannten rechtsextremen Frauen gegründet, die zuvor im selbst aufgelösten Skingirl Freundeskreis Deutschland politisch aktiv waren. Die GDF-Frauen sind gestandene Rechtsextreme, die sich seit langer Zeit in der Szene behaupten, teilweise bereits ihre Jugendzeit in der rechtsextremen Szene verbracht haben. Sie arbeiten dem Klischee des weiblichen Anhängsels rechtsextremer Männer seit Jahren entgegen. Als eine zentrale Aufgabe betrachtet die GDF die Weitergabe der rechtextremen Ideologie an die nachwachsende Generation. Der Kindererziehung und Vermittlung kommt eine zentrale Stellung zu. Sie wird als Aufgabe verstanden, die über den Rahmen des Privaten hinausreicht, von daher besteht eine enge Zusammenarbeit mit der Heimattreuen Deutschen Jugend, die völkische, rechtsextreme Jugendarbeit betreibt. Über die konkreten pädagogischen Ansätze der HDJ ist wenig bekannt. Es handelt sich um eine sehr elitäre Organisation, die das Licht der Öffentlichkeit scheut. Tatsache ist, dass die HDJ Ferienlager für Kinder und Jugendliche organisiert und dort geschlechtsspezifische Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene macht. Bei den Jungen und jungen Männern stehen auch Wehrsportübungen und andere Formen von Militarisierung auf der Tagesordnung. Diese "Ferien"-lager erinnern nicht zufällig an jene "Werte", die sowohl die verbotene Wiking-Jugend als auch die Hitler-Jugend (HJ) und der Bund deutscher Mädel (BDM) zu vermitteln gedachten, auch ästhetisch wird offen an die nationalsozialistischen Traditionen angeknüpft. Darüber hinaus richten HDJ und GDF gemeinsame Feiern innerhalb der und für die rechtsextreme Szene aus.

Obgleich es sich bei der HDJ und ihrer Klientel um einen überschaubaren Kreis handelt, ist nicht zu unterschätzen, dass durch ihre Angebote rechtsextreme Familien ihre Kinder auch außerhalb der eigenen Kleinfamilie in einer rechtsextremen Umgebung aufwachsen lassen können.

Das Engagement der GDF ist insofern mit Besorgnis zu betrachten, als die Aktivistinnen auch versuchen, über Gremien wie Elternräte oder Mütterkreise in Kindertagesstätten und Schulen Einfluss auf die Erziehungs- und Bildungsarbeit zu nehmen und ihre rechtsextremen Überzeugungen einzubringen. In ihrem Auftreten können sie an das Klischee der sorgenvollen, engagierten und unpolitischen Mutter anknüpfen. Es ist ihnen in unserer Gesellschaft, in der Mutterschaft an sich einen positiven Wert darstellt, sehr einfach möglich, ihre politische Motivation zu überdecken. Dasselbe gilt jedoch auch für Eltern, die der rechtsextremen Szene angehör(t)en, ihre ideologisch gefärbten Erziehungsvorstellungen an ihre Kinder weitergeben und sich in die Elternarbeit einbringen.

Fazit: Politisierung und Rekrutierung über aktionsorientierte Politik- und Freizeitangebote

Organisierte Rechtsextreme finden in einigen Berliner Bezirken günstige Rahmenbedingungen für die Politisierung und Rekrutierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor. Die Ausbreitung rechtsextremer Orientierungen und Identifikationen im jugendkulturellen Alltag und die Existenz rechtsextremer Erlebniswelten ermöglichen es ihnen, Kontakt zu Jugendlichen zu finden. Aktionsorientierte Rechtsextreme versuchen Jugendlichen "Nationalismus (...) als spannendes Erlebnis oder gar Abenteuer zu verkaufen." (9) Sie bieten ihnen neben soziokulturellen Events auch politische und militante Aktionen mit Erlebnischarakter. Dabei nutzen sie Anknüpfungspunkte, die ihnen maskuline Jugendszenen bieten, integrieren inzwischen jedoch auch junge Frauen mit einem um die "kämpferische Aktivistin" erweiterten Rollenbild. Am modernen Rechtsextremismus in Berlin sind die Ausrichtung auf direkte Aktion, die aktuelle Ästhetik und das Anknüpfen an den Alltag der Jugendlichen über Freizeitangebote attraktiv. Je mehr Rechtsextrem-Orientierte an politischen Aktionsformen wie Demonstrationen oder der Besetzung des öffentlichen Raums teilnehmen, desto mehr wird die soziokulturelle zu einer aktiveren politischen Orientierung und Identifikation.

Rechtsextremismus-Prävention sollte also einerseits darauf ausgerichtet sein zu verhindern, dass Rechtsextrem-Orientierte in direkt politische Aktionsformen und Strukturen der rechtsextremen Szene eingebunden werden. Mindestens ebenso wichtig ist es jedoch, auf die Reproduktion rechtsextremer Orientierungen im Alltag und in rechtsextremen Erlebniswelten zu reagieren. Die Erfahrungen der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (www.mbr-berlin.de)zeigen, dass diese Präventionsziele dort wirksam verfolgt werden, wo Jugendarbeit, Politik und Zivilgesellschaft jeweils spezifische, aber sich ergänzende Handlungsstrategien verfolgen.

Der Text ist ein Vorab-Auszug aus einer Publikation der Berliner Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR): "Integrierte Handlungsstrategien zur Rechtsextremismusprävention und -intervention bei Jugendlichen. Hintergrundwissen und Empfehlungen für Jugendarbeit, Kommunalpolitik und Verwaltung." Von Bianca Klose u.a., Berlin Frühsommer 2007.

Fußnoten:

(1) Das Potenzial von Menschen mit geschlossen rechtsextremen Einstellungen liegt in Berlin bei mindestens 6% der wahlberechtigten Bevölkerung. Dies entspricht etwa 140.000 Menschen und liegt weit höher als etwa das Potenzial, das die rechtsextreme NPD bisher in Wähler/innen-Stimmen verwandeln konnte. Die Zahl des harten Kerns der rechtsextremen Aktivist/innen liegt nach Beobachtungen der MBR in den letzten Jahren bei etwa 150 Personen. Darüber hinaus zählt der Berliner Verfassungsschutz rund 2400 Personen zum allgemeinen rechtsextremen Spektrum, zu dem v.a. Neonazis, subkulturell geprägte bzw. gewaltbereite Rechtsextreme und Mitglieder rechtsextremer Parteien gezählt werden.

(2) Die Skinheadszene setzt sich aus verschiedenen Strömungen zusammen, zu denen auch Minderheiten wie explizit linke Skins gehören. Vgl. zur Skinhead-Bewegung etwa Dornbusch, Christian / Raabe, Jan, 20 Jahre RechtsRock. Vom Skinhead-Rock zur Alltagskultur, In: Dieselben (Hrsg.), RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien, Hamburg/Münster 2002.

(3) Ian Stuart Donaldson, Leadsänger der britischen Gruppe Skrewdriver. In: Zentrum Demokratische Kultur (Hrsg.): Bullettin 1/98, Berlin 1998, S. 7.

(4) Che Guevara wird von Rechtsextremen als Protagonist einer "nationalen Befreiungs- und Widerstandbewegung gegen die USA" gesehen und auf diese Weise in ihr antiamerikanisches und völkisch-ethnopluralistisches Weltbild eingemeindet. Das "Pali-Tuch" gilt Rechtsextremen als Symbol der Feindschaft gegen Israel und damit gegen "die Juden". Vgl. Kapitel 2.

(5) Für eine Übersicht von Symbolen mit nationalsozialistischem Bezug, Emblemen und Logos extrem rechter Organisationen, Symbolen mit germanisch/heidnischem Bezug, jugendkulturellen Codes, Dresscodes und Bekleidungsmarken sowie Musik, vgl.: Agentur für soziale Perspektiven – ASP e.V. (Hrsg.): Versteckspiel. Lifestyle, Symbole und Codes von neonazistischen und extrem rechten Gruppen, 6. Auflage, Berlin 2006.

(6) Der Begriff ''Mischszene'' ist eine Wortschöpfung des Verfassungsschutzes und beschrieb ursprünglich die Zusammenarbeit zwischen klassischer Neonaziszene und gewaltbereiten rechten Skinheads. Heutzutage wird der Begriff für die Überschneidung aus Rockerszene und rechtsextremer Jugendkultur verwendet. Die Kontakte laufen dabei meist über einzelne Personen, ohne dass es zu der Bildung eines gemeinsamen Milieus kommt. Auch wenn hier kommerzielle Interessen im Vordergrund stehen, können ideologische Schnittmengen be- bzw. entstehen. Vgl. Antifaschistisches Infoblatt AIB 65, 1/2005, S. 6ff

(7) Vgl. Senatsverwaltung für Inneres, Abteilung Verfassungsschutz: Wählerbewegungen im extremistischen Spektrum in Berlin. Berliner Wahl 2006, Berlin 2006, S. 13.

(8) Vgl. Bernd Wagner: Rechtsextremismus und Jugend. In: Wilfried Schubarth, Richard Stöss: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland – Eine Bilanz. Berlin 2006, S. 155–166

(9) Jürgen Schwab, Recht und Wahrheit, 1999

Fussnoten

Zum Autorenteam des Texts gehören: Anne Benzing, Annika Eckel, Bianca Klose, Esther Lehnert, Katrin Reimer, Björn von Swieykowski und Koray Yilmaz-Gunay von der ''Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus'' in Berlin (www.mbr-berlin.de). Die MBR ist ein Projekt des ''Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V.'' (VDK).


Diese Veröffentlichung ist ein Vorab-Auszug aus der Handreichung: "Integrierte Handlungsstrategien zur Rechtsextremismusprävention und -intervention bei Jugendlichen. Hintergrundwissen und Empfehlungen für Jugendarbeit, Kommunalpolitik und Verwaltung", MBR-Berlin Frühsommer 2007.