Wer sich mit den Ursachen und der Prävention von Rechtsextremismus beschäftigen möchte, muss zunächst definieren, was erklärt und verhindert werden soll. Tatsächlich liegen unterschiedliche Begriffsverständnisse – juristische, politik- und sozialwissenschaftliche – vor, die sich in Inhalt und Breite unterscheiden (Beelmann 2022). Dies führt zu unterschiedlichen Erklärungsversuchen und Präventionskonzepten.
Begriffsklärung
Als pragmatische Annäherung können zwei definitorische Kernmerkmale des Rechtsextremismus genannt werden: Auf politischer Ebene eine Affinität zu diktatorischen Gesellschaftssystemen und eine Ablehnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Verharmlosung von
Risikofaktorenforschung
Zahlreiche empirische Untersuchungen diskutieren individuelle, soziale und gesellschaftliche Faktoren, die einen Zusammenhang mit rechtsextremen Einstellungen und Handlungen zeigen (z.B. Beelmann/Michelsen 2022, Daase/Deitelhoff/Jung 2019, Rothmund/Walther 2024, Vergani et al. 2018, Wolfowicz et al. 2020).
Individuelle Risikofaktoren
Als individuelle Risikofaktoren gelten aktuell das männliche Geschlecht, ein geringes Bildungsniveau und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Autoritarismus (Tendenz zu autoritären und antidemokratischen Einstellungen), soziale Dominanzorientierung (Tendenz, in sozialen Hierarchien zu denken) und Narzissmus. Auch Diskriminierungserfahrungen, fehlende berufliche Perspektiven, Gewaltaffinität sowie eine kriminelle und militärische Vergangenheit trugen zur Rechtsradikalisierung bei. Zudem konnten bestimmte Merkmale der sozialen Informationsverarbeitung wie Schwarz-Weiß-Denken und identitätsrelevante Vorstellungen, etwa die wahrgenommene Bedrohung durch soziale Fremdgruppen und subjektiv erlebte Ungerechtigkeit, als bedeutsam nachgewiesen werden.
Soziale und gesellschaftliche Einflüsse
Bei sozialen und gesellschaftlichen Einflüssen wird oft zwischen sogenannten Push- und Pull-Faktoren unterschieden (Jahnke/Abad-Borger/Beelmann 2022, Vergani et al. 2018). Als Push-Faktoren werden Armut, wahrgenommene politische Missstände und kollektive relative Deprivation (kollektives Benachteiligungsempfinden) genannt. Als Pull-Faktoren ergaben sich die Zugehörigkeit zu sozial abweichenden extremistischen Gruppen, deren Gruppendynamiken und Ideologien, die mit Abwertungsnarrativen (z.B. gegenüber Geflüchteten) und Gewaltaffinität eng verbunden sind. Dagegen sind die Zusammenhänge mit familiären Merkmalen eher gering (z.B. für die Übernahme elterlicher rechtsextremer Einstellungen nur dann, wenn die Beziehung zwischen Kindern und Eltern gut ist) und nur für den negativen Einfluss elterlicher Gewaltneigung gut belegt (Jahnke et al. 2023). Die genannten und weitere Faktoren korrelieren statistisch jeweils zwar signifikant, aber nicht besonders hoch mit rechtsextremen Einstellungen und Handlungen. Insofern ist anzunehmen, dass eine rechte Radikalisierungsgefährdung vor allem dann vorliegt, wenn sich Risikofaktoren häufen und zugleich nur wenige protektive Kompetenzen und Ressourcen vorhanden sind. Außerdem konnten verschiedene Subgruppen identifiziert werden (z.B. Führungspersonen und Mitläufer), für die zum Teil unterschiedliche Risikokonstellationen gelten (Jasko/LaFree 2019).
Theorien des Rechtsextremismus
Neben einer Vielzahl von Einzelbefunden liegen zum Rechtsextremismus auch zahlreiche Erklärungstheorien aus unterschiedlichen Fachdisziplinen vor (z.B. Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie; Borum 2011). Sie sind – wie meist bei sozialwissenschaftlichen Phänomenen – nicht als alleinige Erklärungen zu verstehen, sondern als Modelle mit jeweiliger Schwerpunktsetzung oder als partielle Ergänzungen bestehender Konzepte. Teilweise existieren große inhaltliche Überlappungen, ohne dass die Arbeiten inhaltlich aufeinander Bezug nehmen.
Benachteiligungsgefühle
Die Annahme von gesellschaftlichen und politischen Prozessen als Ursache von rechtsextremen Einstellungen und Handlungen wird insbesondere vom Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer in seinem Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) vertreten (Heitmeyer 2002ff). Heitmeyer nimmt zwei gesellschaftliche Prozesse als wesentliche Einflussfaktoren auf nationalistische Radikalisierungsprozesse an: die Erfahrung von Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen (wie beispielsweise in Ostdeutschland nach der Wende) sowie das Erleben von kollektiven Benachteiligungsgefühlen (z.B. gegenüber Westdeutschen oder Geflüchteten). Beides führt zu Problemen in der Entwicklung oder Aufrechterhaltung einer personalen und sozialen Identität als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Verstärkt werden solche Identitätsprobleme durch bestimmte gesellschaftliche Trends und Faktoren wie Individualisierung, Globalisierung oder die neo-liberale Wirtschaftsordnung, die Gefühle von Vereinzelung und Wertlosigkeit zur Folge haben können. Kann die Kompensation solcher Identitätsprobleme individuell nicht geleistet werden, sind politische Unzufriedenheit, Statusverlustängste und fremdenfeindliche Abwertungsmuster eine mögliche Folge. Eine besondere Brisanz erfahren diese Probleme dann, wenn dem bestehenden politischen System mit seinen Akteur:innen nicht mehr zugetraut wird, die wahrgenommenen oder tatsächlichen Missstände zu überwinden.
Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung
Stärker verhaltenswissenschaftliche Modelle nehmen bestimmte psychologische Prozesse als Kern von Radikalisierungsphänomenen an, ohne jedoch soziale und gesellschaftliche Faktoren auszublenden. Bereits in den 1950er-Jahren sahen Adorno und Mitarbeiter:innen im autoritären Charakter, der im Wesentlichen durch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland vorherrschende autoritäre Erziehung in Familien und Gesellschaft erklärt wurde, eine wesentliche Ursache für das Erstarken des Nationalsozialismus (Adorno 1995). Neuere sozialpsychologische Forschungen stellen dagegen das Bedürfnis nach Bedeutung und Anerkennung als identitätsrelevante Bedingungen in den Mittelpunkt ihrer Erklärungen (z.B. Kruglanski/Bélanger/Gunaratna 2019). Ausgangspunkt ist die empirisch gut bestätigte Annahme, dass Menschen grundsätzlich ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Bedeutung sowie einem positiven Selbstwert haben und Unsicherheit vermeiden wollen. Radikalisierungsprozesse kommen zustande, wenn Menschen aufgrund unterschiedlicher Ursachen (individuell, sozial, gesellschaftlich) einen Bedeutungsverlust erleiden. Totalitäre Ideologien und die Anerkennung durch extremistische Gruppen bieten dann eine Möglichkeit, individuelle Bedeutung zurückzugewinnen.
Radikalisierung
Andere Radikalisierungsmodelle nehmen Prozessstufen an, die mit geprüften psychologischen Theorien unterlegt werden (z.B. Theorie der relativen Deprivation). So hat Fathali Moghaddam ein Prozessmodell mit sechs aufeinander aufbauenden Stadien entwickelt, das diesen Verlauf von beginnender Radikalisierung bis hin zu terroristischen Straftaten beschreibt (Moghaddam 2005). Mit der Kritik an einheitlichen Radikalisierungsverläufen illustrieren dagegen Clark McCauley und Sophia Moskalenko insgesamt zwölf verschiedene Radikalisierungspfade und unterscheiden zwischen individuellen, gruppenbezogenen und Massenradikalisierungsformen (McCauley/Moskalenko 2011). Individuelle Radikalisierung sehen sie zum Beispiel als Folge von personaler Viktimisierung, Gruppenradikalisierung als Folge von bestimmten sozialen Gruppensituationen unter Bedrohung oder Wettbewerb und Massenradikalisierung als Reaktion auf Kriegssituationen an. Unklar bleibt bei diesen Modellen allerdings, wie es zu spezifischen Extremismusformen kommt.
Biografische Aspekte
Die weitgehende Vernachlässigung biografischer Aspekte in den bisherigen Extremismustheorien wird in einem entwicklungspsychologischen Modell der Radikalisierung kritisiert (Beelmann 2022). Konkret entstehen Radikalisierungsprozesse danach im Zuge der individuellen Entwicklung von der frühen Kindheit bis ins mittlere Erwachsenenalter (etwa in der Altersspanne von fünf bis 30 Jahren) in einem dreistufigen Prozess. Als zentrale Ursachen für Radikalisierungsprozesse werden sogenannte Proximalfaktoren (Hauptursachen) angenommen, die sich aus individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren ergeben. Im Einzelnen sind dies dissoziale Einstellungs- und Handlungsmuster als Verletzung sozialer Regeln und Normen (z.B. Gewaltbereitschaft, normverletzendes und aggressives Verhalten), Vorurteilsstrukturen (z.B. massive Abwertung von sozialen Fremdgruppen), Identitätsprobleme und -krisen (z.B. durch Bedeutungsverlust oder Bedrohungswahrnehmung) sowie schließlich die Aneignung und Bestätigung von Überzeugungen und Ideologien zur Rechtfertigung von Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Art, Ausmaß und Qualität dieser Prozesse entscheiden schließlich über Formen und Schweregrade des Extremismus.
Radikalisierungsprävention
Zur Prävention von Rechtsradikalisierung wurden vielfältige Konzepte, Programme und Interventionen erarbeitet (Beelmann 2024). Die Strategien lassen sich danach unterscheiden, auf welcher Ebene sie stattfinden (gesellschaftlich, kommunal, individuell), welche Inhalte sie haben (z.B. politisch, psychosozial) und welche Zielgruppen adressiert werden (unbelastete Gruppen, bereits radikalisierte Personen).
Politische Maßnahmen
Maßnahmen auf gesellschaftlicher Ebene umfassen z.B. eine strengere Gesetzgebung bis hin zu Verboten bestimmter politischer Parteien und Gruppierungen, einen verstärkten Einsatz von Sicherheitsorganen (Verfassungsschutz, Polizei) sowie die Bereitstellung von Ressourcen für politische und zivilgesellschaftliche Gegeninitiativen. Kommunale Maßnahmen betreffen beispielsweise die Förderung von qualitativ hochwertiger Jugendarbeit oder Beratungsangebote für gefährdete oder bereits radikalisierte Personen. Als individuelle Maßnahmen können politische Bildungsmaßnahmen oder Programme zur Förderung der Medienkompetenz genannt werden. In der Fachliteratur werden politische Bildungsmaßnahmen (civic education) und Argumentationstrainings (inklusive des Erlernens sogenannter Gegennarrative oder counter narratives) als besonders einschlägige Präventionskonzepte diskutiert. Politische Bildungsangebote vermitteln Wissen über politische und kulturelle Werte wie Demokratie und Menschenrechte und regen eine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen an, bei denen demokratische Strukturen in totalitäre Systeme umgewandelt wurden (z. B. bei der Machtergreifung des deutschen Nationalsozialismus). Diese Angebote können vor allem dann der Übernahme extremistischer Ideologien entgegenwirken, wenn sie zur Stärkung des Demokratievertrauens und dem Erleben von politischer Partizipation eingesetzt werden und über die Vermittlung von Informationen hinausgehen (z.B. durch aktive Beteiligung an Entscheidungsprozessen etwa in der Schule). Dabei ist die Adoleszenz (Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein) als einflussreiche Phase der politischen Sozialisation besonders geeignet, um entsprechende Maßnahmen durchzuführen.
Sozialentwicklung
Neben politischen Maßnahmen und akademischen Bildungsprogrammen können aus entwicklungspsychologischer Sicht vor allem Präventionsstrategien empfohlen werden, die die Sozialentwicklung junger Menschen adressieren (Beelmann 2024). Dazu gehören etwa soziale Trainingsprogramme und Programme, die junge Menschen altersgerecht in soziale Verantwortung für die Gemeinschaft einführen (Service-Learning-Programme) sowie das Training in Medienkompetenzen (Beelmann et al. 2024). Kritisch wird in der Forschung die schwierige Implementation von Präventionsmaßnahmen bei Risikogruppen, die sich entweder noch nicht für politische Belange interessieren oder sich bereits in Radikalisierungsprozessen befinden, sowie die geringe Anzahl von aussagekräftigen Evaluationsstudien diskutiert. Hier existiert gerade im deutschen Sprachraum ein erheblicher Forschungsbedarf sowie die Notwendigkeit, tragfähige Implementationsstrukturen in Bildungseinrichtungen und außerschulischen Initiativen aufzubauen, um bestehende Konzepte nachhaltig und praxistauglich zu etablieren.